Medium der Woche: Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens

Mit liegt das Hörbuch „Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens“ von Henry Gee als MP3-CD vor. Die darin erzählte Geschichte ist natürlich alles andere als sehr kurz, sie läuft immerhin 6 Stunden und 33 Minuten.

 

Autor ist Henry Gee, Biologe, Wissenschaftsjournalist, leitender Redakteur für den Fachbereich Biologie der Fachzeitschrift Nature, Mitglied der Toliken-Society und nicht ganz nebenbei Brite. Wenn jemand die Geschichte des Lebens erzählen auf neustem wissenschaftlichen Stand erzählen kann, dann er. Das dachte ich, als ich die CD bestellte.

 

Henry Gee: Eine sehr kurze Geschichte des Lebens
Die besagte CD mit dem Hörbuch.

 

Ein bekanntes Genre, von Henry Gee neu bearbeitet

Nun ist es nicht gerade neu, dass Biologen oder Paläontologen die Geschichte des Lebens auf populärwissenschaftliche Weise erzählen. Meine Bibliothek beinhaltet mindestens sechs Bücher, in denen das ganz oder ausschnittsweise passiert. Jedes Buch hat spezielle Schwerpunkte, mal ist es die Evolution des Menschen, mal sind es Trilobiten, geographische Regionen oder Verbesserungen des Energiemanagements der Lebewesen an sich.

 

Üblicherweise beginnen die meisten dieser Sagas vor 500 Millionen Jahren „plus ein bisschen“, im Dunkel der entstehenden enigmatischen Ediacara-Gärten. Es folgen Momentaufnahmen aus dem Kambrium („alle Stämme sind schon da“), dem Devon („Wir machen einen Abstecher aufs Land“) und Karbon („dampfende Schachtelhalmwälder mit Rieseninsekten“), um mit dem Perm das Problem des Trockenklimas und schließlich ein Massenaussterben vorzustellen.

 

Gemeinsam ist allen, dass sie das folgende Erdmittelalter zu vermeiden suchen. Seltsamerweise fühlt sich niemand, egal ob das Buch 3, 15, 30 oder 50 Jahre alt ist, in der Lage, das Zeitalter der Dinosaurier einzubinden. Ausgerechnet bei den spektakulärsten und populärsten Tieren aller Zeiten gehen Biologen und Paläontologen in Deckung.

 

Die Erdneuzeit hingegen beinhaltet meist das „Wiedererstehen“ der Ökosysteme nach dem KP-Event, einen oder zwei Schwerpunkte aus dem Eozän und dann die Evolution der Menschheit. Die meisten Storys enden dann im Büro des Autors oder mit dem aktuellen Massensterben, gelegentlich auch mit dem Ausblick, den die Weltraumfahrt bietet.

 

Das 12. Archaeopteryx-Exemplar
Archaeopteryx spielt als Mosaik-Übergangsform eine Schlüsselrolle. (12. Exemplar)

 

Spannend – Gee setzt andere Schwerpunktsetzung

Dieses Hörbuch ist anders, als das Erwartete. Gee beginnt früh. Weitaus früher als viele seiner Kollegen beginnt er mit einem Stern, der zur Supernova wird. Eine Supernova, die über ihre Druckwelle unser Sonnensystem formt und deren schwere Elemente bei der Bildung der frühen Gesteinsplaneten eine wichtige Rolle spielen.

Auch bei der Entstehung des Lebens geht es hier sehr früh los. Der Autor stellt mit Membranen abgedeckte Mikroporen im Gestein als erste Zellen vor, weitaus mehr als 2 Milliarden Jahre vor heute. Es folgen Sauerstoffkatastrophen und die Entwicklung der Endosymbionten, schließlich die ersten Eukaryontenzellen. 

 

Natürlich arbeitet sich auch dieses Buch durch die einzelnen Erdzeitalter hindurch. Auch hier fallen Basisdaten an, wie Klima, Art der Vegetation und Ähnliches. Doch zwischendrin springt Gee immer wieder zu Schlüsselveränderungen bei den Organismen, die akut oder als Präadaptation später einen Vorteil verschaffen.

