Freitagnacht-Kryptos: Die Entführung der Marie Delex

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Einer der bekanntesten Vorfälle, bei denen ein Adler ein Kind geraubt haben soll (siehe auch André Kramers interessanten Beitrag: hier), ereignete sich in den Schweizer Alpen. Der Fall ist vor allem deshalb bekannt, weil er in die Sammlung „Das rechnende Pferd von Elberfeld“ von Bob Rickard und John Michell aufgenommen wurde, die 1983 bei Econ erschien.

Königsadler entführt Marie Delex
Stich zur Entführung von Marie Delex.

Beim Versuch, näheres über diesen Vorfall zu erfahren, wurde ich enttäuscht – alle Texte, die man aufspüren kann, sind mit dem Text in Rickards und Michells Buch identisch (allerdings in leicht unterschiedlichen Wortlauten übersetzt).

Lorenz Oken nimmt sich des Falles an

So lesen wir zum Beispiel in Lorenz Okens Zeitschrift „Isis“ 1839 in Spalte 597 (er selbst hat, wenn ich mich nicht irre, den Text entnommen aus: „L’Institut, Journal général des sociétés et travaux scientifiques de la France et de l’Etranger“, erstes Supplement 1839):

 

 

„S. 1 [des monatlichen Supplements]. Die Adler auf den Alpen werden beschuldigt, Lämmer, Ziegen und selbst Kinder zu rauben, besonders der Lämmergeyer, welcher jedoch zu schwache Füße haben soll; daher glaubt man, es möge der Kaiseradler (Falco imperialis Temminck.) und der Königsadler Aigie royal (Falco fulvus T.) seyn, welche viel stärkere Beine und Krallen haben. Professor Schinz von Zürich hat folgendes an Moquin Tandon zu Toulouse berichtet.

Marie Delex wird geraubt

Zwey Kinder, Maria Delex, 6 Jahr alt, und Marie Lombad, spielten mit einander in den Felsen von Alessa im Wallis, als sich ein Falco fluvus auf die kleine und schwache Marie Delex stürzte und sie mit in die Luft nahm. Auf das Geschrey ihrer Gespielinn liefen die Bauern herbey, suchten das Kind vergebens und fanden nur einen Schuh an einem hohen Absturz, einen Strumpf auf einem Strauch. Nach langem Suchen entdeckte man den Horst des Adlers mit 2 Jungen und vielen Knochen von Ziegen und Schafen, aber nichts von einem Kind.

 

Endlich am 13. August fand ein Hirt die Leiche des Mädchens auf einem Felsen, eine halbe Stunde vom Orte des Raubs. Die Kleider und die Glieder waren zerrissen, Schuh und Strümpfe fehlten. Man spricht von dem Raub eines andern Kindes in Wallis, welches durch einen Adler weit fortgetragen wurde, auf einen Felsen des Stockhorns.“

 

Nur eine einzelne Quelle

Zu Lorenz Oken gab es hier bereits einen Artikel. Offenbar haben Rickard und Michell eine englische Übersetzung des gleichen französischen Ursprungstexts als Quelle verwendet.

 

Ich habe den Raubvogel, der die unglückliche Marie Delex packt, in vielen Sprachen entdeckt, stets aber war der Text identisch. Falls es zusätzliche Informationen geben sollte, dann müssen diese in lokalen Archiven auf einen Spürhund warten. Es scheint, als sei die einzige Quelle für diesen Vorfall der Brief von Professor Schinz.

Steinadler
Der Steinadler ist an seiner charakteristischen weißen Flügelzeichnung und dem runden Schwanz zu erkennen

Derselbe kleine Abschnitt taucht unter anderem auf in:

  • Le Globe: archives générales des sociétés secrètes 1839, S. 31
  • Félix Archimède Pouchet: The Universe: Or, The Infinitely Great and the Infiniely Little. 1876, S. 174
  • Jules Duhem: Histoire des idées aéronautiques avant Montgolfier. 1943, S. 64
  • Janet und Colin Bord: Alien Animals. 1980, S. 112–113
  • Bob Rickard und John Michell: Das rechnende Pferd von Elberfeld. 1983, S. 251–252

Anm. d. Red.: Den im Text zitierten „Königsadler“ gibt es im Deutschen nicht. Es scheint hier eine Fehlübersetzung des französischen „Aigle royal“ vorzuliegen, gemeint ist der Steinadler. Dieser kommt im Wallis vor.
Der Kaiseradler kommt allerdings in den Alpen nicht vor. Die wissenschaftliche Bezeichnung Falco fulvus deutet auf das heute Gyps fulvus genannte Tier, den Gänsegeier hin.

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