Der Krieger mit zwei Schwertern – und drei Geschlechtschromosomen

Bei den Vorarbeiten zur Verlegung einer Wasser-Pipeline im Oktober 1968 im südfinnischen Suontaka fanden die Mitarbeiter der Baufirma völlig unerwartet eine mittelalterliche Speerspitze wenig später eine stark korrodierte Axt. Als sie weiter gruben, stießen sie auf eine zerbrochene Schwertklinge – Zeit, die Archäologen zu verständigen.

 

Die kamen in Form des finnischen Zentralamtes für Museen und Denkmalpflege (NBA), sahen sich die Sache an und gruben 1969 weiter. Neben dem zerbrochenen Schwert fanden sie ein ungewöhnlich weit erhaltenes Skelett, zudem mehrere Broschen, ein Messer und ein weiteres Schwert. Das Grab konnten sie recht unscharf auf eine Zeit zwischen 1040 und 1174 datieren, eine Zeit, in der sich bei den Nordmannen so einiges ereignete. Doch auch die Kombination der Funde war aufsehenerregend: Die beiden Schwerter stammen aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen. Ein mittelalterliches Langschwert lag bei dem Skelett, das andere, ein Wikinger-Breitschwert, in der Grabverfüllung.

 

Lage von Janakkala in Finnland
Janakkala, hier wurde das Grab des Kriegers gefunden. Abb. aus der Originalarbeit

 

„Es ist für Skandinavien sehr ungewöhnlich, ein Schwert in einem Grab zusammen mit typisch weiblichen Artefakten zu finden“, erklären Ulla Moilanen von der Universität Turku. Kriegerinnen waren in den nordischen Kulturen bekannt, aber sie waren selten. Sie kleideten und verhielten sich wie männliche Krieger. Daher fand man in ihren Gräbern auch Schwerter, aber normalerweise keinen Schmuck oder sonstige feminine Accessoires. Dies führte kurz nach der Ausgrabung zur Annahme, dass es sich um ein Doppelgrab eines Paares handeln könne. Doch hierfür war das Grab zu klein.

 

Der Krieger mit den zwei Schwertern

Die ungewöhnliche Kombination aus „männlichen“ und „weiblichen“ Grabbeigaben geriet jedoch in Vergessenheit. Wie so oft lag das Augenmerk auf den Waffen. Insbesondere die beiden Schwerter machten nicht nur die Archäologen auf das Grab aufmerksam. Eines der Schwerter war ein zeitgenössisch-modernes Schwert, das der Krieger vermutlich für sein Handwerk verwendete. Das andere war ein mindestens 200 Jahre älteres Wikinger-Schwert.

 

Grabbeigaben des Krieger
Grabbeigaben, Abb. aus der Originalarbeit

 

Die Ostung des Grabes lässt auf einen christlichen Bestattungsritus denken, das Vorhandensein des alten Schwertes könnte auf archaischere, heidnische Riten hindeuten.

 

Für das ZDF war diese Zusammenstellung bereits interessant genug, eine 45-minütige Dokumentation über den „Krieger von Janakkala“ zu drehen. Neben der Arbeit der Archäologen wir dabei die Beisetzung des „Kriegers“ in Form von Einspielfilmen nachvollzogen.

 

 

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Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung

Im Jahr 2013 lebten 12,7% der deutschsprachigen Bevölkerung als Menschen mit Behinderung, also mehr als jede zehnte Person. Dennoch wurden diese Menschen lange Zeit von der Geschichtsschreibung vergessen. Menschen mit Behinderung haben aber sehr wohl eine lange Geschichte, die sich auf ihre Gegenwart und ebenso auf ihre Zukunft auswirkt. In seinem Buch zeichnet Robert R. Keintzel die Geschichte der Menschen mit Behinderung in Mitteleuropa vom Jahr 500 bis zum Jahr 1620 nach.

Der Autor geht folgenden Fragen auf den Grund: Was ist eigentlich Behinderung? Gab es Behinderung zwischen 500 – 1620, und wenn ja, wie sah diese Behinderung aus? Welche bekannten Herrscher waren behindert? Wie nahmen die Wissenschaft, das Rechtssystem, das Christentum und die Medizin das Phänomen der Behinderung wahr, und wie gingen sie mit Menschen mit sogenannter Behinderung um?
Wie sah Medizin in dieser Zeit aus, und wie entwickelte sie sich? Wer wurde medizinisch behandelt, und wie gestaltete sich eine medizinische Behandlung früher im Vergleich zu heute? Wie sah die Gesellschaft von 500 – 1620 aus? Wurden alle Menschen in der historischen Gesellschaft gleichbehandelt und medizinisch versorgt?

 

Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung ist 2020 im Eigenverlag erschienen und hat als Taschenbuch 328 Seiten. Es ist auch für den Kindle erhältlich.

 

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Der Krieger hatte 50 Jahre Ruhe – und dann …

Irgendwann in den späten 2010er-Jahren drehte sich die Interpretation des Grabes. Moilanen et al. sprechen in der neuesten Veröffentlichung von einer Frau mit zwei Schwertern bzw. der Kriegerin. Insbesondere die moderne Analyse der Kleidungsreste und des Schmuckes lässt die Archäologen vermuten, dass hier eine Frau beerdigt wurde, kein Mann.

 

Fundumstände im Grab des Krieger
Fundsituation im Grab des „Kriegers von Janakkala“. Abb. aus der Originalarbeit

 

Leider ist von den im Grab gefundenen Knochen kaum etwas zu einer wirklichen Analyse erhalten geblieben. Bereits die Beschreibung der Ausgrabung spricht von „schwierigen Verhältnissen“, im nassen, sauren Boden Südfinnlands waren die Knochen zu einer weichen, fast formbaren Masse umgewandelt. Die Archäologen fanden die Schienbeine, Oberschenkelknochen, das Becken, die Ellenbogengelenke, Rippen und den Schädel. Aber mehr als Fragmente der beiden Oberschenkelknochen konnten die Archäologen damals nicht bergen. Folglich ist auch jeder Versuch der Vermessung des Skelettes und der Geschlechtsdiagnose anhand von morphologischen Merkmalen unmöglich.

 

Trotz des direkt mit dem Körper assoziierten Langschwertes (das sonst fast nur in Gräbern von Männern vorkommt) wurde der Leichnam in typisch weiblicher Kleidung beerdigt. Obwohl ein Sarg fehlte, kann nicht von einem „schnellen Verscharren“ die Rede sein, der Grabschacht wurde sorgfältig ausgehoben, der Boden geglättet. Die Lage der Grabbeigaben deutet auf eine rituelle Beerdigung hin – hier wurde ein Mensch zu Grabe getragen, der in seinem Umfeld geachtet war.

 

Historisches Haus in Finnland
Ein historisches Haus im Freilichtmuseum von Aland, möglicherweise lebte der Krieger von Janakkala ähnlich.

 

Dennoch: Die seltsame Kombination aus Accessoires für Männer und solcher für Frauen ließ den Archäologen keine Ruhe. Da heute eine Analyse historischer DNA (aDNA) beinahe Routine ist, begannen Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Anthropologie in Jena genetisches Material aus einem der beiden Oberschenkelknochenfragmente zu extrahieren.

 

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Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne

Der Umgang mit langfristiger Krankheit, Gebrechen sowie verschiedenen Formen und Ausprägungen körperlicher und geistig-seelischer Abweichung gehört seit jeher zum Alltag menschlicher Gemeinschaften. Disability History untersucht den Umgang mit dem menschlichen Körper in seiner Vielgestaltigkeit, Veränderbarkeit und permanenten Gefährdung im Wandel der Zeit. In Deutschland wird Disability bisher jedoch vorwiegend als ein spezifisch modernes Phänomen untersucht, mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaften wurden bisher kaum berücksichtigt. Um die Grundlagen für eine epochenübergreifende Perspektive in diesem Feld zu schaffen, widmet sich die Arbeitsgruppe ‚Homo debilis‘ an der Universität Bremen dem Vorhaben, eine systematische Disability History der Vormoderne zu erarbeiten. Disability wird dabei als eine neue, grundlegende Analysekategorie historischer Forschungen auch für die Vormoderne nutzbar gemacht. Der Sammelband ‚Phänomene der ›Behinderung‹ im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne‘ führt Beiträge sowohl von bekannten Spezialist_innen auf dem Gebiet der internationalen Disability History als auch von Nachwuchswissenschaftler_innen zusammen.

 

Phänomene der ‚Behinderung‘ im Alltag: Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne ist 2014 im Didymos-Verlag erschienen, hat 368 Seiten und ist mit etwas Glück noch neu zu bekommen. Für gute gebrauchte Exemplare werden Fantasiepreise aufgerufen.

 

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Die Sequenzierung dieser DNA-Probe war nur mäßig erfolgreich. Wie bereits aufgrund des schlechten Fundzustandes zu erwarten, ergab sie nur wenig DNA und diese war von schlechter Qualität.
Für die Experten: Nur 106.781 Sequence-Reads konnten im menschlichen Genom lokalisiert werden. Nur 8329 hatten eine Mapping-Quality von über 30, davon zeigten 2534 deutliche Post-Mortem-Schäden. Die Aussage dieser Sequenzen ist gering. Daher beschränkte sich das MPI auf die noch ausstehende Geschlechtsdiagnose.

 

 

Die genetische Geschlechtsdiagnose beim Menschen

Der moderne Mensch hat in seiner Zelle normalerweise 46 Chromosomen. 44 davon sind Autosomen, sie haben nichts mit der Geschlechtsausprägung zu tun. Die restlichen zwei stellen die Gonosomen oder Geschlechtschromosomen dar. Liegen zwei X-Chromosomen vor, ist das Individuum eine Frau. Liegt ein X und ein Y-Chromosom vor, ist es in der Regel ein Mann. Genotypen werden dann als 46,XX für eine Frau und 46,XY für einen Mann geschrieben.

 

Während bei den meisten Autosomen eine Abweichung von der Zahl 2 nicht mit dem Leben vereinbar ist, kommt es bei Geschlechtschromosomen relativ häufig vor:

 

  • 45,Y0: nicht lebensfähig
  • 45,X0: Frau mit Turner-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:2500; Patientinnen bleiben klein, sind oft gedrungen und haben mehrere, eher leichte gesundheitliche Probleme. Keine Einschränkung der Intelligenz oder der Lebenserwartung.
  • 46,XX: normaler Karyotyp für eine Frau.
  • 46,XY: normaler Karyotyp für einen Mann. In seltenen Fällen gibt es Frauen mit diesem Karyotyp
  • 47,XXY: Mann mit Klinefelter-Syndrom, ein zusätzliches X-Chromosom (siehe unten)
  • 47,XYY: Mann mit Diplo-Y-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:600 bis 1:2000, wenig physische Symptome, schnelles Wachstum, erhöhte Körpergröße, praktisch vollkommen beschwerdefrei, keine Einschränkung der Lebenserwartung
  • 47,XXX: Frau mit Triplo-X-Syndrom, Häufigkeit etwa 1:800 bis 1:1000, kaum klinische Symptome, eher großwüchsig, Pubertät und Klimakterium verfrüht, Einschränkungen in der Lautsprache und der Feinmotorik häufig.