Gerade hierbei merkt man, dass Gee tief in der Materie steckt. Seine „(sehr) kurze Geschichte des Lebens“ besteht an vielen Stellen vor allem aus Namedropping, wobei gerne auch Arten mit Gattungen oder höheren taxonomischen Stufen verglichen werden. Auch anatomisch scheint der Autor einiges von seinem Hörer bzw. Leser zu erwarten. Auch hier besteht viel aus anatomischem Namensnennen, nur gelegentlich wird – dann allerdings schon fast poetisch – die Herkunft und Funktion einzelner Knochen besprochen.

 

Ammoniten und Geologenhammer
Detail einer paläontologischen Grabung: Ammoniten und Geologenhammer

 

Spätestens die Beschreibung des späten Erdaltertums, Karbon und Perm wirkt wie eine blinde Diashow: Gee stellt Tiere vor, die kaum mehr als aus einem Namen bestehen, gelegentlich wird eines mal näher beschrieben. Das tut er nicht ohne Humor und bissige Vergleiche. Trotzdem scheint er davon auszugehen, dass sowohl Tiere wie Tiktaalik oder Gruppen wie die Procolophonoidea dem Hörer geläufig sind. So geläufig, dass er auf eine nähere Vorstellung verzichten kann. Bei vielen der zahlreichen Namen ist es nicht klar, warum sie genannt werden. Die meisten hat man allerdings schneller vergessen, als man sie googlen kann.

 

Das Erdmittelalter ist dieses Mal ein Thema

Ja, tatsächlich, dort wo sich die meisten Erzähler in ihren Büchern komplett zurückziehen oder sehr ungenau werden, wird Gee konkret. Natürlich ist der Aufstieg der Dinosaurier ein großes Thema. Dinosaurier sind populär, was viele wissenschaftliche Autoren abzuschrecken scheint. Aber sie stellen auch nahezu 180 Millionen Jahre lang die dominanten Spezies auf dem Land. Das sollte man nicht ignorieren.

 

In diesem Fall ignoriert es der Autor auch nicht. Aber die spektakulären Spezies umgeht er dann doch. Statt dessen zeigt er hier einige Schlüsselinnovationen auf dem Weg dorthin, vom Luftsacksystem der Atmung über senkrecht stehende Gliedmaßen und eine ungewöhnliche Zweibeinigkeit. Dabei fällt wie zufällig ein Augenmerk auf die Vogelwerdung der Reptilien, die sich nach Meinung des Autors wesentlich vor der Entwicklung des Fluges abgespielt hat. Dabei kommen auch die Fledersaurier und sehr frühe gleitende Säugetiere zur Sprache. Ebenso spricht Gee kurz die Mechanik des Fliegens und das Problem, ob das erste Fliegen vom Boden, Wasser oder aus der Höhe begonnen hat.

 

Leider ist dieser Bereich sehr kurz und es fallen ebenfalls eine Menge Namen, mit denen kaum jemand etwas anfangen kann. Dennoch gehört er für mich zu den spannendsten Abschnitten des Hörbuches.

 

Tyrannosaurus
Der jugendliche Tyrannosaurus, der jetzt Rocky heißt. Er ist ein echter Rockstar.

 

Auch das Ende des Mesozoikums, des Erdmittelalters beschreibt Gee anders, als viele andere Autoren. Bei ihm kommt der Chixulub-Bolide nicht spontan aus dem Nirgendwo. Er beschreibt, wie dieser Asteroid aus der Bahn geraten ist und dann auf der Erde einschlug. Für die akute Wirkung des Einschlages nimmt er sich kaum Zeit, wohl aber für die langfristigen Auswirkungen.

 

Der Blick in die Erdneuzeit

Die Erdneuzeit wird häufig als das Zeitalter der Säugetiere beschrieben. Stringent in diesem Schema verbleibend, erklärt Gee die Schlüsselinnvoationen unserer Wirbeltierklasse. Hierzu gehören neben einem Gehör, das in sehr hohe Frequenzen herein reicht auch ein außerordentlicher Geruchssinn. Lebendgebären kommt etwas länger, das eigentliche Säugen etwas kürzer „ans Ohr“.

Thematisch beginnt das Hörbuch hier zu springen. Die „Terrorvögel“, die Isolation Madagaskars, Opossums und der große amerikanische Faunenaustausch sind Thema. Leider wird alles nur in Halbsätzen abgehandelt.

