Patagonische (Schein-) Riesen? – Erklärungsansätze (3/3)
Patagonische (Schein-)Riesen? – Erklärungsansätze
Die Sprachgruppe der Tehuelche ist also inzwischen völlig zerfasert. Dementsprechend gestaltet es sich als schwierig bis unmöglich, Angehörige der zugehörigen Völker bzw. Stämme zu identifizieren. Wenn man sie aber nicht identifizieren kann, kann man sie auch nicht vermessen. So fällt der eindeutigste Weg, die tatsächliche Größe der Patagonier festzustellen, also aus.
Ansonsten ließen sich noch systematisch historische Aufzeichnungen auswerten, deren Wahrheitsgehalt aber nicht mehr objektiv feststellbar ist. Alternativ könnten auch Museumssammlungen nach sterblichen Überresten von Tehuelche-Sprechern durchsucht werden. Fraglich ist, inwieweit es rechtlich überhaupt zulässig wäre, diese für wissenschaftliche Arbeiten weiterzuverwenden. Selbst wenn hier keine Hindernisse bestehen, dürften doch etliche Wissenschaftler aufgrund der unvermeidlichen Kontroverse zögern.
Ohnehin sind derartige Untersuchungen gar nicht im Rahmen eines Artikels für das Netzwerk für Kryptozoologie vorstellbar. Zugleich liegen sonst keine eindeutigen Daten zur tatsächlichen Größe der Patagonier vor. So bleibt also nur noch, lediglich Erklärungsansätze vorzustellen:
Riesen – weil die Europäer zu klein waren?
Ganz fantastische Maße von drei, vier, gar fünf Metern sollte man von vorne herein ausschließen. Es ist auf der ganzen Welt kein einziger Mensch von solch gewaltiger Statur nachgewiesen. Schon die Zahl der Menschen, die nachweislich eine Größe von über 2,5m erreichten, kann man an den eigenen Fingern abzählen. Es ist also davon auszugehen, dass die Patagonier – wenn sie tatsächlich „Riesen“ waren – sich wohl eher um die 2-Meter-Marke oder vielleicht etwas darüber bewegten.
Nun sind die Berichte über wahrhaftige Riesen schon reichlich alt. Jahrhunderte liegen zwischen der Lebensdaten eines Pigafetta oder Hawkesworth und der Gegenwart. Was, wenn die Patagonier tatsächlich „nur“ etwa zwei Meter groß waren und die Europäer bloß viel kleiner? So wären ihnen die Einheimischen gewiss als Riesen erschienen. Und früher waren die Menschen doch kleiner – oder?
Die Wahrheit ist vielschichtiger, als dass man solche Verallgemeinerungen treffen könnte. Jedenfalls „wuchs“ der Durchschnittsmensch nicht immer im Laufe der Jahrtausende oder Jahrhunderte. Die Menschheit wurde also nicht zwergenhaft geboren und entwickelte sich dann zu Riesen.
Viel mehr als das geschichtliche Zeitalter spielte die jeweilige Versorgungslage eine Rolle. Wer in guten Zeiten geboren wurde, wurde größer. Kein Wunder, denn eine Unterversorgung mit Nährstoffen hemmt das Wachstum.
In diesem Wissen untersuchten Wissenschaftler der Ohio State University im Jahr 2004 menschliche Knochen aus verschiedenen Jahrhunderten. Diese stammten ausnahmslos aus Europa. Die in historischer Zeit verstorbenen Personen waren allesamt Männer.
Die größte Überraschung war die Durchschnittsgröße von Männern im frühen Mittelalter: Sie betrug etwa 173 cm und war damit ähnlich hoch, wie die durchschnittliche Größe heute lebender Männer. In den drauffolgenden Jahrhunderten nahmen die Körpermaße ab und erreichten im 18. Jahrhundert mit etwa 167 cm ihren Tiefpunkt. Erst während der Industrialisierung stieg die Durchschnittsgröße anschließend wieder an.
Und wie groß könnte der Durchschnitts-Patagonier gewesen sein?
Die europäische „Entdeckung“ der Patagonier spielte sich im 16. Jahrhundert ab. Die Durchschnittsgröße der Europäer nahm damals gerade ab, befand sich aber noch nicht auf dem Vorläufigen Tiefpunkt. Man kann nun spekulieren, wie viele Zentimeter die Besatzungsmitglieder Pigafettas oder Drakes durchschnittlich maßen. Doch letztlich ist das gar nicht relevant.
