Seejungfrauen sind ein kryptozoologisches Thema, das ein Mauerblümchen-Dasein führt. Die Zahl der Beobachtungen von Seejungfrauen dürfte sich etwa auf ein Viertel der Zahl der Seeschlangensichtungen belaufen, und doch wurden ihnen bislang keine kryptozoologischen, sondern fast ausschließlich volkskundliche Darstellungen gewidmet. Der Grund ist natürlich die Furcht, sich lächerlich zu machen, wenn man die Augenzeugenberichte – darunter sind ja Aussagen von Kolumbus, Hudson und modernen Arktisforschern – beim Wort nimmt, wie das die Kryptozoologie eben so macht.

Nun sind jüngst drei Titel zu Seejungfrauen erschienen, von denen zwei erneut eher kulturgeschichtlich verortet sind (Axel Müller, Christopher Halls, Ben Williamson. Mermaids: Art, Symbolism and Mythology. University of Exeter Press, 2022, und Vaughn Scribner. Merpeople, A Human History. Reaktion Books, 2020), einer aber klassisch kryptozoologisch: Mark A. Hall, Loren Coleman, David Goudsward: Merbeings: The True Story of Mermaids, Mermen, and Lizardfolk. Anomalist Books 2023.
Um diesen letzten Titel soll es hier gehen.
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Merbeings: The True Story of Mermaids, Mermen, and LizardfolkDas hier vorgestellte Buch „Merbeings: The True Story of Mermaids, Mermen, and Lizardfolk“ ist wie beschrieben im Mai 2023 bei Anomalist Books erschienen. Das Taschenbuch hat 200 Seiten auf englischer Sprache, ungefähr im Format Din A5. Neben dieser Ausgabe ist es auch als ebook erhältlich.
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Die Autorenangabe ist etwas unklar – der hauptsächliche Autor scheint Mark Hall zu sein, mit Anhängen von Loren Coleman. Welche Rolle Dave Goudsward spielt, ist unklar, in einer E-Mail teilte er mir mit, er habe den geringsten Teil verfasst, das Buch sei eigentlich bloß „eine überarbeitete und erweiterte Version von Mark Halls selbst veröffentlichtem Buch von 2005 über Eidechsenmenschen und Seejungfrauen“.

Ich mag den Verlag Anomalist Books und schätze Dave Goudswards Buch über Seeungeheuer in Florida sehr. Der vorliegende Titel war aber leider eine Enttäuschung. Das kommt sicherlich vor allem daher, dass Mark Hall ein klassischer Kryptozoologe war. Für ihn entsprechen Augenzeugenberichte der Wirklichkeit (oder sie sind eben gelogen). Und wenn man Augenzeugenberichte über Seejungfrauen beim Wort nimmt, kommt, wie sich zeigt, eine verquere Zoologie heraus.

Ich fasse die Thesen des Buchs kurz zusammengefasst:
- Aus dem bipeden Affen Oreopithecus des oberen Miozän, der Sümpfe bewohnte, entwickelte sich der „Wasseraffe“, ein ganz ans Leben im Meer angepasster, aber amphibisch lebender Primat. Er sieht noch aus wie ein Affe, d.h. er hat ganz normale Füße, eventuell mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Weil sich die Wasseraffen schon Millionen Jahre länger entwickeln als der Homo sapiens, sind sie uns an Wissen und Intelligenz überlegen. Die babylonische Mythe vom kulturbringenden Wassermann Oannes beruht also auf Wahrheit. (S. 10 – tatsächlich ist Oannes die griechische Umschrift des babylonischen Süßwassergottes Ea.)