Schließlich beginnt irgendwo in Afrika der Prozess der Menschenaffen-Werdung und schließlich der Menschwerdung. Dabei gelingt es Gee wie keinem Autor, von dem ich bisher gelesen habe, scheinbar verwirrende Funde wie die frühen, zweibeinigen Affen Danuvius, Oreopithecus,  Ardipithecus und andere Zweibeiner in einer Theorie unter ein Dach zu bringen.

 

Prähominider Schädel im linken Teilprofil vor schwarzem Hintergrund
Australopithecus anamensis-Schädel

 

Da wir uns selbst die nächsten sind, widmet der Autor der Entstehung unserer Art viel Raum. Einen Schlüsselaspekt legt er dabei auf Homo erectus, seine Ausbreitung und seine Nachfahren in vielen Teilen der Welt. Spannend ist, dass er hierbei mit dem philippinischen Zwergmenschen Homo luzonensis quasi das Pferd von hinten aufzäumt. Ganz nebenbei erzeugt er den Eindruck, es könne noch weitere Zwergmenschen gegeben haben. Weiß Gee etwas, das noch nicht publiziert wurde? Wenn es jemand weiß, dann er. Da steckt also auch noch Kryptozoologie drin.

Schließlich geht es noch um unsere eigenen biologischen und kulturellen Schlüsselinnovationen, prähistorische Krisen der Menschheit und schließlich das hier & jetzt.

 

Doch statt mit der quartären Aussterbewelle zu enden, thematisiert Gee das Aussterben. Er nimmt Ideen wie die „extinction dept“ zum Aufmacher, um Aussterben zu erklären. So vergleicht er das Aussterben des Nördlichen Breitmaulnashorns mit dem des Auerochsen. Er nimmt die aktuelle Klimakrise ebenso dazwischen wie einen vergleich der aktuellen Aussterbewelle mit prähistorischen Massenaussterben. Dabei bewertet er natürlich auch die Rolle unserer eigenen Spezies.

Und in Zukunft?

Aber auch um die weitere Zukunft macht sich Gee Gedanken. Seine Vision für das Leben auf der Erde sieht wesentlich anders aus, als die der BBC aus „The Future is wild“. Er sieht in ferner Zukunft vor allem unterirdisch lebende Großsymbiosen zwischen extrem reduzierten Tieren und auf die Symbiose eingestellten Pflanzen.

 

Kanada, Gee sieht keine Zukunft für solche Landschaften
Sind arbeitsteilige Landschaften mit Pflanzen, Tieren, Pilzen und Mikroorganismen Auslaufmodelle?

 

Bewertung des Inhaltes

Henry Gee sitzt als leitender Redakteur von Nature an der Quelle für neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Und die flicht er auch immer wieder ein. Die Schwerpunktsetzung ist spannend, mir gefällt sie bis auf einige wenige Abstriche sehr gut. Oft setzt er den Focus unerwartet.

 

Leider verliert er seine Hörer bzw, Leser oft genau dort, wo sie die meiste Führung brauchen. Dort, wo Schlüsselinnovationen der Evolution über mehrere Spezies perfektioniert werden. Ich hatte an mehreren Stellen das Gefühl, dass der Autor genaue Artenkenntnisse der Leser voraussetzt. Ich zweifle nicht daran, dass im englischsprachigen Original insbesondere bei der Beschreibung einzelner Arten ein gerüttelt Maß an britischem Humor eingeflossen ist. Dieser ist bis auf einige seltene Stellen dem Übersetzer entglitten oder er hat bewusst drauf verzichtet.

 

Apropos Übersetzer: Ich kenne das englischsprachige Original nicht. Ich glaube aber, nach jahrzehntelanger Lektüre englischsprachiger Werke die meisten Übersetzungsfallen zu kennen. Echte Fehler sind mir tatsächlich keine aufgefallen, offenbar hat hier ein Redakteur gute Arbeit geleistet – bis auf einen. Wie in Deutschland leider sehr oft üblich, kommt auch hier die Unsicherheit in Sachen Art, Gattung, Ordnung, Gruppe usw. durch. Wieso wird sowas nicht in der Schule gelehrt?

 

Die Sprecherin

Die Qualität eines Hörbuches steigt und fällt massiv mit dem Sprecher, bzw. hier der Sprecherin. Dieses Buch wird gelesen von Marlen Ulonska, die mir als Hörbuchsprecherin bisher unbekannt war.