(Bitte beachtet die Angaben zur Karyotypforschung unten)

 

 

Sumpfland
In den moorigen Böden Südfinnlands erhalten sich Knochen sehr schlecht

Die bestehenden Methoden zur genetischen Geschlechtsdiagnose sind bei so schwachen Daten natürlich auch nicht die stärksten. Dennoch stellte sich deutlich heraus, dass die X- und Y-Chromosomen-Reads weder für XX-Individuen (Frauen) noch für XY-Individuen (Männer) passen. Daher entwickelten die Mitarbeiter des MPI eine neue Methode, um Geschlechtschromosomen zu zählen.

Dabei bestätigte sich ein früher Verdacht: Der Karyotyp des Kriegers von Janakkala war 47,XXY. Der Mann hatte das Klinefelter-Syndrom.

 

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Genetik für Dummies

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Genetik für Dummies ist 2018 bereits in der 3. Auflage bei Wiley-VCH erschienen, hat 405 Seiten und ist als Taschenbuch sowie für den Kindle verfügbar.

 

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Das Klinefelter-Syndrom

Menschen mit dem Karyotyp 47,XXY tragen das Klinefelter-Syndrom. Es ist häufig unauffällig, und wird bei einem bis zwei Kindern pro 1000 männlichen Neugeborenen diagnostiziert. Die Dunkelziffer liegt vermutlich sehr hoch, da Klinefelter-Patienten in der Regel unauffällig sind.

Einige klinische Genetiker vermuten, dass nur jeder 4. oder 5. Klinefelter-Junge bzw. -Mann als solcher erkannt wird.

 

Klinefelter Karyogramm, wie das vom Krieger
Der komplette Chromosomensatz eines Klinefelter-Mannes: 47 XXY

 

Träger des Syndroms sind immer männlich, d.h. besitzen Penis und einen Hodensack mit Hoden. Weibliche Geschlechtsorgane werden nicht ausgebildet.
Träger des Klinefelter-Syndroms sind daher keine Zwitter, auch wenn einige „Wissenschafts-Blogs“ es so schreiben.

 

Im Kindesalter

Bei der Geburt sind die Kinder normal entwickelt und unterscheiden sich nicht von 46,XY-Jungen. Gelegentlich kommt es zu Hodenhochstand, was aber auch andere Gründe haben kann. Ein kleiner Teil der Jungen zeigt in der Schule leichte Lernschwächen, häufig sind sie ruhiger und passiver als andere Kinder in dem Alter. Ihre Trotzphase gilt als weniger stark. Gelegentlich werden Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche, vor allem in Verbindung mit schulischen Problemen beschrieben, hier sind Ursache und Wirkung noch nicht abschließend geklärt. Gelegentlich verzögert sich auch die motorische Entwicklung, einige Jungen bleiben ihr Leben lang etwas ungeschickt.

 

Die Jungen wachsen schnell und werden etwas größer als der Durchschnitt. Bis auf einige Sonderfälle ist die Intelligenz nicht beeinträchtigt, lediglich eine Teilleistungsschwäche im sprachlichen Bereich kommt öfter vor.

 

In der Jugend

Da die Hoden bei Klinefelter-Jungen oft nur wenig Testosteron produzieren, kommt es in der Pubertät zu ersten sichtbaren Symptomen. Heute können nahezu alle Symptome nach einer Diagnose durch Testosteron-Gaben erfolgreich behandelt werden.

 

Dieses Privileg hatte der Krieger von Janakkala natürlich nicht. Seine Pubertät trat möglicherweise verspätet ein und verlief sehr schwach. Die oft diagnostizierte Introvertiertheit traf auf andere Unsicherheiten, eine geringe Libido und die verminderte Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit. Dazu könnte der Stimmbruch ausgeblieben sein. Weitere mögliche Symptome waren der fehlende Bartwuchs und eine leichte Verschiebung der Körperproportionen: einige Klinefelter-Männer haben vergleichsweise lange Beine und einen kurzen Oberkörper. Gelegentlich lagert sich Fettgewebe im Hüftbereich ab und es kommt zu Brustbildung.
Keines dieser Symptome ist für Klinefelter-Männer zwingend.

 

Im Erwachsenenalter

Auch im Erwachsenenalter würde sich ein Testosteronmangel auswirken. Falls der Janakkala-Krieger Symptome gezeigt hat, könnte er unter einer geringeren Ausbildung der Muskulatur gelitten haben. Weiter könnte sein Bartwuchs fehlen, ebenso die männertypische Körperbehaarung. Dafür hat er sich möglicherweise nie mit dem Problem der Glatzenbildung herumschlagen müssen.

 

Er könnte auch unter fehlender Libido und Potenzstörungen gelitten haben. Vermutlich unbemerkt wäre eine verringerte oder fehlende Spermienproduktion geblieben. Da er vermutlich regelmäßig fetten Fisch zu sich nahm, wird sein Osteoporose-Risiko im Vergleich zu seinen heutigen Leidensgenossen eher gering gewesen sein.

 

Ob der Janakkala-Krieger sehr alt geworden ist, ist fraglich. Heute haben symptomatische Klinefelter-Männer ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, Epilepsie, Thrombosen, Brustkrebs und Depressionen.

 

Flusslandschaft
Flusslandschaft in Südfinnland

 

Die Persönlichkeit des Janakkala-Kriegers

Ich gehe davon aus, dass der Janakkala-Krieger symptomatisch war. So lässt sich erklären, warum er mit Accessoires für Männer und Frauen beerdigt wurde (möglicherweise gibt es auch noch andere Erklärungen hierfür).

Er wird ein ruhiges Kind gewesen sein, das kaum Spaß an physischen Spielen mit Gleichaltrigen gehabt hat. Möglicherweise haben Gleichaltrige ihn auch abgelehnt, weil er ungeschickt war und deswegen ab und zu einen Wutausbruch hatte. Vermutlich wird er daher mit etwas jüngeren Kindern zusammen gewesen sein.

 

Wenn er in der Pubertät feststellte, dass er sich nicht so entwickelte, wie junge Männer in seinem Alter, wird ihn das verunsichert haben. Das wird seine Häuslichkeit und Schüchternheit vermutlich verstärkt haben.

Eines erscheint mir ziemlich sicher: Ein Krieger wird der „Janakkala-Krieger“ niemals freiwillig geworden sein.

 

Den Grabfunden nach entwickelte er sich eher anders. Die typische Frauenkleidung macht deutlich, dass er sich nach einer eher unauffälligen Jugend aktiv die weibliche Rolle ausgesucht hat.

 

Finnisches Blockhaus
Als Mitglied einer Adeligen Familie wird der Krieger von Janakkala wohl nicht in so einer winzigen Hütte gelebt haben

 

Wie könnte der „Janakkala-Krieger“ gelebt haben?

Die Kleidung und die Grabbeigaben in Form von Speer, Axt, Messer und Langschwert, ebenso wie die aufwändig gestalteten Broschen deuten auf eine reiche, möglicherweise adelige Herkunft hin. Die adelige Herkunft wird durch die spätere Grabbeigabe, das damals bereits antike Wikinger-Breitschwert noch unterstützt. Möglicherweise handelte es sich hierbei um ein Familien-Erbstück.

 

Wenn der Janakkala-Krieger als Adeliger geboren wurde, war er kraft Abstammung Teil der Dorfgesellschaft, mit Sicherheit bald ein führender Teil. Vermutlich entsprach er bereits früh nicht den Wünschen seiner Eltern an einen adeligen Jungen: Die Schüchternheit und fehlende Körperkraft wird sich nicht gerade förderlich auf das Schwerttraining ausgewirkt haben, das adelige Kinder bekamen, sobald sie einen Stock halten konnten. Probleme mit der sprachlichen Entwicklung dürften die Eltern ebenfalls nicht erfreut haben – ein Herrscher muss in der Lage sein, seine Untertanen im Detail zu verstehen und sich präzise ausdrücken können.

Möglicherweise orientierte sich der Junge bereits im Grundschulalter mehr an Frauen, da ihre Tätigkeiten seinen Interessen und Fähigkeiten mehr entsprachen. Dies könnte nach der nur schwach ausgeprägten Pubertät zu dem Entschluss geführt haben, als Frau oder nicht-binär weiter zu leben. Ich gehe davon aus, dass der Vater des „Kriegers“ relativ früh verstarb, so dass er dieser Entwicklung nicht im Weg stand.

 

Wikingerdorf, lebte der Krieger so?
Nachbau eines Wikingerdorfes in Vikingagard in Schweden

 

Konnte die Gesellschaft eine solche nicht-binäre Rolle akzeptieren?

Sicher, eine solche Entscheidung dürfte im Dorf zu einiger Irritation geführt haben. Ein Junge, der sich entscheidet, als Frau zu leben, aber dann doch ein Schwert trägt? Ungewöhnlich, aber vermutlich blieb den Untertanen nichts anderes übrig, als ihren „Chef“ oder zumindest Mitglied der herrschenden Familie so zu akzeptieren.

 

Ich kann mir sogar vorstellen, dass der Janakkala-Krieger ein guter Dorfchef gewesen ist. Introvertierte Individuen neigen nicht zu spontanen und ungerechten Aktionen, weder in Form eines Gerichtes noch dazu, „mal eben“ ein anderes Dorf zu überfallen. Möglicherweise stärkte so ein Dorfoberhaupt die Ausbildung eines Rates, der sich mit den Dorfangelegenheiten befasst. Auch so etwas dürfte zur Stabilisierung und damit zum Wohlstand einer Gemeinschaft beigetragen haben.

 

Wikingerschiffe
Wikingerschiffe bei einem Reenactment in Schweden

 

Ich hatte überlegt, dass er hinter einem weniger introvertierten Bruder zurücktreten musste und als weniger aktives Mitglied der herrschenden Familie ein eher ruhiges Leben führte. Diesen Gedanken verwarf ich aber wieder, denn …

Der Tod des Kriegers

Das Skelett des „Janakkala-Kriegers“ zeigte keinerlei Anzeichen für einen gewaltsamen Tod. Er/sie wurde mit sehr reichhaltigen Grabbeigaben beerdigt. Beides deutet für mich darauf hin, dass dieser Mensch bis zu seinem Tod geachtet war.

 

Der Fund es damals bereits historischen Wikinger-Breitschwerts ist für mich hier bedeutsam. War es ein Familien-Erbstück, dann muss man sich die Frage stellen, wieso es nach einigen Generationen „plötzlich“ nicht mehr weiter gegeben wurde, sondern im Grab des „Kriegers“ landete. Hierfür habe ich – ich bin kein Archäologe, vielleicht übersehe ich etwas – nur eine Erklärung. Diese Erklärung hängt indirekt auch mit dem Klinefelter-Syndrom zusammen: Der Krieger konnte keine Kinder zeugen. Die Dynastie war mit mit diesem Menschen beendet, es gab niemanden mehr, an den er das Schwert vererben konnte.

Wikingerschiff, möge der Krieger Frieden finden
Möge der Krieger von Janakkala seinen / ihren Frieden finden.