- Diese Wasseraffen schaffen sich Schwimmhilfen, also einen Schwanz aus Fischhaut oder Seehundsfell, zuweilen auch als Stabilisatoren auf den Rücken montierte Rückenflossen. (S. 20, 35, 65, 80, 109) Das erklärt den Mythos der Selkies in Schottland, die ihr Seehundsfell ablegen, wenn sie an Land kommen. Heiraten und Reproduktion zwischen Homo sapiens und Wasseraffen ist möglich. (Den Mythos von den Schwanenfrauen, die ebenso ihr Gefieder ablegen, kennt oder berücksichtigt Hall nicht.)
- Diese Hilfsmittel können an Land zur tödlichen Falle werden, Eine Seejungfrau schlug, als sie gefangen worden war, ihre Hände übers vors – d.h. sie erstickte unter ihrer Atemmaske. (S. 101)
- Wasseraffen sind nicht nur intelligent, sondern auch schönheitsbewusst – die Weibchen färben sich aus Modegründen die Haare oder tragen Perücken. Dass erklärt Berichte über die blauen oder grünen Haare von Seejungfrauen. (S. 20) Überhaupt lassen sich die Sichtungen so deuten, dass Wasseraffen intelligent sind und über eine hoch entwickelte Kultur verfügen. (S. 10, 20, 72, 76)
- Kryptozoologen machen es sich zu einfach, wenn sie diese – mit Homo sapiens, Bigfoot, Pygmäen wie dem Hobbit und Gigantopithecus – auf unserem Planeten lebende hochstehende Primatenart ignorieren. Als Forscher der International Society of Cryptozoology das Ri von Papua als Dugong identifizierten, nur weil sie einen an der Stelle fotografieren konnten, an der eine Seejungfrau untergetaucht war, heißt ja nicht, dass die dortigen Seejungfrauen Dugongs sind, Vielleicht kam eine Seejungfrau mit einer Herde Dugongs in die Bucht und war nur abgetaucht, als sich die Forscher näherten. (S. 113)
- Lizardman, ein im Süßwasser lebender Wasseraffe, der keinen falschen Fischschwanz benutzt, steckt hinter Geschichten von Teufel oder Gespenstern, die hinter Reitern auf Pferde springen. (S. 143–147) Das erinnert an Ivan T. Sandersons These, der wilde Mann Europas sei eine Art Bigfoot gewesen.
- Die Wassermänner und Seejungfrauen der Heraldik mit einem doppelten Fischschwanz sind auch keine Erfindung der Phantasie, sie spiegeln nur eine besondere Mode unter den Wasseraffen. (S. 10, 20)

Schon das lässt sich alles schwer allein aus Augenzeugenberichten ableiten, die Seejungfrauen oft nüchterner schildern als Mark Hall (und eigentlich mit dem Schwanz in einem Stück – kein Augenzeugenbericht erwähnt einen abnehmbaren Fischschwanz.). Hall ist, wie man schnell merkt, ausufernden Ausdeutungen nicht abgeneigt. Wir erfahren zusätzlich:
- dass „Wasseraffen“ Alligatoren in den nördlichen Breiten der USA ansiedeln (d.h. mit sich bringen), um so vor menschlichen Zugriffen geschützt zu sein. (S. 22) Das erklärt Sichtungen von Alligatoren im Norden der USA.
- dass sie nur drei Zehen (Entenfüße) und einen abstehende Daumen haben, bei dem es sich möglicherweise um einen Giftstachel handelt. (S. 21) Immer daran denken – der Fischschwanz, der eine Seejungfrau und einen Meermann eigentlich ausmacht, ist eine künstliche Schwimmhilfe!
- dass die oberirdische Welt alle 30 000 Jahre in einer gewaltigen Naturkatastrophe durch Verschiebung der Erdkruste fast untergeht (und deshalb die Wasseraffen, die im Meer weniger betroffen sind, schon weiter entwickelt sind als die Menschen an Land). (S. 23)

