Die Rhinogradentier, eine klassische Gruppe der Kryptozoologie

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Auf seinen Nasen schreitet
Einher das Nasobem,
Von seinem Kind begleitet.
Es steht noch nicht im Brehm,

 

Es steht noch nicht im Meyer
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
Das erste Mal ans Licht.

 

Auf seinen Nasen schreitet,
Wie schon gesagt – seitdem
Von seinem Kind begleitet
Einher das Nasobem.

 

Christian Morgenstern

 

 

Dies ist die erste Beschreibung eines Nasenschreitlings überhaupt. Wie Christian Morgenstern an ein Exemplar gekommen ist, lässt sich heute nicht mehr lückenlos klären. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er ein verdriftetes Exemplar von einem Matrosen erhalten. Zeitlich passt diese Vermutung, da sich Morgenstern 1895 und 96 unter anderem auf Sylt und Helgoland aufhielt, das Gedicht aber erst 1905 in seinen Galgenliedern erschien.

 

Die Frage der „Leyer“, aus der das Nasobem das erste Mal ans Licht tritt, ist seit über 100 Jahren ein Streitfall der Forschung. Ein gewisser Konsens bezieht sich auf eine Holzkiste, in der das Nasobem transportiert wurde, möglicherweise auch beim Dichter gelebt hat. Die Firma Leyer GmbH belieferte um 1890 geschweißte Ersatzteile aus Metall für den Schiffsbedarf in Holzkisten, die mit dem Schriftzug „Leyer“ gekennzeichnet waren (meist eingebrannte Schrift, teilweise auch aufgeklebte, bedruckte Etiketten).

Herkunft der Morgenstern’schen Nasobeme

Da Morgenstern seine Nasobeme vermutlich von einem Seemann erhalten hat, ist nicht mehr feststellbar, welchen Weg die Tiere genommen haben. 1895 gab es im ostasiatischen Bereich mehrere Kriege, an denen u.a. China, Russland und Japan beteiligt waren. Deutsche Schiffe wurden zwar kaum behelligt. Aber an den dortigen Umschlaghäfen dürften auch Seeleute in großer Zahl gestrandet sein, weil ihren Schiffen die Weiterfahrt verwehrt wurde. Aus purer Not verkauften sie ihr Hab und Gut, so dass die Nasobeme auf diesem Weg an einen deutschen Seemann gerieten. Dieser hat sie auf Helgoland oder Sylt, noch wahrscheinlicher aber in Hamburg an Morgenstern weiter verkauft.

Sicher hingegen ist die zoologische Einordnung. Das Nasobem gehört zur Familie der Nasobemidae, die zu den Rhinogradentiern gehören, die wiederum plazentale Säugetiere sind.

Forschungsgeschichte der Rhinogradentier

  • 1914  sollen Senner im oberen Lötschtal ein Nasobema ferox beobachtet haben. Die Tiere waren damals in den Hochalpen allgemein bekannt und wurden geduldet, da sie sich hauptsächlich von Nektar ernährten und so weder Konkurrent noch Feind der Weidewirtschaft waren. Sie galten 1914 als extrem selten, „in früheren Generationen waren sie allgegenwärtig“ berichtet ein Greis dem Tiroler Anzeiger.
  • 1921 entstand das einzige bekannte Foto eines lebenden Rhinogradentiers. Es zeigt ein Großes Morgenstern-Nasobem Nasobema lyricum auf der Insel Haidadaifi auf dem Hi-Iay-Archipel (Heieiei-Inseln, ehemals deutsches Protektorat).
    Nasobema lyricum, das einzige Bild eines Rhinogradentier
    Das einzig bekannte Foto aus dem Jahre 1921 eines lebenden Nasobems: Nasobema lyricum in seiner natürlichen Umgebung.

     

  • 1939 erwähnt der Zoologe Ernst Ahl vom Naturkundemuseum Berin einen „Nasling“ in einer inoffiziellen Liste abzuarbeitender Neuzugänge. Ahl schreibt hierzu: „Neuzugänge: (…) Nasling aus Südd.?. s. Etikett, fast 50 cm hoch, sehr ungewöhnl. EtOH-Präp. Vorsammlung, Eingang verg. Montg. 21. August 1939.
    Die Vorsammlung, also Tiere, die noch nicht offiziell in die Sammlung des Hauses aufgenommen wurden, wurden im Ostflügel des Berliner Naturkundemuseums Museums gelagert. Ahl wurde kurz nach Eingang des Tieres am 27.08.39 zur Wehrmacht eingezogen und kam vermutlich am 14.02.45 in Jugoslawien ums Leben. Kaum zwei Wochen vorher, war der Ostflügel von einer Bombe getroffen worden und brannte vollständig aus.