 


Anmerkungen zur Karyotypforschung

Die Karyotypforschung ist nicht unbedingt ein Ruhmesblatt der Humanbiologie. Patienten mit Trisomien (ein Autosom kommt dreimal vor) leiden an einer Vielzahl von Einschränkungen. Daher begannen frühe Untersuchungen damit, dass Genetiker in Heimen für Menschen mit Behinderungen nach speziellen Symptomgruppen, den Syndromen suchten. So konnten sie die Ursache für das Down-Syndrom (Trisomie 21), das Pätau-Syndrom (Trisomie 13) und das Edwards-Syndrom (Trisomie 18) entdecken.

 

Nachdem diese Einrichtungen „abgegrast“ waren, begann man im Gefängnis zu suchen. Dabei untersuchte man 1968 auch auf die nahezu symptomlose Trisomie XYY. Da sie in Gefängnissen sehr viel häufiger diagnostiziert wurde, als draußen, schloss man auf einen „kriminellen Karyotyp“. Die Annahme, ein überzähliges Y-Chromosom (das Männlichkeit determiniert) würde kriminelles Verhalten auslösen, passte hervorragend in eine Zeit eines aufstrebenden und militanter werdenden Feminismus.

 

Doch bald stellten sich methodische Fehler heraus: Bei den Gefängnisinsassen ließ sich nahezu  jeder testen, sei es weil er keine Wahl hatte, oder weil eine solche Untersuchung die Langeweile vertrieb oder Vergünstigungen brachte. „Draußen“ wurden nur Menschen getestet, die unerklärliche gesundheitliche Probleme hatten – und Träger von XYY sind in nahezu allen Fällen gesund. Spätere Untersuchungen zeigten, dass der Anteil an 47,XYY-Männern im Gefängnis nur minimal höher war, als in der Gesamtbevölkerung. Diese Erhöhung ließ sich auch anders erklären. Als sich dann auch noch herausstellte, dass nur wenige der inhaftierten XYY-Träger wegen Gewaltverbrechen saßen, war die Blamage komplett.
Dieses Vorurteil hat sich gehalten und wurde 24 Jahre nach der Studie noch im Film Alien 3 missbraucht.

 

Generell scheint es so zu sein, dass Chromosomenabweichungen mit geringer oder ohne Symptomatik häufig unentdeckt in der Bevölkerung vorkommen. Kein Wunder, wer lässt schon ohne Grund seinen Karyotyp untersuchen?

 


Literatur

Kertomus myöhäisrautakautisen ruumishaudan tutkimisesta Suontaan kartanon Vesitorninmäessä Tyrvännön pitäjässä 25.10.1968. Unpublished excavation report. Helsinki: Finnish Heritage Agency.

 

Moilanen, U., Kirkinen, T., Saari, N., Rohrlach, A., Krause, J., Onkamo, P., & Salmela, E. (2021). A Woman with a Sword? – Weapon Grave at Suontaka Vesitorninmäki, Finland. European Journal of Archaeology, 1-19. doi:10.1017/eaa.2021.30

 

Myterien des Mittelalters: Der Krieger von Janakkala auf https://www.phoenix.de/sendungen/dokumentationen/mysterien-des-mittelalters-a-1284310.html

 

Wikipedia zum Karyotyp, Turner-Syndrom, Klinefelter-Syndrom und XYY-Syndrom.




Der gehängte Affe von Hartlepool

Hartlepool ist eine Hafenstadt im Nordosten Englands mit langer Tradition. Heute hat sie etwa 90.000 Einwohner, und leidet, wie viele britische Hafenstädte an der permanenten Wirtschaftskrise des Vereinigten Königreiches. Es gibt einen Hafen, der früher mal als Umschlagplatz für Kohle und Holz diente. Die Stadt ist ein untergeordneter Eisenbahnknoten, es gibt ein Kernkraftwerk, ein Fußballstadion und eine dazu gehörige Fußballmannschaft: Hartlepool United. Rund herum eine gewöhnliche, englische Mittelstadt – wäre da nicht der gehängte Affe.

 

Hartlepool
Hartlepool, Gebäudezeile am Hafen, dahinter das Museumsschiff HMS Trincolame. Foto by Alex Liivet

 

Wie kommt ein Affe nach Hartlepool?

Man schreibt das Jahr 1805 oder auch 1808, so genau kann das niemand mehr sagen. Napoleon ist Kaiser von Frankreich und hat halb Europa mit blutigen Kriegen überzogen. Noch ist seine Marine stark genug, in den Gewässern rund um Großbritannien die Trikolore zu zeigen. Doch die britische Bevölkerung ist wachsam. Wo immer ein Schiff ungewöhnlicher Bauart am Horizont auftaucht, taucht bald ein Schiff der Royal Navy auf. Um den großen Linienschiffen der Gegner zu entgehen, requirieren beide Seiten kleinere Handelsschiffe und Fischerboote, mit denen junge, mutige Skipper wesentlich dichter am Ufer operieren können, als die schwer bewaffneten, aber auch schwerfälligen Flaggschiffe.

 

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Segeln gen Norden

James G. Stavridis gehört zu den höchst dekorierten Admirälen unserer Zeit. Mit Segeln gen Nord begibt er sich mit zehn der glorreichsten Marinekapitäne der Geschichte auf eine einmalige Reise. Von Themistokles über Drake und Nelson bis zu Nimitz und Hopper spannt er einen Bogen über 2500 Jahre Seefahrtsgeschichte – vom alten Griechenland bis ins 21. Jahrhundert.

Die abenteuerlichen Karrieren und außergewöhnlichen Biografien der zehn porträtierten Admiräle dienen gleichsam als Blaupause für den Weg zu wahrem Charakter. Denn in unseren postmodernen Zeiten werden wir Zeuge eines schleichenden Charakterverlustes, getrieben von einer globalen Populärkultur, die sich zunehmend von klassischen Tugenden entfernt. Wir streben auf eine Welt zu, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit bewegt, in der wir nicht einen Moment innehalten und überlegen, was richtig und gerecht ist.
Mit diesem Buch liegt eine einmalige Sammlung der größten Seefahrer und großartigsten Geschichten der Weltmeere vor, die Ihnen auf Ihrem Weg zur Charakterbildung als wertvoller Kompass dienen soll.

 

Segeln gen Nord: Zehn Heldenreisen auf dem Weg zu wahrem Charakter hat als gebundene Ausgabe 304 Seiten in deutscher Sprache. Es ist 2020 erschienen und auch für den Kindle erhältlich.

 

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Kleine Korvetten zur Küstenbeobachtung

Oft sind diese Schiffe nur mit einem Dutzend Seeleuten und einer Handvoll Soldaten bemannt, aber sie sind lohnende Beute. Beide Seiten statten sie mit großzügigen Geldmitteln aus. Ein Ziel ihres Einsatzes ist Informationsgewinn. Sie konnten durch geringen Tiefgang sehr dicht an die Küsten heranfahren, um Häfen oder Land-Transportwege zu beobachten. Und sie kamen hinter dem Horizont schnell in Kontakt mit kleinen Handelsschiffen oder Fischerbooten. Kaum jemand kann mehr erzählen als ein Fischer, dem man den Fang für ein Mehrfaches des Marktpreises abkauft und sie in ein Gespräch über Alltägliches verwickelt. So waren kleine Korvetten sehr effektive Informationssammler und wurden von beiden Seiten intensiv genutzt.

 

Einen entscheidenden Nachteil gegenüber größeren Einheiten hatten sie allerdings: Bei rauem Wetter waren sie weniger seetüchtig. Insbesondere Stürme konnten ihnen schnell gefährlich werden.

 

Küste bei Hartlepool
Die Küste bei Hartlepool. Foto: Graham Scarborough CC BY-SA 2.0

 

Ein Sturm, eine Korvette, ein Affe: Zeug für eine Legende

So kam es, dass irgendwann in diesem Zeitraum, vermutlich während eines Herbststurmes, eine französische Korvette in den schwierigen Gewässern vor Hartlepool strandete. Die Besatzung überlebte die Strandung oder spätestens den Kontakt mit den Strandgut sammelnden Bewohnern nicht. Einzig ein Affe, so die Legende, wurde gerettet.

 

Der Affe trug die Uniform der französischen Marine, bzw. an sie angepasste Kleidung. Die Legende unterstellt der aufgebrachten Bevölkerung, den Affen für einen französischen Spion gehalten zu haben.

Heute ist unvorstellbar, dass ein Engländer nicht weiß, wie ein Franzose aussieht und der Affe tatsächlich mit einem solchen verwechselt wurde. Dennoch wurde er am Ende als französischer Spion gehängt.

 

Hartlepool Affe
Die Bevölkerung von Hartlepool versucht, den Affen zu hängen (historische Skizze)

 

Was hat der Affe mit der Bestie des Gevaudan zu tun?

Autor Karl-Hans Taake hat in seinem Artikel über Raubtierangriffe im historischen Frankreich nebenbei einen florierenden Handel mit exotischen Tieren zu Zeiten Ludwig XIV. und seiner Nachfolger beschrieben. Dieser Handel beschränkte sich bei Leibe nicht nur auf große (und teure) Raubtiere. Auch kleinere Exoten wie Papageien und Affen waren gern gesehene Handelsobjekte.

Diese Tiere kamen meist auf Schiffen ins Land, die im „Atlantischen Dreieckshandel“ verwendet wurden: Stoffe, Feuerwaffen, Metalle, billige Spirituosen und einfache Schmuckwaren wie Glasperlen wurden von portugiesischen, französischen, niederländischen und englischen Handelskompanien nach Westafrika verschifft. Auf lokalen Märkten wurden diese Güter hauptsächlich gegen Sklaven eingetauscht. Diese verfrachteten die Händler nach Brasilien, in die Karibik oder die (späteren) Südstaaten der USA. Dort wurden sie verkauft oder gegen Baumwolle, Rum, Melasse oder Rohrzucker eingetauscht, die wiederum nach Europa gebracht wurden. Der Gewinn dieses menschenverachtenden Zyklus war enorm und das Leid, das er brachte, ebenfalls.[1]

Historische Aufnahme von Hartlepool
Historische Aufnahme von Hartlepool

Weltweite Handelsverbindungen

Ebenso gab es Handelsverbindungen über den indischen Ozean bis Madagaskar, Indien, Hinterindien und Neuguinea. Daher ist die Herkunft des Affen von Hartlepool nicht mehr nachvollziehbar. Belegt sind Importe zahlreicher Affenarten nach Frankreich: Grüne Meerkatzen, Kapuzineraffen, Mandrille und Schimpansen. Wahrscheinlich sind auch andere Arten, vor allem aus Westafrika, der Karibik, Indien und Indonesien. Ein bekannter Import 1670 brachte 260 Primaten aus Madagaskar nach Paris.

Der Handelsvertreter Barbot erhielt gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Paris für einen überlebenden Affen 480 Livres, etwa den Kaufpreis für fünf Pferde. In Folge der französischen Revolution und später der Herrschaft Napoleons sank zunächst der Bedarf an exotischen Heimtieren, da der – stark dezimierte und profanierte – Adel keinen Repräsentationsbedarf mehr hatte. So wurde auch dieses Privileg bürgerlich. Möglicherweise erstand einer der Seeleute des ungenannten Schiffes einen Affen und nahm ihn als Maskottchen mit.

