Freitagnacht-Kryptos: Kojoten in England?

Lesedauer: etwa 9 Minuten
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Der letzte Wolf der britischen Inseln wurde 1743 erlegt, seit dem gilt der Rotfuchs als einziger wilder Hundeartiger im Königreich. Aber stimmt das wirklich?

Im Sommer 1884 wurde im „Land and Water Magazine“ ein Artikel veröffentlicht. Dieser enthielt einen von Mr. A. D. Bartlett, Superintendent der Zoologischen Gärten London.

Mr. Bartlett schreibt:

„Vor einiger Zeit hat mich ein Gentleman in den Gärten angesprochen und angeboten, der Gesellschaft ein Tier vorzustellen, von dem er glaubte, es sei ein Präriewolf. Er erwähnte einige Einzelheiten bezüglich seiner Geschichte, die mich veranlassten, sein Angebot nicht sofort anzunehmen, aus Angst, dass sich das Tier als nutzloser Mischling erweisen könnte. Dabei fragte ich nach seiner Adresse und versprach, das Tier anzusehen.

Dementsprechend fuhr ich nach Leytonstone und erkundigte mich bei meiner Ankunft nach Mr. R. Payze und fand den Herrn, der das fragliche Tier freundlicherweise angeboten hatte. Er freute sich sehr, mich kennenzulernen und zeigte mir ein Tier, das ich sofort als Präriewolf (Canis latrans) aussprach.“ (Canis latras wird heute allgemein als Kojote bezeichnet)

Kojote
Ein Kojote ruht.

Plan des Londoner Zoos von 1862
Lageplan des Londoner Zoos von 1862

 

Mr. Payze berichtete folgendes:

„Im Mai letzten Jahres erzählten ihm einige Männer, die mit Wagenladungen Heu auf dem Weg nach London waren, dass sie drei Fuchsjungen in einen Teil von Epping Forest gefunden oder gefangen hatten. Sie hatten sie in einem Sack am Heck des Wagens festgebunden hatten. Er glaubte, sie seien Fuchsjungen, kaufte einen von ihnen für ein paar Schilling, und die Männer machten sich auf den Weg nach London. Das Tier war zu dieser Zeit so klein, dass es in ein Pint-Glas* gepasst habe.“

Superintendent Bartlett fährt fort:

„Ich habe allen Grund zu der Annahme, dass die folgende Erzählung vollständig erklären wird, was sonst ein Rätsel bleibt: Mr. Payze stellte mich Mr. Swan vor (der früher ein Diener von Colonel Howard war), und er erzählte mir, dass vor einigen Jahren vier Jungen in einem Schiff von Mr. J. R. Flethcher von den Union Docks nach England gebracht wurden.

Man brachte die Jungen in einer Kiste nach Hause und bewahrte sie einige Tage im Colonel Howard‘s, the Goldens, Loughton, auf. Mr. Fletchcher ließ sie dann zu dem mittlerweile verstorbenen Mr. Arkwright, dem damaligen Master of the Essex-Hunt, bringen.

Man ließ die Jungen auf Marls Farm, beim Ongar Wood, der wiederum an den Epping Forest grenzt, frei. Der Mann Swan war Zeuge.  Ich wurde auch darüber informiert, dass von Zeit zu Zeit ein Tier, das wie ein großer grauer Fuchs ausgesehen haben soll, gejagt, aber nie gefangen wurde und immer in den Wald flüchtete. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es im Wald noch einige Tiere der gleichen Art gibt. Diese Wolfsart ist nicht viel größer als ein männlicher Fuchs und riecht anders, als ein Fuchs, sonst würde er von Foxhounds über große Entfernung verfolgt und getötet. “

 

In dem Artikel des „Land and Water Magazine“ heißt es weiter, dass ein Journalist Herrn Superintendent Bartlett bei einem Besuch in Epping Forest begleitete. Er versuchte, die Geschichte zu verifizieren. Die Gespräche mit Mr. Swan und den anderen Zeugen ließen kaum Zweifel an ihrer Wahrheit.

Begum, ein Panzernashorn
Tierhaltung in den 1880ern im Londoner Zoo: Begum, ein Sumatra-Nashorn

Beatrix Potter mit ihrem Hund
Beatrix Potter mit ihrem Hund im Frühjahr 1913

Bemerkenswert an der Sache ist die Möglichkeit, dass Kojoten zumindest eine Weile in dem Wald weiter gelebt haben können. Autorin Beatrix Potter erwähnt sie in ihren Zeitschriften.