Nach dem Krieg: Die Nachweise schwinden

  • 1957 drückte eine geologische Verschiebung den Hi-Iay-Archipel unter die Wasseroberfläche. Alle der Wissenschaft bekannten Arten der Rhinogradentier starben aus.
  • 1982 publizierte der US-Amerikaner Steffen Woas in der carolinea einen Artikel über die Flugfähigkeit von Aurivolans propulsator,. In einem Nebensatz erwähnt er eine Population an einem See im Chequamegon National Forest in Wisconsin, USA. Alle Nachsuchen blieben erfolglos.
  • 1995 entdeckten französische Geologen im Karst bei Le Havre ein unvollständiges Skelett mit Schädel eines noch nicht bestimmten Rhinogradentiers. Angeblich soll das Team sogar ein Foto eines rezenten Doliconasus spec. angefertigt haben. Das Foto ist nicht auffindbar.
  • 2005 wurde bei Bauarbeiten nahe der Bundesautobahn 9 im Rippachtal ein rezenter Nasobemschädel freigelegt.

Eine einzige systematische Untersuchung

Die einzige systematische Untersuchung der Rhinogradentier stammt von Harald Stümpke aus den Jahren 1938 bis 1955. Er besuchte 1938 den Hi-Iay-Archipel und begann, die dort in großer Individuen- und Artenzahl vorkommenden Rhinogradentier zu untersuchen. Da der 1939 ausgebrochene Weltkrieg ihn an der Rückkehr nach Deutschland hinderte (und Deutschland nach 1945 in Trümmern lag, während Hi-Iay nicht betroffen war), nutzte Stümpke die Zeit und erforschte die Nasenschreitlinge sehr intensiv. Hierbei beschrieb er 186 Arten (drei waren schon vorher bekannt, unter ihnen das Große Morgenstern-Nasobem, Nasobema lyricum, dann Nasobema ferox aus den Hochtälern der Alpen und Archirrhinus heckelii, der Ur-Nasling). Für die ungeheure Artenzahl stellte er zwei Unterfamilien und 14 Gattungen auf.

Bemerkenswert lebendige Beschreibung

Die Rhinogradentier haben Stümpke stark beeindruckt. So beschreibt er die Jagd des des einzigen carnivoren Nasenschreitlings auf das Große Morgenstern-Nasobem wie folgt:

 

 

Tyrannonasus imperator ist aus zwei Gründen besonders bemerkenswert: Das Tier ist, wie alle polyrrhinen Arten, nicht besonders schnell zu Nase, immerhin aber ein hurtigerer Schreiter als die Nasobemoiden. Da nun alle polyrrhinen Arten infolge ihres intranasalen pneumatischen Apparates während des Gehens ein pfeifendes Fauchen vernehmen lassen, das weithin zu hören ist, kann sich Tyrannonasus imperator nicht an seine Opfer anschleichen, sondern muß ihnen – da sie schon von weitem fliehen – zunächst still auflauern und dann nachschreiten.

Bei diesem Flucht- und Verfolgevorgang, der auf den Beobachter zunächst wegen des lärmenden Aufwandes und der doch so bescheidenen Geschwindigkeit einen komischen Eindruck macht, muß Tyrannonasus das angestrebte Opfer oft stundenlang verfolgen, um es einzuholen, da Nasobema seinen Lassoschwanz auch zur Flucht verwendet, indem es ihn hochstellt, um Zweige ringelt und sich so über Gräben oder kleine Gewässer hinwegpendeln läßt. Auch dann, wenn der Räuber dem verfolgten Tier schon ganz nah aufgerückt ist, so daß dies ihm durch gewöhnliche Flucht zu Nase nicht mehr entrinnen kann, benutzt Nasobema dieses letzte Mittel oft noch mit Erfolg, indem es – mit dem Schwanz an einem Ast hängend – dicht über dem Boden im Kreise oder in weiten Pendelschwingungen hin- und herschwingt, bis der Räuber bei seinen dauernden Versuchen, die Beute zu haschen, schließlich schwindelig wird und sich erbricht. In diesem Augenblick der Desorientierung des Räubers entweicht dann oftmals das Nasobema.“

 

Leider sind alle Rhinogradentier ausgestorben

Leider starben die Nasenschreitlinge Mitte des vergangenen Jahrhunderts aus. Der High-Iay-Archipel versank 1957. Die geologischen Prozesse, die vermutlich von einer unterirdischen Atomexplosion ausgelöst wurden. Mit dem Absinken gingen auch alle bekannten Rhinogradentier verloren.