Gedanken zum Erhängen

Die Tatsache, dass die Legende sagt, der Affe sei als Spion gehängt worden, lässt aufhorchen. Erhängen war eine häufig praktizierte Hinrichtungsmethode, die seit Jahrhunderten mehr oder weniger gleich ablief: An einem Galgen, über einem Ast, Türsturz etc. wurde ein Seil befestigt. In das freie Ende knüpfte man einen „Henkersknoten“, der sich bei Belastung von selbst zuzieht.

Üblicherweise wurde der Delinquent erhöht aufgestellt, dann legte man ihm das Seil um den Hals und ließ ihn fallen. Der plötzliche Ruck, wenn sich das Seil strafft, bewirkte bei ausreichender Fallhöhe einen Genickbruch, das Stammhirn riss, der Delinquent war sofort tot. Bricht das Genick nicht, weil die Fallhöhe zu gering war, drückt der Knoten die Blutzufuhr zum Gehirn ab, der Tod tritt langsamer, aber ebenso zuverlässig ein. Ist die Fallhöhe zu hoch, kommt es … sagen wir mal: zu einer nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Verletzung, viel Schweinerei und der Henker braucht einen Korb.

War es überhaupt ein Affe?

Ein kleiner Affe, z.B. ein Rhesus- oder Kapuzineraffe kann auf diese Weise nicht umgebracht werden, sein Körper ist zu leicht, das Genick zu stark. Möglicherweise reicht sein Gewicht nicht einmal, um die Blutzufuhr zum Gehirn abzudrücken. Eines ist aber sicher: Der Affe wird sehr deutlich machen, dass er damit nicht einverstanden ist.

 

Größere Affen, Paviane, Mandrills, Schimpansen kann man erhängen. Aber sie kommen aus anderen Gründen nicht in Frage: zum einen dürften sie für einen Seemann auf einer Korvette, selbst den Kapitän, zu teuer gewesen sein. Zum anderen haben solche Affen das Potenzial, auf einer Korvette bedeutende Schäden anzurichten. Kein halbwegs erfahrener Kommandant hätte das auf seinem Schiff geduldet. Ein dritter Punkt ist in der Wehrhaftigkeit dieser Tiere zu suchen. Ein 8 kg schwerer Pavian nimmt es in Sachen Kampfkraft mit einem Menschen auf, gegen größere Affen hat ein einzelner, unbewaffneter Mensch keine Chance. Auch so eine Gefahr würde kein Kommandant auf seinem Schiff dulden.

 

In der Legende ist stets die Rede von einem „Monkey“, also einem Tieraffen mit Schwanz. Ein Gibbon, Schimpanse, Orang Utan oder Gorilla hingegen würde als „Ape“, Menschenaffe bezeichnet. In wie weit diese Trennung Anfang des 19. Jahrhunderts in der Arbeiterklasse eines Fischerei- und Kohlehafens bekannt war, kann nur vermutet werden. Danke an Ulrich für den Hinweis.

 

Pulveraffen?

Pulveraffe
Die Arbeit eines „Pulveraffen“ (links) auf dem Kanonendeck eines Linienschiffes

Stattdessen gab es eine andere, vertraute Spezies, deren Vertreter gelegentlich als „Affe“ bezeichnet wurden: Den Homo sapiens. In der Royal Navy war es üblich, Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren anzuwerben. Ihr Job war es, im Gefecht Schwarzpulver aus der (tief im Bauch des Schiffes gelegenen) Pulverkammer zu den Geschützen zu bringen. Hierbei kam ihnen die geringe Größe zugute. Der Job war gefährlich, da sie im Gefecht mit dem hochexplosiven Schwarzpulver zu tun hatten. Da sie kaum eine Ausbildung hatten, waren sie leicht zu ersetzen. Diese Jungs wurden als Pulveraffen oder Powder Monkeys bezeichnet.
Aufgrund ähnlicher Struktur der Schiffsbesatzungen ist davon auszugehen, dass es auch auf französischen Kriegsschiffen dieser Zeit „Pulveraffen“ gab.

 

Ein Affe als einziger Überlebender?

Es ist gut möglich, dass die französische Korvette einen oder zwei solcher Jungen an Bord hatte. Aber wie kommt es, dass ausgerechnet ein Kind der einzige Überlebende eines havarierten Schiffes ist? Hier kommen wieder die Strandgutsammler und der Kriegszustand Englands zu diesem Zeitpunkt zum Tragen.
Strandgut galt auch im Vereinigten Königreich als herrenlos und konnte sich von jedem angeeignet werden, der es fand – falls es keinen Besitzer gab. Als möglicher Besitzer galt dann aber Frankreich, in Vertretung des ranghöchsten Überlebenden im Wrack oder an Land. Es kam damals noch recht häufig vor, dass Strandgutsammler dafür Sorge trugen, dass es keinen „ranghöchsten Überlebenden“ gab, der Ansprüche stellen konnte. Vor dem Erschlagen oder Ersäufen eines Kindes hat man dann aber wohl doch zurückgeschreckt und den Jungen an Land geholt. Dort hat sich dann ein Mob gebildet, der den unglücklichen Pulveraffen dann doch gelyncht hat.

 

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PRIMORDIA – Auf der Suche nach der vergessenen Welt

Als Ben Cartwright in sein elterliches Heim zurückkehrt, um den Tod seines Vaters zu betrauern, stößt er zufällig auf eine Reihe von kryptischen Briefen zwischen Arthur Conan Doyle und seinem Ur-Urgroßvater, welcher 1908 während einer Dschungelexpedition im Amazonas spurlos verschwand. Dieser Briefwechsel lässt den unglaublichen Schluss zu, dass die Expeditionen seines Ahnen dem berühmten Autor als Basis für seine fantastische Geschichte über eine vergessene Welt voller urzeitlicher Lebewesen diente. Ben stellt auf eigene Faust Nachforschungen an

 

PRIMORDIA – Auf der Suche nach der vergessenen Welt: Roman ist ein 2018 im Luzifer-Verlag erschienener Roman. Er hat 400 Seiten und ist als Paperback, Kindle und Hörbuch erschienen.

 

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Warum wurde der Affe gehängt?

Ein überlebender Affe, egal ob es sich um ein Tier oder einen Pulveraffen handelte, hätte durchaus eine Gefahr für einzelne Menschen in Hartlepool darstellen können. Wie oben beschrieben, kam es auf offener See mehr oder weniger regelmäßig zu Kontakten zwischen den Korvetten und britischen Zivilschiffen. Das war sehr lukrativ für die zivilen Kapitäne, aber es war mindestens Kollaboration mit dem Feind, wenn nicht sogar direkte Spionage.

 

Bei einem so kleinen Schiff wie einer Korvette wird keinem der Seeleute verborgen geblieben sein, wenn es einen entsprechenden Kontakt gab. Für die britischen Kapitäne bestand also die Gefahr, dass ein überlebender Franzose sie wieder erkennt und sie in einem möglichen Prozess als „Kontakt“ nennt. Auch ein (echter) Affe kann Menschen wiedererkennen, so dass diese Gefahr auch von ihm ausgeht.

 

Es war also im Sinne zahlreicher Fischer und Handelskapitänen, dass ein Überlebender der gestrandeten Korvette möglichst schnell und ohne viel reden zu können, verschwindet. Wie schnell sich eine feindselige, aber ruhige Menge in einen wütenden Mob verwandelt, hat sich in den letzten Monaten auch in Deutschland immer wieder gezeigt. Damit war dann das Ende des Affen oder des Franzosen besiegelt.

 

Ein Affenknochen als Beleg?

Ob die Geschichte stattgefunden hat, ist nicht belegt. Wenn es ein solches Ereignis gegeben hat, dann war die Zahl der Beteiligten nur gering, es hat nicht lange gedauert und es gab kaum Kollateralschäden. Sonst hätten die lokalen Behörden mindestens ein Protokoll verfasst. Stattdessen stammt die erste offizielle Erwähnung aus dem Jahre 1854 oder 1855 in Form eines Spottliedes. In dessen Folge wurde die Geschichte mit dem Affen zur Stadtlegende.
Dieses Lied soll nach anderen Quellen bereits um 1827 mit anderen Orten gesungen worden sein (Kevinhobbs 2012).

 

Affenknochen von Hartlepool
Der vermeintliche Affenknochen im Museum von Hartlepool

 

So blieb die ganze Sache unbelegbar, bis im Jahre 2005 am Strand von Hartlepool ein ungewöhnlicher, großer Knochen angespült wurde. Natürlich brachte man ihn sofort mit dem legendären Affen in Verbindung. Leider bestätigte sich der Verdacht nicht. Er stammt von einem Rothirsch, der vor etwa 6000 Jahren lebte. Der Knochen wird im Hartlepool Museum ausgestellt.

 

Oder ist die ganze Legende importiert?

Der „Comic Performer“[2] Ned Corvan machte etwa 1855 den „Monkey Song“ populär. Es gibt jedoch einen sehr ähnlichen Song aus Boddam, einem kleinen Ort in Aberdeenshire, etwa 300 km nördlich von Hartlepool.
Könnte es also sein, dass die Stadtlegende von Hartlepool ihr reales Vorbild im Aberdeenshire hat?

 

 

In former times, mid war an’ strife,
The French invasion threatened life,
An’ all was armed with the knife,
The Fishermen hung the Monkey O!
The Fishermen wi’ courage high,
Seized on the Monkey for a spy,
“Hang him” says yen, says another,  ”He’ll die!”
They did, and they hung the Monkey O!.
They tried every move to make him speak,
Them tortor’d the Monkey till loud he did squeak
Says yen, “That’s French,” says another “it’s Greek”
For the Fishermen had got drunky, O!
“He’s all ower hair!” sum chap did cry,
E’en up te summic cute an’ sly
Wiv a cod’s head then they closed an eye,
Afore they hung the Monkey O!

 

Hartlepool und der Affe heute

H’Angus the Monkey by Yaffa Phillips CC BY-SA 2.0

Der gehängte Affe ist in Hartlepool heute allgegenwärtig. Es gibt eine Skulptur eines Schimpansen am Hafen, etwa dort, wo sich die Ereignisse abgespielt haben sollen. Sie sammelt für den britischen Seenotretter. Auf der Promenade ist ein Denkmal zeigt einen kleinen Affen mit langem Schwanz.

 

Der lokale Fußballverein Hartlepool United F.C. hat das Maskottchen „H’Angus the Monkey“ seit 1999 adoptiert. Bürgermeister-Kandidat Stuart Drummond hat das Kostüm 2002 im Wahlkampf getragen und damit die Wahl gewonnen. Bis 2013 war er im Amt, danach wurde er nicht gehängt.


Literatur:

 

Wikipedia zu Stuart Drummond: https://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Drummond

 

Tijana Radeska in The vintage News vom 13.01.2017: https://www.thevintagenews.com/2017/01/13/the-monkey-who-was-convicted-of-being-a-french-spy-and-was-hanged-by-the-citizens-of-hartlepool/

 

Sky News vom 08.06.2021 https://news.sky.com/story/hartlepools-monkey-statue-to-be-given-explanatory-sign-to-avoid-offending-visitors-12327668

 

Karl-Hans Taake: Carnivore Attacks on Humans in Historic France and Germany. 2020, S. 5ff.

Louise E. Robbins: Elephant Slaves and Pampered Parrots. 2002, S. 28f, 126.

Kevinhobbs: Update – Hanging the Monkes auf: http://ambrosemerton.org/?tag=hanging-the-monkey

 

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Who hung the Monkey?