Realitätscheck!

Dieser Bericht stammt vom britischen Blog „Theory of everything“. Da dieser Blog keinerlei Quellen außer dem „Land and Water Magazine“ und Beatrix Potter angibt, ist eine oberflächliche Realitätsprüfung notwendig. Die schriftliche Korrespondenz der Superintendents des Londoner Zoos wird mit Sicherheit im Londoner Zoo oder in British Museum aufbewahrt. Da ist sie leider so einfach nicht zugänglich.

 

Historische Veröffentlichungen

Das „Land and Water Magazin“, später nur „Land and Water“ erschien seit dem Jahr 1862. Wirklich bekannt wurde die Zeitschrift allerdings erst 30 Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen, als sie unter Chefredakteur James Murray Allison begann, den 1. Weltkrieg zu kommentieren. Ein Archiv der Zeitschrift konnte ich während meiner Websuche nicht finden.
Auch im British Newspaper Archive war die Zeitschrift erwartungsgemäß nicht finden. Da es sich um ein Magazin handelt, ist es kein Wunder. Dafür gibt es einen anderen Treffer:

Im Essex Standard vom 1. November 1884 findet man allerdings einen etwas kryptischen Artikel:

Ein Mr. Ffannell (tatsächlich mit Doppel F, Doppel N und Doppel L) schreibt, es gäbe eine Untersuchung über die Herkunft eines Tieres in Zoo im Regent’s Park, das als „Prairie Wolf (Canis latrans) captured in Epping Forest.“ deklariert sei. Dies reicht natürlich nicht aus, um die Richtigkeit der Story zu belegen, aber ist ein erster Hinweis.

Der Ort des Geschehens

Der zweite Ansatzpunkt ist der Epping Forest selbst. Auch heute noch ist der Epping Forest ein waldreiches Gebiet im Norden Londons. Es wird heute von zwei Autobahnen begrenzt und von vielen Straßen durchzogen. In seiner Geschichte ist der Epping Forest nie vollständig gerodet worden, sondern wurde hauptsächlich als Waldweide und zur Gewinnung von Holzkohle genutzt. Von den Tudors, bis zur Regierungszeit von Elisabeth I. wurde er auch als Wald für die Parforcejagd genutzt. 1884 wurde er fast 300 Jahre nicht mehr dazu genutzt, aber war immernoch ein eher lichter Wald mit dichtem Unterholz, was auch bis heute so geblieben ist. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde dort immer wieder Holz für Holzkohle geschlagen, was zur offenen Struktur beitrug. Für Kojoten sicher kein schlechter Lebensraum.

Die genannten Orte liegen in der beschriebenen – und logischen – Abfolge: Der Epping Forest liegt als langes, schmales Band im Nordosten des heutigen Londons, 1884 muss er noch im ländlichen Bereich gelegen haben. Er ist etwa 40 km lang und nie breiter als 4 km. Leytonstone ist quasi der südliche Eingang zum Epping Forest, genau der Ort, an dem ein Gentleman residiert hätte, der mit dem Forest beruflich zu tun hatte. Loughton liegt etwa 10 km weiter im Norden, am Rand des Epping Forest, der ideale Ort für eine Forstverwaltung, wie den „Master of the Essex Hunt“. Im Norden und Nordosten an den Epping Forest schloss sich der Ongar Wood an, der heute fast komplett in Feldern aufgegangen ist. Der Ort Ongar trägt noch seinen Namen.
Die kurze Websuche findet weder das „Colonel Howard‘s, the Goldens“, wobei es sich vermutlich um einen Land-Pub handet, noch Marls Farm. Dies ist nach über 100 Jahren aber auch kein Wunder.

Beatrix Potter

Wenn jemand Prominentes wie Beatrix Potter als Zeugin herangezogen wird, ist es oft einfacher, einen Zusammenhang zu bestätigen oder zu falsifizieren. Beatrix Potter war, wie viele Frauen aus besserem Hause naturwissenschaftlich gebildet und hatte ein großes zeichnerisches Talent, das mit einem Auge für Details einhergeht. Sie wäre zweifellos eine gute Zeugin gewesen.  Doch war sie 1884 in London bzw. beim Epping Forrest?
Beatrix Potter war 1884 18 Jahre alt, nach britischem Brauch eine junge Frau, deren Ausbildung abgeschlossen war. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt viel Müßiggang und kam sicher während der „Saison“, der Monate, die sich ihre Familie in London aufhielt**, sowohl in den Londoner Zoo, wie auch an den Epping Forest. Wenn es im Zoo Kojoten gab, dann hat Beatrix sie auch gesehen.

