Medienmittwoch: „Jahrbuch für Kryptozoologie“, Jahrgang 1, 2020

Eine der zentralen Aufgaben, die wir uns überlegt hatten, als wir vor mehr als fünf Jahren das „Netzwerk für Kryptozoologie“ ins Leben gerufen haben, war die Publikation eines Jahrbuches. Dieses Buch sollte sowohl als Publikationsorgan wie auch als zitierbares und suchbares Archiv funktionieren. Als dann der Kryptozoologie-Report sein Erscheinen in der Papierform eingestellt hatte, wurde mangels eines Publikationsorgans diese Aufgabe akut. Deswegen setzten sie sich zusammen…

… und sie schrieben ein Jahrbuch

Die Arbeitsgruppe Jahrbuch fand sich zusammen, Natale Guido Cincinnati, Reena Poeschel, André Kramer und Hans-Jörg Vogel nahmen die Zügel in die Hand, aktivierten ihre Netzwerke und sammelten Artikel ein.

Wie bei allen ersten Ausgaben von Periodika kommen zwei Besonderheiten zusammen: Da es kein Organ gab, was entsprechende Arbeiten aufnehmen konnte, gelangen auch Aufsätze mit älterem Hintergrund in das Buch. Das ist vor allem deswegen gut und richtig, da die Herausgeber keinerlei Referenzen haben, mit denen Autoren angesprochen werden können: Es ist die erste Ausgabe.

Unboxing Jahrbuch Kryptozoologie
Die Jahrbücher 2020 sind da und sofort verfügbar. Foto: N.G. Cincinnati

Und genau diese erste Auflage halte ich nun in meinen Händen…

Akademische Zurückhaltung für wissenschaftliche Inhalte

Der erste Eindruck ist ein Eindruck der Nüchternheit. Keine mit geheimnisvollen Tuschezeichnungen versehenen Pergamente, keine halb unter Tüchern verborgenen Gegenstände, keine enigmatischen Runen oder gar sieben Siegel zieren das Buch. Nein, es hat eine nahezu erstaunliche Ähnlichkeit mit den Skriptbänden von Instituten und Museen, die ich aus meiner akademischen Zeit ab 1995 kennengelernt hatte: helles Grau livriert den Umschlag, die zurückhaltende Gestaltung, als habe man Angst, ein wenig Design würde vom Inhalt ablenken.

 

Die Aussage der Macher ist damit deutlich: Das „Jahrbuch für Kryptozoologie“ ist ein Buch für Eliten. Es ist kein Buch, das Otto Normalleser im Buchladen „mal eben“ mitnimmt, weil ihn der Titel anspricht, weil sich durch den Umschlag verborgene Geheimnisse ihren Weg zu bahnen versuchen oder kribbelndes Gruseln mit enigmatischem Wissen verspricht. Das könnte er auch nicht, weil das Buch nie im Buchhandel erscheinen wird.

 

Dieser leise Auftritt ist beabsichtigt. Ihm entspricht auch der Inhalt, der faktenbasiert und naturwissenschaftlich aufbereitet ist. Beobachtungen, Interpretationen, Vergleiche zum Bekannten, jenseits des Verdachtes, in die Aluhut-Träger-Ecke abzudriften. Schon das Erscheinungsbild des Buches schafft es, jegliche Verbindung zu zweitklassigen Abenteuergeschichten und B-Movies aus dem Tierhorror-Genre auszuschließen.

Ein Kaleidoskop der Kryptozoologie

Als Anthologie ist das Jahrbuch sehr vielfältig aufgestellt. So vielfältig wie die Autoren, die aus mindestens vier unterschiedlichen Ländern kommen. Dadurch kommen einige neue Informationen nach Deutschland, die hier bisher völlig unbekannt waren. Ich bin sicher, jeder Leser und jede Leserin findet einen Beitrag zum Einstieg, und wird es nicht bei dem einen Beitrag belassen:

 

Wie es das äußere Erscheinungsbild vermuten lässt, kommen die einzelnen Aufsätze im strengen Korsett akademischer Schriften daher. Eine Kurzzusammenfassung führt in das Thema ein, dann folgt der eigentliche Text, der wiederum von einer englischsprachigen Zusammenfassung abgeschlossen wird. Quellenangaben werden zunächst als Fußnote präzisiert, um dann in einem zweiten Schritt zum Ursprungswerk verlinkt zu werden. Für mich als Naturwissenschaftler ist das sehr gewöhnungsbedürftig, Anders herum löst die vereinheitlichte Form die Texte von vielem, was die Kryptozoologie an Ballast mit sich herumschleppt, vage Erzählungen werden ebenso unterbunden wie reines Hörensagen.