Dies ist das im Kommentar von Ulrich angesprochene Buch. Der Forteaner Paul Screeton findet die selbe Geschichte in vier britischen Städten. Er folgt dabei der Historie des oben zitierten Songs und kommt zu anderen Ergebnissen als hier.
Überall läuft es aber darauf hinaus, sich über primitive Bewohner lustig zu machen, die einen Affen für einen haarigen französischen Spion halten.

 

Who Hung the Monkey?: Story of the Hartlepool Legend ist 1991 bei Printability in englischer Sprache erschienen. Es ist als Taschenbuch mit viel Glück antiquarisch verfügbar.

 

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[1] Der oben prototypisch beschriebene Dreieckshandel musste keineswegs immer so stattfinden. Die meisten Händler pendelten direkt zwischen Europa und der Karibik, ohne Sklaven aus Afrika an Bord zu nehmen. Ebenso konnten Händler an der Sklavenküste (etwa bei Benin bis Togo) Sklaven an Bord nehmen und bereits an der Goldküste im heutigen Ghana wieder verkaufen. Die Möglichkeiten waren vielseitig, an den Küsten des Atlantiks Handel zu betreiben. Der Menschenhandel brachte damals wie heute viel Elend und leider auch große Profite.

 

[2] Ein „Comic Performer“ war im weitesten Sinne ein Vorgänger eines heutigen Comedians. Er zog von Ort zu Ort und trat auf Märkten und Jahrmärkten auf. Zu seinen Fähigkeiten gehörten oft unterschiedliche Künste von Singen und Musizieren über Jonglieren, Erzählen bis hin zu Zaubertricks.




Seejungfrau-Skelett in England angespült?

Mehrere Organe der britischen Presse melden ein seltsames Skelett, möglicherweise das einer Seejungfrau, das am Hightown Beach bei Liverpool angeschwemmt wurde. Finderin Kirsty Jones war am 1. Juni mit ihrer und einer befreundeten Familie zu einem Picnic unterwegs. Sie erzählte dem lokalen Newsportal ECHO „Wir fanden das, als wir den Strand entlang gingen. Keiner wusste, was es ist.“

 

[googlemaps https://www.google.com/maps/embed?pb=!1m18!1m12!1m3!1d1206749.0957509195!2d-3.3251782319731524!3d53.79070088138334!2m3!1f0!2f0!3f0!3m2!1i1024!2i768!4f13.1!3m3!1m2!1s0x487b3b2b8ea734b1%3A0xe49d6f030ba03a71!2sHightown%2C%20Liverpool%2C%20Vereinigtes%20K%C3%B6nigreich!5e0!3m2!1sde!2sde!4v1622883672339!5m2!1sde!2sde&w=600&h=450] 

Später ergänzte sie „Ich sagte meinen Kindern ‚das sieht wie eine Seejungfrau aus‘. Es hatte einen Fischschwanz.“

 

Meerjungfrau?
Die „Meerjungfrau“ von Kirsty Jones

 

Quelle der Meldung und des Fotos: ECHO

 

Ganz herzlichen Dank an Ulrich Magin, der mich auf die Zeitungsmeldung aufmerksam machte!


Die Analyse

Die Analyse dreht sich um zwei Punkte, wie nahezu immer in der Kryptozoologie: Ist das Bild echt? Was zeigt es?

Ist das Bild echt?

Die kurze Antwort hierzu ist: ja, es wirkt so. Das Bild ist so schlecht, dass man darauf kaum Details erkennen kann. Dazu kommt, dass es im Erscheinungsbild dem eines stark skelettierten Kadavers, der an einen Strand gespült wurde, sehr gut entspricht.

 

Auch die Fotografin ist nach kurzer Websuche nicht zu identifizieren. Dies mag daran liegen, dass es eine Berufs-Fotografin, eine im November 2020 an Corona verstorbene Pflegehelferin und eine professionelle Kite-Surferin gleichen Namens gibt. Auch eine Backpackerin, die im Jahr 2000 in Thailand ermordet wurde, trug diesen Namen.
Nichts deutet auf eine Person hin, die sich hier mit einer absichtlichen Falschmeldung in den Vordergrund spielen möchte.

 

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Überschrift

Tief unten auf dem Meeresgrund lebt die kleine Seejungfrau. An ihrem Geburtstag singt sie mit ihrer betörenden Stimme ein wunderschönes Lied und bringt dadurch ein Schiff zum Sinken. Sie rettet einem Prinzen das Leben und verliebt sich in ihn. Doch die Liebe bleibt unerwidert. In ihr wächst die Neugier, fortan als Mensch auf der Erde zu leben. Die kleine Seejungfrau muss ihr Leben riskieren, um bei ihrem Geliebten zu sein. Denn wenn sie es nicht schafft, dass der Prinz sich in sie verliebt, kehrt sie für immer verwandelt ins Meer zurück.

 

Die kleine Seejungfrau ist das digital überarbeitete Original der DEFA von 1976. Neben der CD gibt es unterschiedliche Versionen des Leihens und Kaufens.

 

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Was zeigt das Bild?

Das Bild ist leider nicht sehr aussagekräftig. Es ist aus einer sehr ungünstigen Position aufgenommen und zeigt somit sehr wenige Details. Dazu kommt die übliche, geringe Auflösung eines Web-Bildes. Dennoch kann man einiges erkennen.

 

Das Bild wurde, wie berichtet, am Strand aufgenommen. Es zeigt einen langen, breiten Sandstrand, im Hintergrund sind spärlich begrünte Dünen und eine Abgangstreppe mit mindestens einem Absatz zu erkennen. Weitere Bildelemente habe ich mit Nummern bezeichnet:

 

  1. Kinderwagen, vermutlich ein Buggy. Er ist der einzige halbwegs brauchbare Größenvergleich im Bild. Durch ihn lässt sich die Größe der „Seejungfrau“ etwa bei 2 m (plusminus etwa 0,5 m) einordnen.
  2. Schädel. Er ist kaum zu erkennen, scheint aber recht schmal zu sein. Der Hinterschädel ist nicht erkennbar, daher ist dieser Schluss mit Vorsicht zu beachten.
  3. Brustkorb: Lange, eher schlanke Rippen eines tiefen Brustkorbes. Sie sind im vorderen Bereich mit einem Brustbein verwachsen. Der Brustkorb wirkt breit und eher flach. Schultern und Vorderextremitäten fehlen.
    Die Lage des Brustkorbes zeigt an, dass der Kadaver auf dem Rücken liegt.
  4. offene Rippen, die nicht mit dem Brustbein verbunden sind
  5. Wirbelsäule. Möglicherweise ist sie an dieser Stelle gebrochen und verdreht.
  6. Wirbelfortsätze, unklar ist, ob es sich hierbei um Quer- oder um Dornfortsätze handelt. Es sieht aber eher nach Querfortsätzen aus. Sicher ist diese Schlussfolgerung nicht.
  7. Der Beckenbereich des Kadavers ist teilweise noch mit Haut bedeckt. Ein ausgeprägter Hüftknochen ist nicht zu sehen. Hinterextremitäten fehlen
  8. Reste von Hautgewebe, die die Hüfte abdecken und schlecht erkennbar halten. Unten ist ein größerer Rest, der von der Finderin als „Fischschwanz“ interpretiert wurde.
  9. Fäden, entweder aus freigesetzten Collagenfasern oder Reste von Fischernetzen. Der Schwanz wird weiter mit einer kräftigen Wirbelsäule gestützt.
  10. Schatten – von was? von der Fotografin?

Das Existenz eines Brustbeins schließt einen Fisch aus. Amphibien und Reptilien fallen aus geographischen Gründen ebenfalls aus, ein Vogel ist es ebenso nicht. Bleibt also ein Säugetier.

 

Welche Tiere?

Der County Merseyside liegt an der Irischen See zwischen den beiden britischen Hauptinseln. Sie ist eines der Gewässer in Europa mit der größten Diversität von Meeressäugern. Fischotter, Seehunde und Kegelrobben gibt es hier ebenso wie Schweinswale, Gewöhnliche Delfine und Große Tümmler. Zu den selteneren Kleinwalen gehören der Langflossen-Grindwal, Orcas, Weisschnauzen- und Streifendelfine sowie Rundkopfdelfinde (Risso-Delfine). Auch größere Wale findet man in großer Artenzahl: Nördliche Entenwale, Pottwale und unter den Bartenwalen die Atlantischen Zwergwale, Finnwale, Seiwale, Buckenwale und Atlantische Nordkaper. 

 

Aufgrund der angenommenen Größe von etwa 2 m kommt ein Großwal nicht in Frage. Ein Vergleich mit Museum-Skeletten lässt aber kaum Fragen offen:

 

Schweinswal-Skelett
Skelett eines Hafenschweinswals Phocoena phocoena by André-Philippe Picard

 

Als typisches Walskelett zeigt das Skelett des (Hafen-) Schweinswals zahlreiche Charakteristika, die auch das vermeintliche Meerjungfrauen-Gerippe zeigt:

(Die Nummern entsprechen der Position auf dem Bild)

3. Es gibt einen vergleichsweise flachen Brustkorb.

4. Die ersten Rippen sind mit dem Brustbein verbunden, weitere stehen offen. Dies schließt bereits die meisten Landtiere aus.

6. Kräftige Querfortsätze für starke Rückenmuskulatur

7. Kein sichtbares Becken (schließt alle Landtiere aus)

9. starke Schwanzwirbelsäule (schließt den Seehund und die Kegelrobbe aus)

 

Fazit: Es handelt sich bei dem Skelett um einen Kleinwal. Da weder die Vorder-Extremitäten noch der Schädel sichtbar sind, ist keine weitere Identifikation möglich.

 

Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen noch weitere Bilder des Kadavers auftauchen würden. Wir bleiben am Ball!


Hinweis: Bereits Ende November 2020 wurde in England ein Teil einer vermeintlichen Seejungfrau gefunden. Natürlich hat sich die Sache als Fake erwiesen.




Vom Bau eines Rattenkönigs

Irgendwo um ländlichen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Unter den Dielen einer Scheune vernimmt der Bauer lautes Quieken und scharrende Geräusche. Er beschließt, dem Spuk auf den Grund zu gehen. Was er unter den Dielen entdeckt, erscheint ihm wie ein Ungeheuer. Ein Knäuel aus zehn Ratten, deren Schwänze hoffnungslos ineinander verflochten sind, windet sich in einem Nest aus Stroh, getrockneten Pflanzenresten und Kotbällen.

 

Ratenkönig
Historisches Flugblatt über den Rattenkönig von Strasburg, 1683

 

Der Bauer macht kurzen Prozess mit dem „Ungetüm“ und erschlägt die Tiere mit der Schaufel, mit der soeben noch die Diele aufstemmte.

Das Phänomen „Rattenkönig“

Diese fiktive Geschichte ist eine typische Entdeckungsgeschichte für ein Phänomen, das war „Rattenkönig“ nennen. Von Rattenkönigen spricht man, wenn zwei oder mehr Rattenentdeckt werden, die mit ihren Schwänzen aneinandergeknotet sind. Sie sind ein bizarres Phänomen. Lange Zeit galten sie als reiner Aberglaube. Doch mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert tauchten immer mehr Belege für ihre Existenz auf und Forscher begangen, sich mit den Berichten zu beschäftigen.

