Kielwellen als Seeungeheuer

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Wer Beobachtungen von Kryptiden bewerten will, sollte die häufigsten Anlässe für Verwechslungen und Fehleinschätzungen kennen. Bei Ungeheuern in Seen sind das – neben Vögeln und Fischen – in Nordamerika schwimmende Elche und am Loch Ness schwimmende Pferde, Rehe und Seehunde. Den Löwenanteil bei Fehldeutungen allerdings stellen Wellen, die man für die Höcker von Nessie oder einer Seeschlange hält.

 

Neben vom Wind gestörter Seeoberfläche, die schon Auslöser für Ungeheuersichtungen war, sind Kielwellen von Booten, so unwahrscheinlich es klingt – und manche uninformierten Kryptozoologen lehnen es ganz ab –, für fast 80 Prozent aller Monstersichtungen in Seen verantwortlich.

 

Es gibt dabei zwei Arten von Kielwellen zu unterscheiden: zunächst das einfache Kielwasser von Motorbooten. Diese V-förmige Welle wirkt, aus Bodenniveau betrachtet, wie ein sich windender, schwarzer Wurm, der sich unter der Wasseroberfläche ringelt. Charakteristisch sind Beschreibungen wie „wurmartig“, „raupenartig“ oder „der Höcker wurde zu zwei“. Je höher Menschen am Seeufer stehen, desto leichter wird das V der Welle erkennbar. Kielwasser kann noch eine halbe Stunde, nachdem das Schiff vorbeigekommen ist, sichtbar sein. Schließlich bewegt sich jeder der beiden Arme auf das Ufer zu.

Boot im Meer
Dieses Boot zeigt beide Formen der Kielwellen deutlich

Dazu kommt – zumindest am Loch Ness und an anderen langen, schmalen Seen – die Erscheinung des reflektierten Kielwassers. Hier werden die beiden Arme der Kielwelle, sobald sie am Ufer angelengt sind, durch die physischen Prozesse auf den See zurückgeworfen, wandern zur Seemitte zurück und erzeugen dort, wenn sie aufeinandertreffen, eine Reihe von schwarzen Wellen. Eine solche Welle kann noch sehr lange nach der Passage eines Schiffes auftreten, zudem bewegt sie sich in die entgegengesetzte Richtung.

Loch Ness und die Boote

Henry Bauer (um stellvertretend einen Autor zu nehmen, ähnliche Darstellungen finden sich in den meisten der besseren Bücher über das Ungeheuer von Loch Ness) schreibt: „Die Kielwellen hinter Schiffen erzeugen ebenfalls verblüffende und geheimnisvolle Effekte, weil sie sich entgegen der herrschenden Wellenformationen bewegen. Diese Bootswellen überdauern eine unglaublich lange Zeit – man muss es gesehen haben, um es zu glauben –, weil sich die Arme des Kielwassers über viele Meilen des Lochs seitwärts bewegen, und das noch lange, nachdem das Boot oder Schiff längst aus dem Blick verschwunden ist. (Es dauert bis zu zwanzig Minuten, bis das Kielwasser eines Bootes ans Ufer klatscht).“ (Bauer 1986, S. 56)

Das Foto von Jessie Tait von 1969

Um es am Beispiel zu demonstrieren: Sowohl eine Aufnahme der Expedition, die Sir Edward Mountain 1934 auf der Suche nach Nessie an den See führte, wie auch das Foto der Touristin Jessie Tait aus dem Jahr 1969 sollen Nessie zeigen, es handelt sich aber um einfaches Kielwasser (das Boot ist beide Male – absichtlich? – nicht fotografiert worden).

Wellen im Wasser
Das oben im Text beschriebene Bild von Sir Edward Mountain, 1934

Es muss im Übrigen nicht immer ein Motorboot sein – je nach Zustand der Seeoberfläche reicht schon ein Vogel, dessen Kielwasser Nessie-Alarm auslöst. Ein Mr. W. R. Cumming berichtete dem Zoologen Maurice Burton: „Ich sah schweres Kielwasser oder eine Welle, wie sie gewöhnlich ein Motorboot macht, und dachte: ‚Wenn ich jetzt um dieses felsige Halbinsel komme, sehe ich vermutlich das Ungeheuer.‘ Aber als ich um die Ecke bog, sah ich bloß ein paar Schwäne. Auf dem glatten Wasser erschienen die Wellen sehr viel mächtiger, als ihr Ursprung denken ließe.“ (Burton 1961, S. 105).