 

 

Unklar ist, ob Stümpke das Rhinogradentier-Exemplar, das Ernst Ahl 1939 in Händen hielt, per Post ans Naturkundemuseum in Berlin schickte. Stümpke hatte das Wissen und die Möglichkeit, 1938 Nasspräparate auch von größeren Tieren herzustellen und postfest zu verpacken. Für ihn als Biologen und Deutschen war das Berliner Museum mit Sicherheit die erste Adresse, an die er ein ungewöhnliches, „neues“ Tier verschickt hätte.

 

Ergänzend ist Ahl nicht unbedingt als korrekter Dokumentar und sorgfältiger Sammlungsverwalter bekannt. Im werden zahlreiche Fehler in den Sammlungsbüchern und falsch eingeordnete Probenbehälter zugeschrieben. So könnte sich auch der Zusatz „aus Südd.?“ auf seiner Arbeitsliste erklären: Stümpke stammt aus der Karlsruher Gegend, für den Berliner Ahl sicherlich „Süddeutschland“.

Was ist auf Low-Iay?

Der Nachbar-Archipel Low-Iay existierte im Jahr 2004 noch. Reisen dorthin sind allerdings aufgrund der abgelegenen Lage praktisch unmöglich. Hierzu kommt eine extrem protektionistische Außenpolitik des Gebietes: Privatyachten dürfen die Dreimeilenzone der Insel nicht verletzen und werden bei den Versuchen regelmäßig von einer gut ausgerüsteten Küstenwache abgefangen. Versorgungsschiffe müssen 1 sm vor dem Hafen der östlichsten Insel auf Rede gehen und Güter auf Landungsboote umladen. Offiziell gilt dies dem Schutz vor Schädlingen, in erster Linie Ratten und Katzen.

Bis auf wenige Ausnahmen wird Ausländern verwehrt, das Schiff zu verlassen. Alle Formalitäten, z.B. bei der Einfuhr von Waren, werden an Bord des Schiffes erledigt. Selbst medizinische Notfällen werden immer an Bord des Schiffes behandelt.

 

Im Gegenzug dazu verlassen nur wenige Einwohner von Low-Iay ihre Heimat. Sie sprechen von einer technisch hoch entwickelten Gesellschaft, vergleichbar der in Mitteleuropa. So wurden fossile Brennstoffe bereits in den 1980-ern durch Biokraftstoff und Power-to-Liquid ersetzt. Dies machte das Land unabhängig vom Welthandel und ließ es unter den Horizont der Bedeutungslosigkeit sinken. Die zahlreichen kleinen Inseln bedingen eine moderne Dorfgesellschaft, die hauptsächlich von Gartenbau, Subsistenzfischerei und gegenseitigen Dienstleistungen lebt. Der Archipel betreibt Außenhandel nur in geringem Maße. Die wichtigsten Importprodukte sind Farben, Medikamente, medizinische Geräte und Musikinstrumente. Die einzigen Ausfuhrprodukte sind Platin und Iridium. Die Inselbewohner gewinnen diese Metalle in einem kleinen Steinbruch in Lesearbeit.

 

Von auf Low-Iay lebenden Tieren ist so gut wie nichts bekannt. Gerüchten zufolge soll es einige primitive Rhinogradentier dort geben.

 

 
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Leben und Bau der Rhinogradentier

Naslinge sehen nicht nur eigenartig aus. Sie zeigen auch Verhaltensweisen, die im Tierreich sonst nicht bekannt sind. (…) Leider ist diese interessante Tiergruppe bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausgestorben – lange, bevor alle Details ihrer Biologie erforscht waren. Das Südsee-Archipel Heieiei, auf dessen Inseln die Naslinge lebten, versank in Folge atomarer Sprengversuche im Meer.

 

Bau und Leben der Rhinogradentia ist im Spektrum Akademischer Verlag erschienen. Die erste Auflage ist von 1961, die aktuelle Auflage hat 100 Seiten im Taschenbuchformat und ist nur noch antiquarisch zu bekommen. Es ist eines der wenigen naturwissenschaftlichen Fachbücher, die zunächst auf Deutsch erschienen sind.

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