Wer sind diese Patagonier überhaupt?

Wie groß die Patagonier oder „patagonische Riesen“ denn nun tatsächlich waren, kann nur spekuliert werden. Hierfür ist zu einem späteren Zeitpunkt noch Gelegenheit genug.
Wenn man aber irgendwelche Untersuchungen anstellen will, sollte man zunächst einmal die betreffende Personengruppe identifizieren. Sicher, „Patagonier“ oder auch „Patagonische Riesen“ wurden sie genannt. Doch dieser Name ist willkürlich gewählt.
So stellt sich die Frage, ob man diese Gruppe nicht durch einen etwas objektiveren Oberbegriff beschreiben kann. Sei sie nun ein Stamm, ein Volk oder irgendetwas dazwischen – irgendwelche nachweisbaren Gemeinsamkeiten müssen die Patagonier habe. Sonst kann man die weitere Suche gleich aufgeben.
Patagonier? Kommt mir spanisch vor…
Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass der Begriff des „Patagoniers“ für sich genommen nichtssagend ist. Pigafetta hatte ihn schlicht erfunden.
Zwar handelt es sich um kein reines Fantasiewort. Würde man den Namen übersetzen, käme allerdings „Bigfoot“ heraus. So nämlich nannten die Spanier die Einheimischen, die ihre Füße mit einer Art Schuh aus Guanako-Leder vor der Kälte schützten. Durch diese Fußbekleidung wurden die Fußabdrücke stark vergrößert und erschienen riesenhaft.

Andere Quellen geben an, dass die Patagonier wohl nach Patagon benannt waren. Dieser Riese war eine Figur aus dem Roman Primaleón. Vielleicht erinnerten die angeblich riesigen Patagonier Pigafetta ja an seine Lektüre.
Es gibt auch gar keinen Grund, warum nicht beide Ansätze zugleich wahr sein könnten. So wird auch der Verfasser des Primaleón den Namen seines Riesen nicht ganz aus der Luft gegriffen haben. Ein sprechender Name, der sich auf dessen große Füße bezieht, erscheint schon realistischer.
Fest steht aber, dass der Begriff des Patagoniers nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen bezeichnet – nämlich den Stamm, zu dem die Spanier Kontakt aufnahmen. Dieser Stamm wird – wenn er denn existierte – aber nicht völlig für sich gestanden haben. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn ein kleines Grüppchen von Menschen dürfte nach vielen hundert Jahren kaum mehr eindeutig zu identifizieren sein. Bei einem ganzen Volk verhält es sich dagegen schon anders.
Bloß bietet der Name „Patagonier“ alleine eben keinen Anhaltspunkt, wie sich dieses Volk oder zumindest diese „größere Gruppe“ definiert.

Sind die Patagonier mit der Sprachgruppe der Tehuelche gleichzusetzen?
Das Spanische taugt also nicht dazu, die Patagonier zu identifizieren. Wie aber verhält es sich mit der Sprache der Einheimischen selbst? Ist sie gleich oder zumindest ähnlich, kann man daraus eine kulturelle Verwandtschaft ihrer Sprecher folgern.
Glücklicherweise war bereits Pigafetta auf die Idee gekommen, seinen patagonischen Gefangenen nach einigen Worten in dessen Sprache zu befragen. Dreihundert Jahre später hatte es d’Orbigny zwar nicht mehr nötig, seine Gesprächspartner anzuketten, doch auch er zeichnete Wörter der patagonischen Sprache auf. So bestätigte er sich überhaupt erst, dass er tatsächlich mit Patagoniern sprach – die Beschreibungen Pigafettas konnte er ohnehin nicht wiedererkennen.
Hutchinson schließlich identifizierte diese Sprache als Tehuelche. Dafür bediente er sich auch der Vorarbeit Pigafettas und d’Orbignys.
Diese Erkenntnisse sollen nachfolgend zwecks besserer Nachvollziehbarkeit tabellarisch dargestellt werden. Dabei sollen die Aufzeichnungen Pigafettas und d‘Orbignys zusätzlich noch mit dem deutlich aktuelleren Tehuelche-Wörterbuch der “Intercontinental Dictionary Series“ abgeglichen werden:
Bedeutung | Patagonisch laut Pigafetta | Patagonisch laut d‘Orbigny | Tehuelche laut dem IDS |
Kind bzw. Jugendlicher | Calemi | Caclem | tˀaleʔnk |
Auge | Oter | Guter | ‚otl |
Nase | Or | Ho | ‚or |
Mund | Chian | Ihum | ‚kˀonkˀn |
Zahn | For | Jor | ‚or |
Ohr | Sané | Jené | ’šān |
Rücken | Hoii | Hoi | ‚ok |
Hand | Chéné | Chémé | ‚čˀen |
Eigene Darstellung nach Hutchinson (1869) & Intercontinental Dictionary Series (o.D.)