Schwarze Schwäne
Nicht nur Schiffe hinterlassen ein Kielwasser, Wasservögel können das auch.

Henry Bauer, bei weitem kein Skeptiker, erlebte die Täuschung selbst: „1958 sah ich eine Seeschlange im Indischen Ozean, eine Reihe schwarzer Höcker, viele Meilen vom Schiff entfernt, und am ganzen Horizont nicht die Spur eines anderen Schiffs. Es konnte sich also um keinen Welleneffekt durch Kielwasser handeln. Dann nahm ich einen Feldstecher und sah ein weiteres Schiff, viele Meilen von uns und von der ‚Seeschlange‘ entfernt. Letztere war, durch die Gläser betrachtet, deutlich auf den Zusammenprall von Kielwasser und Meereswellen zurückzuführen.“ (Bauer 1986, S. 55f)

Manche Nessie-Sichtungen, bei denen der Auslöser nicht erkannt wurde, sind perfekte Beschreibungen eines Kielwassers.

Es gibt zahlreiche Beobachtungen, die Kielwasser betreffen

Am 24. August 1933 erblickten drei Frauen vom Auto aus bei Dores das Ungeheuer im See: „Ein Schlepper dampfte nach Inverneß zu, der ein auffallend langes Kielwasser hinterließ. Bei näherem Zusehen stellte sich heraus, daß dieses Kielwasser auf eine beträchtliche Strecke unterbrochen war. Auch zeigte sich nun eine Reihe von Buckeln, die den Seespiegel überragten. Sie bewegten sich langsam auf und nieder, so wie man es bei kriechenden Raupen beobachten kann.“ Aber: „Auf meine Frage antwortete deren Schiffer J. Main, daß […] von ihm und seinen Leuten sei X [das Monster] nicht gesichtet worden.“ (Gould 1935, S. 149)

 

Am 30. Dezember 1933 sah W. U. Goodbody in 400 m Entfernung nahe Fort Augustus mehrere Höcker oder Rückenfinnen: „Ihre Zahl wechselte. Zeitweilig sahen wir 8 bis 9. Die Bewegungen des Tieres waren durchweg träge.“ (Gould 1935, S. 161)

 

Arlene Gaals Bücher über den Ogopogo, das Ungeheuer des Lake Okanagan in Kanada, enthalten jeweils einen Fototeil, der ausschließlich Fotos von Kielwasser enthält, das die rührige Dame als Monster deutet. Manchmal sind sogar noch deutlich die beiden divergierenden Linien zu sehen, die das V bilden.

 

 

Bei diesem Foto erkennt man sogar noch die beiden Wellenlinien, die das V bilden und die eine hinter der anderen fotografiert wurde (die sichtbaren angeblichen Höcker überlappen sich).

 

Filme der „Seeungeheuer“

Aber da fast monatlich irgendwo in der Welt ein Seeungeheuer gefilmt wird, lassen sich rasch Video-Beispiele finden, die das Phänomen anschaulich machen. Jedes der folgenden Filmchen zeigt eindeutig Kielwasser, wurde aber als Seeungeheuer wahrgenommen und als solches auch veröffentlicht.

China

Im chinesischen Hanas-See nahm der Tourist Wang Xin’an in der zweiten Juniwoche 2018 die Höcker eines Monsters auf. Wieder – wie bei den Beispielfotos vom Loch Ness – nehmen sie den ganzen Horizont ein, man kann also das Schiff nicht sehen, das sie ausgelöst hat. Wang Xin’an jedenfalls filmte begeistert und hielt das, was er sah, definitiv für das örtliche Monster. Man sieht aber eindeutig die Wellen und ihre sich brechenden Kämme.