 

Anders als die sehr starre Form ist der Inhalt vielgestaltig, fast bunt. Wie in einem Kaleidoskop Splitter vieler Farben zu einem wunderbaren Ganzen gespiegelt werden, haben die Macher es geschafft, nahezu alle Subgenres werden anzusprechen. Das Spektrum reicht vom klassischen „Monster“ über zahlreiche Out-of-Place-Tiere bis zum vermeintlich ausgestorbenen Lebewesen. Doch damit nicht genug, die zahlreichen Autoren dokumentieren auch ungewöhnliche Verhaltensweisen, kryptozoologische Fundstücke und sogar Themen aus der Kryptobotanik.

Rekonstruktion eines Narlugas
Markus Bühler’s Rekonstruktion eines Narwal-Beluga-Hybriden.

Auch die angesprochenen Tiere beginnen bei sicher (durch Museumexemplare) belegten Tieren wie dem Narwal x Beluga-Hybriden (über den wir auch berichteten) über bekannte Tiere an unerwarteten Orten bis hin zu reinen Literaturarbeiten. Sogar die Sagenwelt und die Psychologie spielen hier eine Rolle, zum Glück, denn solche Themen sind in der Kryptozoologie leider schwer zu bekommen.

Was den Leser oder die Leserin erwartet:

  • Peter Ehret & Ulrich Magin: Riesenschlangen in Spanien
  • Markus Bühler: Ein bizarrer Hybride aus Narwal und Beluga. Die Rekonstruktion des vielleicht merkwürdigsten Wals der Welt
  • André Kramer: Der „Bauernschreck“ in der Steiermark. Ein früher Fall der Alien-Big-Cat in Mitteleuropa?
  • Javier Resines: Menschenfressende Bäume. Expeditionen ins Unbekannte im 19. und 20. Jahrhundert
  • Hartmut Schmied: Inspiration Meeresforschung. Mein Weg zur Kryptozoologie
  • Ulrich Magin: Lake Monsters of Central and northern South America
  • Michel Meurger: Tabaksüchtige Riesen. Das Missgeschick des Holzfällers Albert Ostmann – Erlebnisbericht oder Erzählmotiv?
  • Joerg Hensiek: Leben die „Wilden Banditen“ noch? Der chinesische Wildmensch in „China Caravans“ von Robert Easton und Fred Meyer Schroder
  • Sergio Abram: Der Luchs Lynx lynx (L., 1758) in Trentino-Südtirol, Italien. Sichtungen von 1954 bis 2008
  • André Kramer: Ralf – ein Chupacabras im Schafspelz
  • Frank Brandstätter: Beutelwölfe im Kino
  • Michel Raynal: Über eine nicht auffindbare Zeichnung vom Stollenwurm im Schweizer Almanach Alpenrosen (1841)
  • Sergio Abram: Der Marderhund Nyctereutes procyonoides (Gray, 1834) in Trentino-Südtirol und Italien. Sichtungen 1985 bis 2019
  • Frank Brandstätter: „Der Stab des Mose“ – Entlarvung eines Wunders
  • Natale Guido Cincinnati: Eine Riesenschlange in Wiener Bronze
  • André Kramer: Wenn Füchse Schuhe klauen
  • Michael F. Carrico: They Exist
  • Natale Guido Cincinnati: Fotografie eines hundeartigen Tieres in Hannover
  • Hans-Jörg Vogel: Auf der Suche nach dem Seemonster im albanischen Prespa-See

Die einzelnen Aufsätze der Autoren alle zu kritisieren, sprengt den Rahmen jeder Buchbesprechung. Deswegen habe ich mir drei Beispiele herausgegriffen:

 

Handwerklich gute Mikro-Kryptozoologie

Die beiden Artikel von Sergio Abram klingen erst einmal wenig spannend. Out-of-Place-Sichtungen des Marderhundes in Südtirol, Luchs-Sichtungen im selben Gebiet, zu einer Zeit, in der die elegante Katze als ausgestorben galt. Beide Artikel stellen handwerklich gut gemachte Beiträge zur Mikro-Kryptozoologie dar, nicht spektakulär, aber lesenswert und wird seinen Wert behalten.