 

Viel Positives kann ich über die Arbeit von Frau Ulonska nicht finden. Insgesamt macht sie den Eindruck, als würde sie das ganze Buch nur vorlesen und hätte nicht verstanden, um was es geht. Störend ist auch, dass sie gelegentlich Sätze beendet, obwohl noch ein Nebensatz folgt.

 

Insgesamt war die Abstimmung der Redaktion mit der Sprecherin sehr schlecht. Die langen Sätze, die Gee gerne verwendet, sind gespickt mit Nebensätzen – und so reine Schriftsprache. Das vorzulesen ist oft schwierig, hier hätte die Redaktion die Übersetzung bearbeiten müssen. Statt dessen lässt man die Sprecherin hängen – und übernimmt solche Fehler auch noch ins Hörbuch.

Auch bei der Aussprache wissenschaftlicher Namen hat man Frau Ulonska die Unterstützung verwehrt. Schade.

 

Störend empfinde ich auch die zahlreichen Moduswechsel der Stimme. Mal liest Frau Ulonska gelangweilt, mal springt sie in den Märchenerzählerinnen-Modus, die meiste Zeit zieht sie aber weitgehend unauffällig durch den Text.

 

Subjektiv hatte ich noch Probleme mit der Aussteuerung, was aber auch an meinen Laptop-Lautsprechern liegen kann. So wirkte die Sprecherin etwas zu schrill und fordernd auf mich.

 

Gesamtfazit

Inhaltlich ist das Buch bzw. Hörbuch eine anregende Version einer immer wieder erzählten Geschichte. Die Schwerpunktsetzung ist teilweise sehr ungewöhnlich und weitgehend ansprechend. Hierdurch ist der Erkenntnisgewinn recht groß.

 

Die Redaktion der deutschen Übersetzung ist hervorragend gelungen. Fehler haben sich so gut wie nicht eingeschlichen, sieht man von der oben erwähnten Art-Gattung-höhere Taxa-Schwäche ab.

 

Bei diesem Buch werden jedoch größere Schwächen des Formates Hörbuch deutlich. Dort, wo in einem gedruckten Buch eine Skizze oder ein Bild schnell alles erklärt hätten, zerfällt im Hörbuch die Erklärung oft in ein kaum nachvollziehbares Namedropping. Das Buch hat gegenüber dem Hörbuch noch einen weiteren Vorteil: Der Leser kann bei Bedarf unterbrechen und eine andere Quelle als Unterstützung heranziehen, z.B. wenn er/sie nicht so im Thema ist. Das ist beim Hörbuch eher schlecht möglich, so fallen zahlreiche wissenschaftliche Namen und die damit verbundenen Erklärungen unter den Tisch.

 

Die Erde, Gee erzählt ihre Geschichte
Die Erde ist die Hauptperson der Erzählung

 

Ein weiterer Minuspunkt ist die Sprecherin. Ich hätte bei einem solchen Werk eine eher ruhige Sprecherin erwartet. Ihre Stimme ist aber zu schrill, sie spricht ein wenig zu schnell, so dass ich sie eher in einem Bereich einsetzen würde, in dem viel „Action“ stattfindet.

 

Zudem macht die Sprecherin nicht den Eindruck, dass sie versteht, was sie vermittelt. Insbesondere wenn sie im „Robotermodus“ spricht, trennt sie durch ihre Betonung Nebensätze einfach ab. Hier hätte ein guter Redakteur die Nebensätze abgeschnitten. Dies entspricht auch mehr dem gesprochenen Wort. Der zweite Sprachmodus ist der einer Märchentante. Er wirkt hier völlig fehl am Platz, so dass einzelne Abschnitte sogar ironisch wirken, obwohl das genaue Gegenteil erzielt werden soll.

 

Eingeschränkte Kaufempfehlung

Für Leute, die sich in der Materie auskennen und Interesse an anderer Schwerpunktsetzung haben, ist das Buch empfehlenswert. Ich rate jedoch vom Hörbuch ab.

 

In Schulnoten: als Buch: 2- ; als Hörbuch glatt 4.

 

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Eine sehr kurze Geschichte des Lebens

 

Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens ist dann doch nicht ganz so kurz. Als gebundenes Buch hat sie immerhin 304 Seiten, das Hörbuch läuft 6 Stunden und 33 Minuten.

 

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