 

 

Loch Ness – der Klassiker unter den Seen, die ein Ungeheuer beheimaten

Ein Tourist, der am Ufer des Loch Ness ein Sonnenbad nahm, filmte das Monster Mitte August 2018 mit seinem Handy. „Es war sechs Meter lang und tauchte auf und ab. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah!“ Wieder ein Kielwasser, und hinter den schräg verlaufenden ersten Wellenarm kann man aufgrund der Sonnenreflexe auch den zweiten Arm noch sehen.

 

 

 

Mitte April 2019 filmte der 36-jährige Rory Cameron aus Drumnadrochit „Nessie“. Das Tier war weit entfernt, und Cameron, der seit 20 Jahren am See lebt, war völlig aus dem Häuschen. Dennoch zeigt das unscharfe Bild ein großes, vorn spitz zulaufendes Objekt vor den Wellen, das zudem auffällig weiß ist – ein Motorboot, das die Wellen erzeugt.

 

 

Kanadas Nessie: der Ogopogo

Das nächste Beispiel stammt vom Lake Okanagan. Im September 2018 filmten David und Keith Halbauer einen Arm einer Bootswelle, der schließlich ans Ufer schlug. Sie hielten die Welle für „einen Dinosaurier“ oder „eine 15 Meter lange Riesenschlange“.

(Dieses Video können wir aus technischen Gründen nicht einbinden. Der folgende Link öffnet es in einem eigenen Fenster. Sorry. Die Redaktion)

 

Videolink: David Halbauer says he saw Ogopogo

 

 

Am 10. Juli 2018 filmte Blake Neudorf ein „mindestens 18 Meter langes Wesen, das sich im See wälzte“. Bei Minute 1:18 wendet sich das Boot, das das Kielwasser erzeugt, hinter der Landzunge und wird sichtbar. Nun erkennt man deutlich, dass es das Monster verursacht.

 

 

 

Ist eine Seeoberfläche sehr ruhig (so still wie ein Mühlteich, wie Nessie-Zeugen gerne sagen), können störende Wellen extrem groß werden. Bei diesem Video, das Jim La Rocque am 1. Juni 2019 auf dem kanadischen Skaha Lake aufnahm, ragen die Wellen hoch und brechen sich anschaulich, weil sie so hoch geworden sind, dass sie einen spitzen Kamm bilden, der in sich kollabiert. La Rocque hielt das Gesehene für ein Monster, das er auf 36 m Länge schätzte, also größer als einen Blauwal. Sein Video wurde am 12. Juni hochgeladen, im Hintergrund sieht man deutlich den zweiten Wellenarm und später ein Schnellboot.

 

 

Der Limnologe Robert Young von der University of British Columbia kannte das Phänomen und hielt die Welle für eine interne Seiche, eines in allen größeren Seen vorkommenden Phänomens. (Zur Erklärung siehe hier: Seiche)

Lago Nahuel in Argentinien

Das letzte Beispiel stammt vom Nahuel Huapi in Argentinien und vom Januar 2020. Wieder sieht man deutlich, dass die Höcker Wellen sind und keine Schlingen eines Tieres.

 

Fazit

Die Menge an Videos, die Kielwellen zeigen, belegen, wie häufig sie für ein Monster gehalten werden. Man kann sich mit diesen falschen Sichtungen vertraut machen, um in Augenzeugenberichten die verräterischen Details aufzuspüren, die eine solche Verwechslung andeuten. Oder man setzt sich an den Bodensee oder den Rhein oder ein erreichbares, ähnliches Gewässer, und betrachtet (und filmt) das Kielwasser von Frachtern, Motorbooten und Jet-Skis. Das macht es dem nächsten Video einer Kielwelle schwerer, als Nessieaufnahme durchzugehen.


Literatur:

Burton, Maurice: The elusive monster: an analysis of the evidence from Loch Ness. Rupert Hart-Davis: London 1961

 

Gould, Rupert T.: Begegnungen mit Seeungeheuern. Grethlein: Leipzig 1935

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