Marderhund
Ein Marderhund

Kein Deut schlechter: Markus Bühler’s Makro-Kryptozoologie

Ähnlich solide wie Sergio Abram ist Markus Bühler vorgegangen, als er seine Annäherung und Rekonstruktion des seltsamsten Wales der Meere beschreibt. Minutiös und exakt beschreibt er die Details des einzigen erhaltenen Schädels eines Narluga-Wales, eines Hybriden zwischen Beluga und Narwal. Mehr noch: er legt sich durch seine Bilder, von denen eines auf dem Titelbild zu sehen ist, auch in unsichereren Bereichen fest.

 

Kaum zu belegen: Menschenfressende Pflanzen

Zuletzt bin ich bei Javier Resines Artikel über große Carnivoren unter den Pflanzen gelandet. Resines sammelt hier eher anekdotenhafte Berichte, also handelt es sich hier um eine reine Literaturarbeit. Hier greift die strikte Hand des Lektorates: der Autor ist gezwungen, jede Behauptung anhand der Literatur zu belegen. Leider zeigt sich dennoch ein Muster, das typisch für kryptobiologische Expeditionen sind: Die Orte sind nur ungenau überliefert, die Landschaft und Beobachter wirken wie aus der Feder von H. P. Lovecaft. Das gesammelte Material oder gar ganze Expeditionen gehen verloren. Dieser Artikel ist als Sammlung der bekannten Literatur und Anreiz für weitere Forschung zu sehen. Mal sehen, was hier die Zukunft bringt.

 

Einer der Berichte von Resines wird in Zukunft Ansatz für einen Artikel hier auf der Webseite sein: Erst vor etwa 3 Wochen kam eine Meldung über den Ticker, dass gewisse Bäume der Australisch-Neuguinea-Fauna in ihren Blättern ähnliche Substanzen wie aus Spinnengiften nicht nur speichern, sondern auch über Brennhaare verabreichen könnten.

 

 

 

Was man von Michael F. Carrico’s „They Exist!“ halten mag, darüber möge sich jeder Leser selbst Gedanken machen. Denn eins ist sicher: Vor allem in der Kryptozoologie ist nicht alles so, wie es scheint!

 

 

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Jahrbuch für Kryptozoologie

Im Jahrbuch für Kryptozoologie sammeln die Herausgeber aus dem Netzwerk für Kryptozoologie (NfK) Ereignisse aus der Kryptozoologie, die noch nicht oder nur auszugsweise publiziert wurden.
Die Anthologie ist am 05.09.2020 erschienen, hat 240 Seiten und ist nur über das Netzwerk für Kryptozoologie erhältlich. Es kostet € 12,90, zuzüglich Versand.

 

Das Jahrbuch kann über diesen Link direkt bestellt werden

Mein Fazit:

Den Herausgebern, Natale Guido Cincinnati, Reena Poeschel, André Kramer und Hans-Jörg Vogel ist mit der ersten Ausgabe des „Jahrbuch(es) für Kryptozoologie“ etwas gelungen, das die Kryptozoologie schon seit vielen Jahren benötigt. Eine zitierfähige Sammlung wesentlicher Ereignisse in fast akademischer Strenge.

 

Neben den hervorragenden Inhalten in einer gemeinsamen Form zeichnet sich das Buch vor allem durch das aus, was ihm fehlt: Alle Verbindungen zur Anomalistik, zu Ufo-Gläubigen, Esoterikern und anderen Alu-Hut-Trägern wurden gekappt. Hierdurch ist ein Werk für den „Hardcore-Kryptozoologen“ (bzw. die Hardcore-Kryptozoologin) entstanden, das hoffentlich Schule macht. Es ist ein Meilenstein auf dem Weg, die Kryptozoologie aus der – zu Recht – etwas anrüchigen Ecke der Verschwörungstheoretiker heraus zu holen. Hierdurch wird es auch zu einem politischen Leuchtfeuer.

 

Doch es ist weit mehr. Durch die unterschiedliche Länge der Beiträge und die sehr diversen Themen ist das „Jahrbuch für Kryptozoologie“ ein wundervolles Lesebuch geworden, das sicher mehr als ein Hobbyist auf seinem Nachttisch liegen hat.

 

Uns als Lesern bleibt zu wünschen, dass den Herausgebern die Arbeit am Jahrbuch Freude bereitet hat und wir im nächsten Jahr wieder mit so einem Werk rechnen können. Hoffentlich sind die sehr günstigen € 12,90 so viel, dass daraus bei den langen Redaktionskonferenzen auch die ein oder andere Pizza bezahlt werden konnte.