Es gibt nach Hall mindestens drei Spezies von Wasseraffen, die alle selbst hergestellte Fischschwänze benutzen, die sie über ihre Beine stülpen, um besser schwimmen zu können:
- Wasseraffen – also unsere Seejungfrauen
- The Mysterious Ones – Affen oder Zwergenmenschen, die zwar im Dschungel leben, aber sich auch Fischschwänze anziehen und ins Meer gehen (Hobbits).
- Eidechsenmenschen, die in den Sümpfen im Süden der USA wohnen und ebenfalls ans Wasserleben angepasste, intelligente Affen sind. Sie sind sehr wahrscheinlich identisch mit Seejungfrauen, möglicherweise eine speziell ans Süßwasser adaptierte Subspezies.
Hall nennt die Seejungfrauen und Wassermänner immer „Wasseraffen“, ganz gleich, was in seiner Quelle steht. Das Nachwort von Loren Coleman ehrt seinen Freund Mark Hall, der ein netter Kerl gewesen ist. Es folgen Anhänge, einer davon, Anhang 2, ist ein nichtssagender Text generell über Seejungfrauen aus dem Jahr 1910.
Ein Buch, das Fragen offen lässt
Man merkt es schon – das Buch lässt mich hilflos zurück. Man spürt den enormen Fleiß, der darauf verwendet wurde, und ahnt, dass er in völlig falsche Bahnen gelenkt wurde. Die Wasseraffen, die Hall beschreibt, sind ganz und gar seine Erfindung. Sie werden nicht einmal durch die Augenzeugenberichte gedeckt.

Das Buch zeigt aber auch, wie weit man „zoologische“ Kryptozoologie treiben kann, wenn man der Heuvelmanschen Annahme folgt, wir könnten aus Augenzeugenberichte unbekannte Tiere und ihr Verhalten ableiten. Da die Sagen weltweit erzählen, dass Nixen ihren Fischschwanz abstreifen, wenn sie an Land gehen, ist das ein Fakt. Weil Wassermänner auf Wappen doppelschwänzig dargestellt werden, muss auch das gesehen worden sein. Da der babylonischen Überlieferung nach Oannes der Bevölkerung Mesopotamiens den Ackerbau beigebracht hat, war das auch so. Menschen berichten nur, was sie erleben. Sie haben keine mythische Fantasie. Mit demselben naiven Vertrauen presst Heuvelmans ja selbst den nur 2 m langen Riesenkalmar (die Tentakel abgezogen) in den Mythos des Ungeheuers Kraken (Krabbe), das größer ist als ein Wal, oder erfindet neun Spezies von Seeschlangen, wo nur unterschiedliche Erzähltraditionen herrschten.
Ich zweifle an dieser Methode, und das vorliegende Buch gibt mir Recht. Alleine deshalb sollte es von Kyrptozoologen jeder Couleur gelesen werden. Mögen sie daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen.
Das klingt alles sehr negativ. Auf der Positivseite steht aber:
Sehr ausführliche Sammlung von Augenzeugenberichten
Einige bislang wenig bekannte Augenzeugenberichte sowie wissenschaftliche Arbeiten gerade zu exotischen Seejungfrautraditionen aus Afrika und Ozeanien, die bisherige Arbeiten zum Thema nicht kennen, lohnen den Kauf.
Ich fand das Buch zudem als unterhaltsame Lektüre, wenn ich den Zensor im Kopf ausschaltete (was mir leider nicht zu oft gelang).

Anmerkung der Redaktion:Wir sind Opfer eines Angriffs mit Schadsoftware geworden. So langsam können wir einen Rechner nach dem Anderen von dem Mist befreien und die Arbeit wieder aufnehmen. Daher erschien dieser Artikel zunächst ohne Illustrationen. Die haben wir mit etwa einem Tag Verspätung eingespielt. Soweit wir und unser IT-Dienstleister feststellen konnte, ist weder der Server noch unser Mailsystem von dieser Schadsoftware betroffen, so dass weder Spam noch Schadware nach draußen gelangt ist. Auch eure Nutzerdaten waren nicht Ziel des Angriffes. Am Ende hat es sich hauptsächlich als lästig herausgestellt, wirft uns aber in der Arbeit um mehrere Tage zurück, für die wir keine Reserve haben. Falls also in den nächsten Tagen nicht alles rund läuft, wären wir für jeden Hinweis dankbar und bitten schon einmal um Entschuldigung. PS: Liebe Hacker, wusstet Ihr, dass Ihr als Angestellter bei einem Imbiss wesentlich mehr verdienen könnt und weniger Risiko habt? Wenn ihr so clever seid, die IT-Industrie kann euch brauchen, da gibts noch mehr Geld. |