Ist das Ähnlichkeit genug?
Wenn man diese Liste betrachtet, findet man bei etlichen Begriffen eine klare Ähnlichkeit. „Hand“ und „Nase“ wirken in der vorliegenden Pseudo-Lautschrift ähnlich, oder etwa auch „Zahn“. Bei anderen Begriffen fällt es dagegen zumindest auf den ersten Blick schwer: Wer kann ohne weiteres einen gemeinsamen Wortstamm vom „Chian“, „Ihum“ und „’kˀonkˀn“ ausmachen?
Für die unterschiedlichen Schreibweisen kann es aber gute Gründe geben. Nicht zwingend muss dieser Grund darin liegen, dass Angehörige des „falschen“ Volkes befragt wurden.
Zunächst einmal ist gar nicht ganz klar, in welcher Sprache d’Orbigny seine Aufzeichnungen des Patagonischen machte. Seine Berichte verfasste er auf Französisch und es ist naheliegend, dass er auch die lautmalerische Darstellung des Patagonischen in französischer Aussprache niederschrieb. Besser vergleichbar mit Pigafettas Vokabelliste wären sie aber in spanischer Aussprache gewesen.
Dazu kommt, dass die Vokabellisten eben nicht in einer standardisierten Lautsprache gehalten sind, sondern bloß in einer Pseudo-Lautsprache. Würde man solche Worte auf ähnliche Art ins Deutsche übertragen wollen, könnten auch zwei deutsche Muttersprachler zu unterschiedlichen Aufzeichnungen gelangen.

Außerdem muss man festhalten, dass die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe nicht zwingend eine ähnliche Aussprache bedeutet. Nein, auch einzelne Wörter können völlig unterschiedlich sein! So verhält es sich ja schon innerhalb derselben Sprache – man denke wiederum ans Deutsche und seine Unzahl von Dialekten.
D’Orbigny hielt die Ähnlichkeiten jedenfalls für groß genug, um sein Gegenüber als Patagonier zu identifizieren. Der Völkerkundler Hutchinson gab ihm in dieser Hinsicht recht. Auch in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten gab es keinen nennenswerten Widerspruch zu dieser Hypthese. Man kann also davon ausgehen, dass die Tehuelche mit den Patagoniern identisch sind.
Und wer sind dann die Tehuelche?
Der Begriff „Tehuelche“ ist wiederum ein Fremdwort, das seinen Sprechern zunächst unbekannt war. Es stammt nämlich von einem Nachbarvolk der Tehuelche-Patagonier, den Mapuche. Diese mussten sehr beeindruckt von den Tehuelche gewesen sein, denn sie nannten diese „das Tapfere Volk“.
Wenn es Variationen im Tehuelche gab, ist das wenig verwunderlich. Von vorne herein wird diese Sprachgruppe wieder in zwei Untergruppen unterteilt: Gününa’küna, das nördliche Tehuelche und Aónik’enk, das südliche Tehuelche. Dazu kam ein zunehmender Einfluss aus der Sprache der benachbarten Mapuche.
Patagonien in dem Sinne, dass es die angestammten Siedlungsgebiete der Tehuelche darstellen soll, lässt sich nur sehr grob umreißen. Das Gebiet erstreckte sich wohl zwischen der Magellanstraße und dem Rio Negro. In etwa in diesen Regionen reisten die Tehuelche, denn es handelte sich um ein nomadisches Volk.

Dass durch die europäischen – vornehmlich spanischen – Siedler Pferde eingeführt wurden, kam den Patagoniern zunächst zugute. So konnten sie im Vergleich zu früheren Zeit viel leichter reisen, als ihnen noch keine Lasttiere zur Verfügung standen.
Patagonien wurde zugleich immer stärker kolonialisiert. Das kam den Einheimischen dann schon weitaus weniger zugute. Sie hatten die längste Zeit über als Jäger und Sammler gelebt und keine menschgemachten Grenzen gekannt. Die europäischen Siedler aber führten flächendeckende Landwirtschaft und eben solche Grenzen nach und nach ein. Mal ganz abgesehen davon, dass die Tehuelche seit Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend ins Volk der Mapuche assimiliert wurden, ging ihre traditionelle Lebensweise nach und nach verloren.
Aus diesem Grund sind die obigen Absätze auch im Imperfekt geschrieben: Die Tehuelche als Volk existieren heute nicht mehr. Die Stämme oder Familiengruppen verkleinerten sich durch Konflikte mit Siedlern, mangelnde Jagdgründe und allgemeine Assimilation bis zur Auflösung.
Heute würde man also selbst nach der gründlichsten Untersuchung keine Tehuelche-Patagonier mehr finden – ob sie nun Riesen waren, oder nicht.
Teil 1 des Beitrages erschien am 22. Dezember 2022
Teil 3 mit Literaturangaben erscheint am 19. Januar 2023