 

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Mieskater Martinchen und Rattenkönig Birlibi. Sagen und Märchen aus Vorpommern

Mieskater Martinchen und Rattenkönig Birlibi: Sagen und Märchen aus Vorpommern ist eine vollständige Neuüberarbeitung der „Mährchen und Jugenderinnerungen“ Teil 1 (1818) und Teil 2 (1843) von Ernst Moritz Arndt. Neben den titelgebenden Märchen „Mieskater Martinchen“ und „Rattenkönig Birlibi“ enthält es 19 weitere Volkserzählungen. Alle wurden meisterhaft von Ernst Moritz Arndt nacherzählt und 2015 von Michael Holzinger in Form gebracht.

 

Die Sprache wirkt heute ein wenig altmodisch, gestelzt, aber bereits die Amazon-Leseprobe macht einfach nur Lust aufs Weiterlesen.

 

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Heute kennen wir in Deutschland vier Rattenkönigpräparate (in Stuttgart, Altenburg, Göttingen und Hamburg). Von diesen vier Präparaten sind nur diejenigen aus Altenburg und Göttingen auch öffentlich ausgestellt. Außerdem existieren einige wenige weitere Exemplare zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden und auf Neuseeland.

 

Rattenkönige sind vor allem ein deutsches Phänomen

Viele ungeklärte Fragen ranken sich um den Rattenkönig. Weder seine Entstehung ist abschließend geklärt, noch, wie die Tiere in diesem Zustand der Bewegungsunfähigkeit überleben und sich mit Nahrung versorgen.

 

Was wir wissen ist, dass Rattenkönige annähernd ausschließlich bei der Hausratte (Rattus rattus) auftauchen, die in Mitteleuropa inzwischen jedoch weitestgehend durch die Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängt wurde. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die Schwänze der Hausratte länger und beweglicher als jene der Wanderratte sind.

 

Um sehr umfassender Artikel von mir zum Thema Rattenkönig wird übrigens im zweiten Jahrbuch für Kryptozoologie im Spätsommer 2021 erscheinen.

 

Spannend ist auch, dass Rattenkönige vor allem in Deutschland auftauchen. Nachgewiesene Fälle aus dem europäischen Umland oder von weiter her sind nur sehr vereinzelt, während aus Deutschland viele dutzend Fälle bekannt sind. Weshalb dies so ist, und ob hier womöglich auch kulturelle Aspekte eine Rolle spielen, ist ebenso noch ungeklärt.

 

„Unser“ Rattenkönig fürs Museum

Diesen Umstand wollten meine Freundin Hannah und ich uns jedoch zum Anlass machen, dieses rätselhafte Phänomen in unsere kryptozoologische Ausstellung im Museum Tor zur Urzeit in Brügge Eingang finden zu lassen.

 

Modell des Rattenkönigs
So oder ähnlich könnte der Rattenkönig in der Ausstellung präsentiert werden.

 

Da ein echter Rattenkönig kaum zu beschaffen ist, sollte es das Ziel sein, diesen möglichst lebensecht nachzubilden.  Zunächst studierten wir also Abbildungen von Rattenkönigen (besonders die Schwanzverflechtungen).

 

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James Clavell: Rattenkönig

Der Roman schildert die Zustände in einem japanischen Kriegsgefangenenlager im Jahre 1945. Unter grausamsten Umständen vegetieren die Gefangenen vor sich hin. Nur der „King“ kann durch geschickte Tauschgeschäfte ein halbwegs angenehmes Leben führen. Davon profitieren teilweise auch seine Zuträger.

Clavell, der selbst in einem solchen Lager war, beschreibt mit beklemmender Detailgenauigkeit die aus diesem Gegensatz entstehenden Konflikte. Zum Beispiel extreme Selbsterniedrigung oder das Bestehlen todkranker Kameraden für ein Stückchen Brot. Gleichzeitig wächst der Hass auf den „King“, der als einziger im Lager gut genährt ist und saubere Kleidung trägt.
Am stärksten ist das Buch am Ende, weil sich die Gefangenen nach ihrer Befreiung allmählich darüber klar werden, dass sie sich über ihr Verhalten während der Gefangenschaft Rechenschaft werden ablegen müssen.

 

Rattenkönig ist 1975 bei Droemer Knaur erschienen und gilt als heimliches Meisterwerk und Weltliteratur. Es ist durch eigene Erfahrungen des Autors geprägt und in deutscher Sprache günstig, im englischen Original als Erstausgabe sehr teuer.

 

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Als nächstes besorgten wir uns Rattenimitationen. Lebensechte Modelle sind eher schwer zu bekommen. Wir mussten eine ganze Weile schauen, bis wir welche fanden, die zumindest einigermaßen realistisch aussahen. Diese kolorierten wir dann partiell nach, wo die Originalfarbe eher nicht realistisch wirkte. Um die Schwänze miteinander zu verflechten, mussten wir sie nach und nach mit einem Heißluftföhn weich mach und damit beweglicher machen. Da es oft so ist, dass die verknoteten Schwänze von Rattenkönigen auch Pflanzenreste mit eingeflochten haben, machten wir auch genau das.

 

Ein Zuhause für den Rattenkönig

Eine Holzkiste sollte als Rattennest dienen und war schnell beschafft und ein wenig mit Schleifpapier bearbeitet. Ratten bauen ihre Nester oft aus Materialien, die in der direkten Umgebung zu finden sind. So mischten wir Stroh und getrocknetes Pflanzenmaterial mit Haarflusen und unseres schwarzen Hundes (das Beschaffen von Rattenhaar erschien dann doch zu aufwendig) und bereiteten unserem Rattenkönig ein gemütliches Zuhause.

 

Detail des Rattenkönigs von Brügge
So sieht der „Rattenkönig von Brügge“ im Detail aus

 

Gemeinsam mit weiterem Infomaterial und Exponaten wie dem Druck eines Flugblatts über die Entdeckung eines Rattenkönigs in Straßburg 1683, soll unser Rattenkönig nun Einzug in unsere Kryptozoologie-Ausstellung erhalten.

 


 

Über Rattenkönige

Die Redaktion

 

Rattenkönige sind ein seltenes Phänomen und bis auf wenige Ausnahmen auf Mitteleuropa wie das heutige Frankreich, Benelux, Deutschland, Dänemark, Polen und das Baltikum beschränkt. Je nach Quelle wurden weltweit bisher zwischen 35 und 50 Rattenkönige gefunden. Dabei macht die Hausratte Rattus rattus den Großteil der Tiere aus. Einzelfälle gibt es auch bei Wanderratten Rattus norvegicus, Reisfeldratten Rattus argentiventer sowie nordamerikanischen Hörnchen.

 

Bekannte Funde

1564 Ältester bis heute überlieferter Bericht über einen Rattenkönig
ca. 1683 Ein Unbekannter lässt bei Verleger F.W. Schmuck ein Flugblatt mit dem Strasburger Rattenkönig aus 6 Individuen drucken. (siehe oben)
1725 Rattenkönig aus 11 Individuen, lebend auf einem Dachboden in Dorndorf a.d. Werra
1772 Fund in Erfurt, ebenfalls 11 Individuen.
1822 gleich zwei Rattenkönige: einer aus 14 und einer aus 28 Tieren in Döllstedt, Stadtilm, Thüringen
1828 Im Kamin eines Müllers in Buchheim wird der bisher größte, bekannte Rattenkönig gefunden. Er umfasst 32 Individuen und ist mumifiziert. Er wird im Naturkundemuseum Mauritianum in Altenburg, Thüringen ausgestellt.
1918 In Bogor auf Java wird ein Rattenkönig aus zehn jungen Reisfeldratten gefunden.
1929 Fund eines „Mäusekönigs“ aus Waldmäusen Apodemus sylvaticus in Holstein
1963 Ein Landwirt aus Rucphen (Niederlande) findet einen Rattenkönig aus sieben Individuen. Röntgenaufnahmen zeigen, dass die Schwänze der Tiere gebrochen waren und wieder zusammengewachsen sind.
1986 Fund eines Rattenkönigs in Maché, Frankreich, 9 Tiere, heute Museum in Nantes
2005 Fund im Võrumaa in Estland, 16 Tiere, davon 5 bis 9 lebend

 

Das Titelbild zeigt einen Rattenkönig, der 1895 in Dellfeld gefunden und heute im Zoologischen Museum Strasburg aufbewahrt wird. Foto:  Edelseider, derivative work Lämpel.




Zeichnungen von Augenzeugen – das Beispiel Seeungeheuerkadaver

In der Kryptozoologie hängt oft viel davon ab, wie sehr man Augenzeugenberichten traut oder trauen kann. Es herrscht allgemein die Meinung, dass gute Beobachter bei guten Bedingungen und in einer ihnen vertrauten Umwelt sehr genau zu schildern vermögen, was sie gesehen haben. Diese Prämisse lässt sich unter anderem testen, wenn man Augenzeugenskizzen und Beschreibungen von angespülten Seeungeheuerkadavern unter die Lupe nimmt. Anders als Nessie, die häufig nur kurzzeitig und dann auch nur in Teilen an der Oberfläche zu sehen ist, liegen Seeungeheuerkadaver tagelang da und können ergiebig begutachtet werden, auch sind ihre Finder oft Fischer oder Menschen, die mit Strandgut recht vertraut sind.

 

Wie zuverlässig sind dann solche Schilderungen? Da heute fast immer gleich Foto- oder Handyaufnahmen gemacht werden, beschränke ich mich hier auf das 19. und erste halbe 20. Jahrhundert, als man noch schilderte und zeichnete, weil nicht jeder eine Kamera besaß.

 

Seemonsterkadaver

Werden irgendwo an einem Strand der Reste einer Seeschlange angeschwemmt, und kann ein kompetenter Zoologe sie untersuchen, stellen sie sich recht schnell als eines von drei bekannten Tieren heraus:

 

1) ein verwesender Riesenhai (Pseudoplesiosaurier)

2) ein verwesender Wal (Zahn- und Bartenwal)

3) Rollen von Walspeck oder extrem verweste Wale (sogenannte Globster)

 

Ich habe mich auf dieser Seite bereits mit Illustrationen von Seeschlangen und Binnenseeungeheuern beschäftigt. (siehe: https://netzwerk-kryptozoologie.de/skizzen-nach-augenzeugenberichten/) Ein Kadaver ist, wie bereits gesagt, etwas ganz anderes – er taucht nicht unvermittelt auf und verschwindet nach einem kurzen Augenblick wieder. Er liegt da und rührt sich nicht.

