Die Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg gehaltenen Vorträge 1860 (erschienen 1861, S. 5–12) enthalten einen Vortrag von Dr. H. Hagen am 2. März 1860. Der Text rekapituliert die Geschichte der Seeschlange, geht aber auch auf eigene Nachforschungen des Referenten ein:
„Dr. H. Hagen hielt einen Vortrag über die Seeschlange, der im Wesentlichen Folgendes enthielt: Da die Seeschlange sich nur bei ruhigem und heiterem Himmel zeigt, wurde ihr Erscheinen mit gänzlicher Stille am politischen Horizont gleichbedeutend, und seit diese Meinung Fuss gefasst, sehr wahrscheinlich auch in der Tagespresse mit. diesem dankbaren Gegenstande Missbrauch getrieben. Vorzugsweise in Misskredit brachte sie jedoch der Umstand, dass ein beträchtlicher Theil der Nachrichten über ihr Erscheinen in letzter Zeit aus Nord-Amerika und seinen als lügenhaft verrufenen Zeitungen stammt. Nehmen wir hinzu, dass bis jetzt ein derartiges Thier weder lebend, noch todt in die Hand des Menschen gelangte, und meines Wissens selbst kein namhafter Naturforscher Gelegenheit gehabt hat es zu beobachten, so scheint der Zweifel an die Existenz jenes Thieres allerdings gerechtfertigt zu sein.
Eigene Recherche
Ein mehrmonatlicher Aufenthalt in Norwegen gab mir Gelegenheit mancherlei über die Seeschlange zu hören und eine Anzahl glaubwürdiger Leute zu sprechen, die das fragliche Thier selbst gesehen hatten. Leider ward mir nicht das Glück zu Theil es selbst beobachten zu können, obwohl ich in Gegenden, in welchen es vorzugsweise häufig angetroffen wird, nämlich in Christiansund und Melde fast zwei Monate verweilte, und täglich weite Exkursionen zu Boote machte. Brieflicher Mittheilung zufolge fügte es das neckische Schicksal, dass wenige Wochen nach meiner Abreise das Thier in Christiansund [heute: Kristiansund] gesehen wurde.
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Dies war ungefähr der Stand unserer Kenntnisse über die Seeschlange, als ich Norwegen bereiste. Wie schon Pontoppidan bemerkt, war es unschwer eine Anzahl Augenzeugen in den nördlichen Küstengegenden zu ermitteln, es waren darunter zwei Fischer, verständige Leute mittlern Alters, mehrere sehr gebildete und kenntnissreiche Kaufleute, ein Arzt, ein Landrichter, ein Schuldirektor und ein Theologe. Dass in jenen Gegenden die Verbindung zwischen den Ortschaften sich am leichtesten, oft sogar nur allein zu Wasser vermittelt, erklärt die Häufigkeit der Beobachtung durch gebildete Leute. So liegt die Stand Christiansund auf drei Inseln, die durch so breite Meeresarme getrennt sind, dass bei stürmischem Wetter jede Verbindung unmöglich ist und im Winter 1838 ein Wallfisch mitten durch die Stadt schwimmen konnte.
Die Zeugenaussagen variieren
Die angeführten Zeugen wichen bei ihrer Beschreibung in Einzelheiten allerdings nicht unbeträchtlich ab, in der Hauptsache stimmen aber alle überein. Das gesehene Thier hatte die allgemeinen Verhältnisse einer Schlange, von 44–60 [12–18 m], in einem Falle 100 Fuss [30 m] Länge, und bewegte sich schnell in senkrechten Windungen. Der ziemlich stumpfe Kopf hinten mit einer Mähne versehen, war etwas über das Wasser gehoben. Die Augen gross, rund, glänzend, nach einer Angabe roth. Die Farbe der glatten Haut dunkelbraun. Ein offenes Maul oder Zähne hatte Niemand beobachtet. Stets erschien das Thier im Sommer bei ganz ruhiger See, und verschwand beim leisesten Windstoss. Die Entfernung der Beobachter war zum Theil sehr gering, einmal 30 Fuss und in einem Falle sogar nur 6 Fuss. In diesem letzten Falle war das Thier dem Boote eines mit Angeln beschäftigten Fischers dicht vorbei geschwommen, und hatte dabei das vorher spiegelglatte Wasser so in Schwanken versetzt, dass das Boot schaukelte. Kurze Zeit darauf schwamm das Thier in gleichnaher Entfernung nochmals beim Boote vorüber. In einem Falle hatte man vergeblich auf das Thier geschossen.
„Nicht aus dem Reiche der Fabel“
Dies sind der Hauptsache nach die Angaben, die ich selbst in Norwegen über jenes Thier vernahm. Zu einer sichern Deutung allerdings nicht genügend, gewährten sie doch in einer Hinsicht ein sicheres Resultat, nemlich die feste Ueberzeugung, dass die Existenz eines noch unbekannten riesigen Seethieres an jenen Küsten nicht in das Reich der Fabel gehöre. In den seit meiner Reise verflossenen Jahren haben sich die Berichte wesentlich gehäuft. Für die, welche die Seeschlange nur als Lückenbüsser, wenn in der Welt eben nichts anderes geschieht, betrachten, bemerke ich, dass gerade aus dem politisch wirren Jahre 1849 sehr umfangreiche Angaben vorliegen, unter denen eine Beobachtung auf dem englischen Kriegsschiffe Daedalus eine genaue Sichtung des Materials durch einen der tüchtigsten Forscher Owen veranlasste.“
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Literatur:
Schriften der Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg gehaltenen Vorträge 1860