Ja, es gab nachweislich erkennbare Schwankungen, was die Durchschnittsgröße eines männlichen Europäers betrifft. Letztlich bewegen sich diese aber in einem Bereich von sechs oder allenfalls sieben Zentimetern. Solche Unterschiede sind wahrnehmbar, aber nicht riesig. Wer 167 cm groß ist, wirkt neben einem 173 cm großen Mann eben ein wenig kleiner, aber nicht wie ein Kind.
Folglich müssten die Patagonier wirklich ausgesprochen groß gewesen sein, wenn auch nur der Bericht Hawkesworths wahr sein sollte. Unzweifelhaft müssten die Patagonier also im Durchschnitt Größen von etwa zwei Metern erreicht haben, um die – grob geschätzt – 1,7 Meter großen Europäer zwergenhaft wirken zu lassen.
Studien zur Größe der Patagonier bzw. Tehuelche sind dem Verfasser (wie zuvor bereits angemerkt) nicht bekannt. Trotzdem kann man sich die Frage stellen, ob ein solcher Größenunterschied denn realistisch ist.
Auf welche Art sollen die Patagonier besser gestellt gewesen sein, dass sie im Vergleich zu den Europäern ganze 30 cm größer wurden? Die medizinische Versorgung kann es nicht gewesen sein; allenfalls die (vor Ankunft der Europäer) stärkere Isolation könnte Krankheiten verhindert haben. Bessere Unterkünfte standen den Patagoniern auch nicht zur Verfügung, da sie in Zelten lebten.
Bloß die Versorgung mit Nahrungsmitteln könnte einen Unterschied gemacht haben. Die Quellen zu den Patagoniern stimmen nämlich insofern überein, als dass sie dieses Volk als nomadische Jäger und Sammler beschreiben. Sie waren also nicht abhängig davon, wie sich ihre Viehbestände entwickelten oder wie viel Fleisch sie von Viehbesitzern erwerben konnten. Stattdessen konnten sie sich ihr Fleisch „einfach“ erjagen und aßen somit auch recht viel davon. Das steht im Kontrast zur eher fleischarmen Ernährung des damaligen Durchschnittseuropäers.
Selbst dieses Argument steht aber auf wackeligen Beinen. Schließlich steht dem heutigen Durchschnittseuropäer auch Nahrung im Überfluss zur Verfügung. Dennoch sind die heutigen Europäer nicht gerade Riesen im Vergleich zu den Europäern vergangener Jahrhunderte. Man erinnere sich: Die Männer des 11. Jahrhunderts waren nur wenig kleiner als die heutigen. Selbst im Extremfall kann man nur noch etwa sieben Zentimeter abziehen, um den – bis jetzt – kleinstmöglichen Durchschnittseuropäer zu erhalten.
Krankhafter Riesenwuchs?
Wenn die Patagonier also tatsächlich Größen jenseits der zwei Meter erreicht haben sollen, kann die Ernährung nicht die alleinige Ursache gewesen sein. Hier muss noch mindestens ein weiterer Grund vorliegen:
Zugleich sollte man auch festhalten, dass eine Körpergröße von über zwei Metern nicht „normal“ ist. Damit ist nicht bloß gemeint, dass diese Größe nicht dem Durchschnitt entspricht. Gerade wenn die Zwei-Meter-Marke deutlich überschritten wird, sind nämlich häufig krankhafte Veränderungen schuld an diesen beeindruckenden Maßen:
Riesenwuchs im medizinischen Sinne kann etwa durch verschiedene Erbkrankheiten verursacht werden. Aber auch deutlich offensichtlichere Gründe können zu einer abnormalen Höhe führen. Am häufigsten ist ein mechanischer Druck auf die Hypophyse, ein Areal im menschlichen Gehirn. Dieser Druck wird durch gutartige Tumore verursacht und er bedingt letztlich die übermäßige Ausschüttung von Wachstumshormonen.
Unterschieden wird zwischen Gigantismus und Akromegalie. Beim Gigantismus beginnt der Riesenwuchs bereits in der Kindheit und endet irgendwann um das 20. Lebensjahr – zu selben Zeit, zu der auch gesunde Menschen nicht mehr wachsen. Hierfür gibt es vielfältige Ursachen. Akromegalie tritt dagegen ausschließlich bei Erwachsenen auf und ist fast immer durch einen Tumor an der Hypophyse bedingt.
Litten die Patagonier darunter?
Im Zusammenhang mit den Patagoniern sind auch die „Nebensymptome“ dieser Krankheitsbilder interessant. Die Betroffenen sind nicht nur größer, sondern vielfach auch schlechter proportioniert. Sowohl beim Gigantismus als auch der Akromegalie entwickeln sich Hände, Füße und auch das Gesicht auf eine abnormale Weise. Sie wirken selbst in Bezug auf den ohnehin sehr beeindruckenden Körper des Betroffenen oft unverhältnismäßig groß und grobschlächtig.