 

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Rätsel & Mysterien der Eifel, das neue Buch von Ulrich Magin

Die Eifel steckt voller Geheimnisse: Da erzählt man sich von brüllenden Maaren, versunkenen Städten und geheimen Regierungsbunkern, wundert sich über ungewöhnliche Gesteinsformationen oder nächtliche Leuchterscheinungen. Manch einer will gar UFOs, Kugelblitze oder Phantomkatzen gesehen haben! Ulrich Magin hat recherchiert und geht anhand von Augenzeugenberichten und rätselhaften Funden den Bruchstellen auf den Grund, an denen unsere gewohnte Alltagswelt jäh ins Unheimliche abgleiten kann. Aber während einige der Eifel-Rätsel sich zumindest theoretisch erklären lassen, bleiben andere wohl für immer ein Mysterium…

 

Rätsel und Mysterien der Eifel, das neuste Werk von Ulrich Magin ist im März 2021 im Eifelbildverlag erschienen und hat als Taschenbuch 308 Seiten. Es kostet € 19,90

 

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Erstaunlicherweise sind die Zeichnungen von Augenzeugen, die Zeit und Muse haben, sich die Überreste eines sensationellen Fundes genau zu betrachten, ebenso fehlerhaft und irreführend wie die von Zeugen, die nur schnell mal ein Monster weit entfernt im Meer erblickt haben.

 

 

Ein Riesenhai (Cetorhinus maximus). Verwesen der Kiemenapparat, Ober- und Unterkiefer usw. wirkt es, als habe der Kadaver einen längeren Hals. (Illustration: Historic NMFS Collection, commons.wikimedia.org)

 

Das Ungeheuer von Stronsa

Über das Ungeheuer von Stronsa (heute Stronsay) auf den schottischen Orkneys ist fast bereits alles gesagt. Eine gute Übersicht über den Fund und die Umstände findet man hier: https://netzwerk-kryptozoologie.de/freitagnacht-kryptos-stronsay-beast/

Es hat sich um einen Riesenhai gehandelt, aber die Augenzeugen, die den Kadaver begutachtet und präzise vermessen hatten, glaubten, es sei eine Seeschlange mit Pferdekopf, Mähne und sechs Beinen!

 

 

Zum Glück wurden Reste des Tieres nach Edinburgh gebracht und dort untersucht, die Beschreibung der öligen Knochen und der Schädelteile belegt eindeutig die Identifikation als Cetorhinus maximus.

Was aber, wenn wir nur die Zeugenskizze vorliegen hätten? Dann würden eifrige Kryptozoologen erklären, dass es kein Riesenhai gewesen sein kann, weil Riesenhaie schließlich keine Füße haben.

 

Die Seeschlange von Praa Sands

1928 wurde ein totes Seeungeheuer bei Praa Sands in Cornwall angespült – oder besser: ein Riesenhai. Kein Geheimnis machte daraus die Lokalpresse, als sie den Fund meldete:

 

 

22-Fuß-Hai am Praa-Sand angespült

 

Ein riesiger Fisch wurde während des jüngsten Sturms in Praa Sands angespült, und erst als ein Brief von einer Londoner Behörde eingegangen war, wurde er als seltene Haiart identifiziert.

 

Es maß 22 Fuß und hatte Haare am Schwanz einen Fuß lang. Zwei Pferde konnten es nicht vom Sand ziehen.

 

(Falmouth Packet, 15. Juni 1928, S. 3c)

 

Als Nessie 1933 in die Nachrichten kam, meldete sich ein Augenzeuge bei der Londoner „Times“ und beschrieb diesen Haikadaver als „seltsames Tier … in der Art des Ungeheuers von Loch Ness“ (weshalb manche Bücher ihn unter dem Datum Dezember 1933 führen).

Gould befragte den Augenzeugen (vgl. Gould, Rupert Thomas & Frh. von Forstner, Georg-Günther: Begegnungen mit Seeungeheuern. Leipzig: Grethlein Nachf. 1935, S. 133), dieser schilderte ihm den Kadaver eines Plesiosauriers, mit Vorder- und Hinterflossen.

 

 

Zum Glück wurden von dem Haikadaver Fotoaufnahmen gemacht. Ein Foto zeigt, wie bei einem Riesenhai zu erwarten, deutlich die Vorderflossen, aber keine Hinterflossen. Markus Hemmler hat freundlicherweise in das Foto eingezeichnet, was alles deutlich auf einen Riesenhai hinweist.

Die Zeichnung ergänzt Flossen

Die Zeichnung ergänzt Hinterflossen, damit das Tier stärker an einen Plesiosaurier gemahnt. Markus Hemmler hält es für möglich, dass es sich dabei um die auf dem Foto nicht sichtbaren Bauchflossen des Hais gehandelt haben könnte.

 

Ich will dem Augenzeugen keinen Betrug unterstellen – er zeichnete, was er zu sehen erwartete, nicht, was er sah, oder er interpretierte zumindest, was er sah. Und als er sich fünf Jahre später erinnerte, erinnerte er sich nicht an das, was er gesehen hatte, sondern an das, was er zu sehen wünschte: einen Plesiosaurier.

 

Heuvelmans, der ja seine Einzelfälle nicht untersuchte, sondern nur sammelte, ist sich hier nicht einmal sicher, ob es ein Riesenhai war. Die zeitgenössischen Berichte sprechen allerdings eine eindeutige Sprache.

 

Das Gourock-Ungeheuer, 1942

Über das Monster von Gourock berichtet Markus Hemmler ausführlich auf seinem Blog: http://globsterblobsandmore.com/cetorhinus/gourock-sea-serpent-1942/

 

Auch hier meldeten die Lokalzeitungen im Fundjahr 1942, ein toter Riesenhai sei an den Strand gespült worden. 1980 kam der damalige Gesundheitsinspekteur der Stadt Gourock mit dem britischen Fernsehen in Kontakt, um zu schildern, wie der Kadaver ausgesehen hatte – nämlich wie ein typischer Plesiosaurier. Vielleicht stand ihm eine Zeichnung zur Verfügung, die er bereits 1942 von dem Kadaver gemacht und die er damals an Dr. Stephens vom Naturhistorischen Museum Edinburgh gesandt hatte.

 

Jedenfalls zeigt die Skizze deutlich einen Plesiosaurier. Die Skizzen und Fotos kann man auf der Seite von Markus Hemmler finden (Link: http://globsterblobsandmore.com/cetorhinus/gourock-sea-serpent-1942/), sie zeigen, dass tote Haie in der Wahrnehmung und Erinnerung stets zu perfekten Plesiosauriern mutieren. Findet man Fotos, Überreste oder zeitgenössische Zeitungsartikel, klärt sich das Rätsel oft schnell auf.

 

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DAS Standardwerk zum Thema Seeungeheuer

Dieses Buch ist zweifellos eines der seriösesten Werke zur Kryptozoologie.
Es behandelt das Monster von Loch Ness, Seeschlangensichtungen, Riesenkalmare, Wale, Haie, Globster und viele weitere Kryptide.
Der Autor schreibt deutlich, dass er nicht an Nessie, Riesenaale, den Megalodon und Kryptiden glaubt. Er argumentiert überzeugend dafür, dass hinter den Seeschlangen Riesemkalmare stecken. Genauso offen steht das Buch zu Vorfällen wie der Seeschlange von Gloucester und Globster/Blobs, die der Autor nicht erklären kann.
Alles in allem ein sehr lesenswertes und sehr gut recherchiertes Buch.

 

Seeungeheuer: Mythen, Fabeln und Fakten ist 2014 in der Edition Birkhäuser erschienen und hat 396 Seiten. Man bekommt es nur noch antiquarisch, zu stark schwankenden Preisen.

Mit dem Kauf über den Link unterstützt ihr den Betrieb dieser Website.

 

Eine Riesenkaulquappe bei Orford Ness

Wie sehr die Erinnerung die Genauigkeit von Skizzen beeinträchtigen kann, zeigt das Beispiel Orford Ness in Ostengland. Anfang der 1960er Jahre machte Mildred Nye Urlaub im ostenglischen Orford, als sie einen Lastwagen bemerkte, auf dem ein frisch gestrandetes Seeungeheuer lag. Es war fünf Meter lang und hatte die Form einer riesigen Kaulquappe.

 

 

 

Jahre später schrieb sie dem Kryptozoologen Tim Dinsdale und lieferte gleich eine Skizze mit, die ein groteskes, sicherlich unidentifizierbares Lebewesen zeigt. Dinsdale forschte aber nach und erfuhr, dass genau zu der Zeit ein ganz gewöhnlicher, 3,30 Meter langer Blauhai gestrandet und per Lastwagen in ein Forschungsinstitut verfrachtet worden war. Erneut war die Erinnerung der Zeugin war ganz und gar falsch – sowohl was Größe als auch Form des Ungeheuers anging.

(Dinsdale, Tim: The Leviathans. London: Futura 1976, S. 151–155)

 

Der Tasmanische Globster

Diesem Monster ist jeder schon begegnet, die nur die populären Bücher über Unbekanntes und unheimliches gelesen hat. Ich begegnete ihm zum ersten Mal in Peter Kolosimos „Viel Dinge zwischen Himmel und Erde“. Später fand ich heraus, dass der Mann, der den Fall popularisiert hatte, der Zoologe und Mitbegründer der Kryptozoologie war, Ivan T. Sanderson. Der hielt den Globster (dieses Wort prägte er) für den Überreste eines Weltraumlebewesens, das auf der Erde gestrandet war – eine außerirdische, im Weltraum lebensfähige Spezies, die wir bei ihren Flügen durch die Atmosphäre für fliegende Untertassen halten. (Sanderson, Ivan T.: Univited Visitors)

 

Das Monster von Tasmanien war ein echter Globster, das heißt, es handelte sich um einen toten, verwesenden Wal, der an den Strand gespült wurde und dort bizarr aussieht. Ähnliche Fälle, fotografisch dokumentiert (etwa von der schottischen Insel Benbecula) zeigen, dass die Zeitungsskizzen annähernd dem wirklichen Aussehen entsprechen.

 

 

Zum Vergleich – das Monster von Benbecula:

 

 

 

Was aber berichteten die Augenzeugen? Die deutsche Wikipedia führt an: „Es hatte weder erkennbare Augen, Mund noch Knochen, dafür aber besaß es auf beiden Seiten seines ‚Vorderteils‘ fünf oder sechs Kiemenschlitze. Die Oberfläche des Objekts war mit feinen Haaren bedeckt.“ Die Haut konnte mit den schärfsten Äxten nicht aufgetrennt werden, meldeten andere, sie weiche vor der Flamme von Feuerzeugen zurück, das Tier weise zwei Stoßzähne auf, sechs fleischige Fangarme wie ein Oktopus.

 

Kurz: Hier stimmten zwar die Skizzen, aber die Augenzeugen, darunter ausgebildete Zoologen, waren so aufgeregt, dass sie aus dem verwesenden Wal ein außerirdisches Monster machten! Muss man noch sagen, dass sie tagelang mit der Begutachtung des Kadavers beschäftigt waren?

 

Der Plesiosaurier der Zuiyo Maru

Der Zuiyo-Maru-Kadaver war eine Sensation meiner Jugendzeit – japanische Fischer hatten 1977 vor Neuseeland einen toten Plesiosaurier aus dem Meer gefischt, fotografiert, vermessen, weil er stank wieder ins Meer gekippt – also lebten die großen Meeresungetüme noch. Eine herrliche Nachricht für mich als Nessie-Fan. Allerdings: Die Fischer hatten einen Teil der Flosse und andere Gewebeproben mit nach Japan genommen, und dort zeigten zoologische Analysen, dass es erneut ein verwester Riesenhai gewesen war.