Leider ist im Rahmen dieser Recherche nicht feststellbar, wann Beatrix Potter von dem Kojoten berichtet. Ob es sich um einen Tagebucheintrag ihrer Londoner Jahre handelt oder ob sie später, als sie sich im Lake District mit der Schafzucht befasste, darauf zurückgriff.

 

Der Londoner Zoo

Doch hatte der Londoner Zoo in dieser Zeit Kojoten? Aus mir nicht genau erklärlichen Gründen sind Kojoten keine beliebten Zootiere. Derzeit werden in Deutschland keine Kojoten gepflegt, in Europa nur in einem einzigen Zoo in Frankreich. Für den Zoo London finde ich in der Zootierliste einen Eintrag von 1843/1844 ohne ein Ende. Die Zoo-Erstzucht wird für 1909 angegeben. Kojoten können in Zoos maximal 16 Jahre erreichen, wenn ein Import von Jungtieren 1844 erfolgte, sind sie spätestens 1860 gestorben. Auch hier gilt leider: Die Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, die der Zootierliste zugrunde liegen, sind nicht immer vollständig. Vermutlich wurden damals eher die „teuren“ und „exotischen“ Importe vermerkt, als einen seltsamen Wildfang „aus der Nachbarschaft“. Es ist also nicht völlig auszuschließen, wie Mr. Ffannell (der mit den Doppelkonsonanten) vermerkte, ein Kojote im Londoner Zoo lebte.

Die zeitliche Koinzidenz, im Sommer eines Jahres vor 1884 soll jemand Kojotenbabies importiert haben. 1884 wurden im Epping Forest Kojotenbabies gefunden und verkauft. Im Herbst ist ein Kojote als Wildfang im nahe gelegenenn Londoner Zoo zu finden. Kojoten werfen Ende April bis Anfang Mai. Wenn das Tier im November des selben Jahres im Zoo gezeigt wurde, müssten dann allerdings deutliche Jungtiermerkmale zeigen. Da auch die bessere viktorianische Gesellschaft den Umgang mit Hunden gewohnt war, müssten die Beobachter, unter anderem Mr. Ffannell etwas bemerkt haben.

Ein weiterer Punkt: Dem Autor von Theory of Everything ging es eher um eine wildlebende Kleinpopulation im Epping Forest deutlich nach 1884. Hierüber kann man noch weniger Aussagen treffen.

 

Fazit: Fall ungeklärt.

Leider konnte ich die Recherche nicht so weit ausführen, wie es zur Überprüfung notwendig gewesen wäre. Ich habe weder die Existenz von Superintendent Bartlett zu verifizieren noch ob es in Leytonstone einen Mr. Payze gab.

Auch den Hinweis auf das Schiff musste ich noch offen lassen. Hier gibt es Ungereimtheiten: Schiffe aus Amerika, und nur daher konnten die Kojoten kommen, legten in der Regel im Süden Englands an, um im Plymouth, Southamton oder Brighton ihre Waren der Eisenbahn zu überantworten. Die zitierten Union Docks gab es in Hull und Grimsby, im Norden Englands an der Nordseeküste. Hier wurden Kohle und Stahlerzeugnisse verschifft, 1884 hauptsächlich über die Nordsee.

Ein weiteres offenes Ende ist Beatrix Potter. Es gibt die Möglichkeit, dass sie in Kontakt mit dem Kojoten gekommen ist, vermutlich im London Zoo. Aber wo und wie sie über Kojoten schreibt, habe ich nicht ermitteln können.


Quellen:

Black, M.: „Coyotes In The UK?“ im Blog Theory of everything; abgerufen am 11.02.2020

Biographie von Beatrice Potter

British Newspaper Archive

The Essex Standard vom 1.11.1884

Zootierliste.de


* Ein Pint-Glas fasst in Großbritannien etwa 0,56 l vom Boden bis zum Rand.

** Für Mitglieder der „Gesellschaft“ war es üblich, den warmen Sommer nicht in der Stadt zu verbringen, sondern aufs Land auszuweichen. Beatrix Potter’s Familie hatte bis 1882 den Sommer in Dalguise (Schottland), danach in Wray Castle im Norden von Lancashire.

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