An mehreren Stellen berichten Entdecker von der enormen „Hässlichkeit“ der Patagonier. Diese Ausdruckweise ist freilich ganz unwissenschaftlich und völlig subjektiv. Sie deutet aber zugleich auch darauf hin, dass irgendetwas an ihnen auf unangenehme Weise seltsam erschien.
Auch die großen Füße der Patagonier wurden vielfach ausdrücklich betont. Allerdings gibt es durch das Schuhwerk dieser Stämme eine alternative Erklärung zu Gigantismus und Akromegalie. Diese scheint auch deutlich realistischer zu sein.
Zunächst einmal wäre ein Volk (oder eine sonst wie definierte Gruppe), die in ihrer Gesamtheit von Gigantismus und/oder Akromegalie betroffen ist, stark gehandicapt. Beide Krankheitsbilder gelten als dringend behandlungsbedürftig. Mit Gigantismus gehen etwa häufig chronische Kopfschmerzen, Sehstörungen (die Betroffenen sehen doppelt) und Taubheit einher. Von Akromegalie betroffene Menschen trifft es noch härter: Ihr Leiden erhöht nämlich u.a. das Risiko für Arthritis, Chronisches Erschöpfungssyndrom, Impotenz, Herzerkrankungen, völlige Blindheit und Darmkrebs.
Nun ist Akromegalie die häufigere der beiden Formen von Riesenwuchs. Es ist aber nicht ersichtlich, wie ein Volk von Jägern und Sammlern bestehen soll, wenn seine Mitglieder alle oder zumindest mehrheitlich unter dieser Erkrankung leiden. Viele der durch Akromegalie mitverursachten Krankheitsbilder wirken sich nicht nur lebensverkürzend aus, sondern würde sogar das „Tagesgeschäft“ der Patagonier unmöglich machen. Wie soll ein unter Herzbeschwerden und dauernden Schmerzen leidender Mensch etwa weite Strecken zu Fuß zurücklegen, wie es für einen Nomaden zwingend ist?
Zum Glück ist es völlig unrealistisch, dass ein krankhaft riesenwüchsiges und somit dauernd leidendendes Volk entsteht. So ist nur einer von ca. 25.000 Erwachsenen durch Akromegalie betroffen. Gigantismus ist noch seltener: Medizinhistorisch sind in den USA bis heute nur etwa 100 Fälle bestätigt.
Fazit
Die historischen Quellen widersprechen sich gegenseitig sehr stark. Mal sollen die Patagonier normalwüchsige, oft aber auch sehr große Menschen sein. Dazu kommen noch vereinzelt Berichte von einem Volk märchenhafter Riesen. Die letztgenannten Schilderungen beruhten aber mehr auf – absichtlich oder unabsichtlich gestreuten – Gerüchten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Patagonier mit der Sprachgruppe der Tehuelche identisch oder zumindest Teil dieser Sprachgruppe. Die Tehuelche wurden ab dem 19. Jahrhundert auch wissenschaftlich untersucht. Mögen die Standards der damaligen Forschung auch nicht einmal ansatzweise den heutigen genügen, steht eines fest: Sehr extrem kann der Riesenwuchs der historischen Sprachgruppe nicht ausgeprägt gewesen sein – sonst wäre er erwähnt worden.
Auch sonst spricht Einiges dafür, dass die Größenunterschiede zwischen Europäern und Patagoniern in einigen Berichten stark übertrieben wurden. Die durchschnittliche Körpergröße europäischer Männer variierte im Laufe der Jahrhunderte zwar messbar, aber nicht extrem. So können also keine sehr kleinen Europäer auf aus heutiger Sicht normalgroße Patagonier getroffen sein. Zugleich ist es aber auch sehr unwahrscheinlich, dass das Volk der Patagonier in seiner Gesamtheit riesenwüchsig war.
Es ist also davon auszugehen, dass Erzählungen über die patagonischen Riesen mehr Fiktion als Fakt sind. Möglicherweise waren die amerikanischen Indigenen tatsächlich etwas größer, als die Europäer. Die vielfache Weitererzählung verfälschte anschließend die tatsächlichen Beobachtungen.
Wer dagegen der Meinung ist, dass die Patagonier wirkliche Riesen gewesen sein sollen, steht momentan ohne Beweise da. Die müssen erst noch gefunden werden.
Quellenverzeichnis
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