Der Zuiyo-Maru-Kadaver

 

Über den Kadaver ist von uninformierten Autoren so viel Unsinn geschrieben worden, dass sich ein Buch oder ein Lexikon „Höherer Blödsinn zum Neuseeland-Kadaver“ lohnen würde. Ein kleines Beispiel: Der deutsche Autor Hans-Joachim Zillmer glaubt in „Darwins Irrtum“ nicht nur, dass jedes Tier mit der Endung -saurus ein Dinosaurier war, also auch Plesiosaurier und der Urwal Basilosaurus, er weist die Identifizierung als Riesenhai für unseren Kadaver zurück, weil man auf den Fotos ein Skelett sieht – und Haie keine Knochen haben, nur Saurier. Natürlich haben aber auch Haie ein Skelett, nur ist dieses aus Knorpel – was vom Laienauge oftmals nicht als vom Knochen unterschiedlich erkannt werden kann.

 

Hier fehlt es am einfachsten Wissen, und doch kaufen und glauben die Leute solchen Büchern!

 

 

Des geht hier aber nicht um Identifikationen oder phantasievolle Autoren, sondern um die Genauigkeit von Augenzeugenberichten. Der Kadaver, den die Mannschaft der Zuiyo Maru aus dem Meer zog, war erwiesenermaßen ein Riesenhai, und doch zeigen die Skizzen der Augenzeugen vier Gliedmaßen – sie standen vor dem toten Hai und sahen in Gedanken einen Plesiosaurier, den sie dann auch zeichneten. Es wurden zwei Flossenpaare gezeichnet, obwohl das Tier nur eines hatte. Selbst eine Verwechslung der (eventuell noch vorhandenen) Bauchflossen erklärt die Tatsache nicht, dass Vorder- und Hinterflossen gleich groß gezeichnet wurden.

 

Und keine Proben?

Gibt es weder Fotos noch Gewebeproben, dann werden solche Kadaver plötzlich zu echten Seemonsterüberresten. Bei Heuvelmans sind gerade die Exemplare, von denen wir nur Skizzen haben, etwa 1885 Florida, als unbekannte Tieren klassifiziert, und ebenso verhält es sich mit Gambo, einem angeschwemmten Monster aus Gambia, das Karl Shuker beschrieben hat. Hier gibt es weder Fotos noch Gewebereste, und nur aufgrund der Skizze, die zum Beispiel einen verwesten Delfin zeigen könnte, wird an der Identität als unbekanntes Tier festgehalten.

 

Fazit

Augenzeugenberichte sind nicht zuverlässig. Selbst wenn der Kryptid vor dem Beobachter liegt und sich nicht mehr bewegt, weicht die Schilderung von den Tatsachen ab – und zwar oftmals beträchtlich und bei diagnostischen Charakteristika, wie der Zahl der Gliedmaßen. Auch der Kryptozoologe kann und darf sich nicht auf sie verlassen. Es braucht zusätzliche, zumindest zum Teil objektivierbare Hinweise (Fußspuren, Fotos), um auf die reale Existenz eines Wesens schließen zu können.

 

Augenzeugenberichte sind in der Regel unzuverlässig, wenn die Zeugen aus einer bestimmten Erwartung heraus beobachten (hier liegt ein totes Monster vor mir) oder wenn sie das Monster aus der Erinnerung beschrieben.

 

Mein ganz großer Dank geht an Markus Hemmler, der den Text gelesen und wertvolle Anmerkungen gemacht hat.

 




Der Surigao-Kadaver

Mal wieder ein mysteriöser Kadaver, dieses mal gefunden an einem philippinischen Strand. Als genauer Fundort wurde die Küste von Baybay auf der Philippineninsel Surigao del Norte genannt.

 

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Lage des Fundortes 

Fotos zweier Urheber

Prince Don Antipasado und Curada Espiel Contreras nennen sich zwei Facebook-User, die Fotos des Kadavers gepostet haben.

 

Die Fotos von Contreras zeigen einen nassen Kadaver, der im Wasser des Brandungssaumes liegt. Der Kadaver ist mit zahlreichen Maden bedeckt, und teilweise skelettiert. Er hat seine Fotos am 26. Januar veröffentlicht.

 

 

Die Fotos von Antipasado hat seine Fotos etwa 12 h nach Contreras veröffentlicht. Sie zeigen einen trockeneren Kadaver, der am Tag in der Sonne auf den Felsen des Ufersaumes liegt:

 

 

Natürlich spekulieren weltweit die Internetuser über die Identität des Kadavers. Die Vermutungen gehen in Richtung Seekuh wie Manati oder Dugong, Alligator, Krokodil oder Meerjungfrau. Natürlich sind auch die üblichen „Mutanten“-Meinungen dabei, über die man sich am besten selbst ein Bild macht.

Die erste Analyse

Zunächst kann man getrost die Tiere, die nicht einmal in der Nähe von Surigao del Norte vorkommen, ausschließen. Das sind in dem Fall Manatis und Alligatoren. Meerjungfrauen bleiben aus praktischen Gründen außen vor.

 

Da zahlreiche Bilder veröffentlicht wurden, sind auch viele anatomische Details zu sehen.

Bei den sichtbaren Skelettteilen handelt es sich eindeutig um Säugetierknochen. Aufgrund des fehlenden Beckenknochens kann man alle Säugetiergruppen außer Seekühen und Walen ausschließen. Auch wenn eine im Netz häufig geteilte Vermutung das Manati war: Rundschwanzseekühe kommen in der Gegend nicht vor. Man findet sie im zentralen Amazonastiefland, an der amerikanischen Atlantikküste zwischen der Amazonasmündung und Florida sowie in der Karibik. Eine dritte Art bewohnt die Flüsse und Küstengewässer Westafrikas, zwischen Angola und Senegal.

 

Vorkommen der drei Manati-Arten (Florida-Manati: hellblau, Amazonas-Manati: rot, Afrikanisches Manati: braun) und der Fundort auf den Phillippinen (Fähnchen)

Und wenn’s doch ein Out-of-Place Manati war?

 

Out-of-Place-Tiere sind nie völlig auszuschließen, aber damit ein Manati auf die Phillippinen kommt, muss es schon außergewöhnlich verdriftet werden. Der kürzeste Weg (Luftlinie) wäre durch Afrika hindurch über den afrikanischen Grabenbruch (ca. 12.000 km), oder von Golf von Mexiko übers Land in den Pazifik und dann 14.000 km durchs offene Meer.

Wenn die Strecke „realistischer“, also im Wasser zurückgelegt würde, müssten die amerikanischen Manatis um die eisigen Gewässer von Kap Horn, während die Afrikaner die nicht wesentlich einladenderen Gewässen ums Kap der Guten Hoffnung passieren müssten.

Manatis sind ausgesprochene Langsamschwimmer, die mit starken Strömungen, kräftigem Wellengang und bewegtem Wasser nicht zurecht kommen. Sie bevorzugen Wassertemperaturen über 20°C, bei kaltem Wasser erfrieren sie schnell. Hinzu kommt, dass ihnen an vielen Küsten der möglichen Routen einfach die Nahrung fehlt.

 

Gabelschwanzseekühe, die Dugongs kann man aufgrund der Schädelform relativ schnell ausschließen.

 

Schädel eines Dugongs Rosenstein
Der Schädel des Dugongs hat stark nach unten gekrümmte massive Kiefer, in denen lediglich kurze breite Malzähne und ein paar kurzer Stoßzähne sitzen.

 

So bleiben nur die Wale. Für einen Wal sieht der Schädel jedoch sehr ungewöhnlich aus. Normalerweise erwartet man bei Walen lange, schmale Schädel mit großen Kiefern. Beim Surigao-Kadaver ist er aber sehr kurz und rundlich, mit sehr weit oben liegenden Augenhöhlen und – besonders interessant – kleinen gebogenen und sehr spitzen Zähnen.

Dieser Schädel aus dem Field Museum of Natural History zeigt die für Kogia-Arten charakteristischen, schlanken, spitzen Zähne sehr deutlich. Beim Kadaver waren sie auch erkennbar. (CC 1.0 Field Museum)

 

Diese Schädelform, die langen und schlanken, fast krallenartigen Zähne sowie der gebogene Kiefers sind nahezu eindeutige Merkmale für ein Mitglied der Gattung Kogia: den Zwergpottwal (Kogia breviceps) oder Kleinen Pottwal (Kogia simus).

 

 

Kogia-Skelett, Tadoussac
Kogia-Skelett aus dem Centre d´Interpretations des mammiferes marines‘ aus Tadoussac, Kanada

 

Das meiste Weichgewebe ist verwest. Dies erklärt auch die „Haare“ in der ursprünglichen Beschreibung: Es sind Gewebefasern.

 

Der Gegencheck

Wie passt das, was man beim Kadaver findet, zu einem vollständigen Zwergpottwal?

Das erste Bild zeigt eine simple Rekonstruktion der Position des Schädels im Kopf. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass der Schädel (gelb) von Zwergpottwalen und Kleinen Pottwalen in einem 45° Winkel zum Rumpf im Kopf sitzt, daher sind die Augen auch so hoch am Kopf. Dann muss man bedenken dass der Kopf-und Nackenbereich größtenteils skelettiert sind, so dass der Schädel in einem unnatürlich starken Winkel zum Brustkorb nach unten gebogen ist.
Das zweite Bild zeigt eine tiefergehende Rekonstruktion: Das Spermaceti-Organ (orange), das die typische nach vorne stehende Schnauzenform des Zwergpottwals ausmacht, ist hier allerdings durch Verwesungsvorgänge bereits völlig verloren. So unterscheidet sich die Kopfform fast komplett vom lebenden Tier.

Kommen Zwergpottwale bei den Phillippinen vor?

Wenn es sich bei dem Kadaver um eine Kogia-Art handelt, ist es wahrscheinlich, dass diese Art bereits in dem Gebiet bekannt ist. Diese Tiere werden selten angeschwemmt, so dass man insgesamt davon ausgehen kann: Wo so ein Tier strandet, kommt die Art zumindest zeitweise (z.B. beim Durchwandern) oder dauerhaft vor. Oder andersrum: Wenn ein Kadaver angeschwemmt wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er von einem in der Gegend generell bekannten Tier stammt.

 

Kogia
Meine Rekonstruktion eines Kogias, der sich mittels eines tintenartigen Sekretes vor einem Hai zu verbergen sucht.

 

Für die Identifikation der Art hilft das nicht weiter, beide Arten sind weltweit in tropischen Meeren verbreitet und kommen auch zwischen den Inseln der Philippinen vor. Generell lebt Kogia simus näher an der Küste, so dass er zwischen den Inseln der Philippinen eher zu erwarten ist. In der nahe gelegenen Tanon-Straße, einer Meerenge, haben die Behörden unter anderem wegen des Vorkommens dieser Art ein Meeresschutzgebiet errichtet.

 

Das ist jedoch kein Ausschlusskriterium für Kogia breviceps.


 

Auf meinem Blog habe ich am 3. November 2019 einen Beitrag über Zwergpottwale veröffentlicht.

 


 

Einen weiteren Artikel über einen Kogia, der sich ins Flachwasser verirrte, dort von einem Seelöwen erschreckt wurde und in Folge dessen zunächst große Mengen der tintenartigen Darmflüssigkeit absonderte, aber kurz drauf einen schweren Unfall hatte, haben wir hier: „The Ocean is a wild and scary place“

Die Redaktion