
Völker, wie sie noch niemals ein Mensch gesehen hat… Heute vermutet man sie am ehesten im Weltraum. Manche Ufologen wollen auch Indizien gefunden haben, dass uns umgekehrt bereits außerirdische Kulturen besuchen. Abschließende Beweise fehlen freilich noch.
Jedenfalls aber erwarten heutzutage die wenigsten Menschen mehr, dass auf fernen Inseln, in tiefen Dschungeln oder hohen Gebirgen wahre „Monster“-Völker zu finden sind. Zu absurd ist der Gedanke, dass allzu extreme Abweichungen zwischen den verschiedenen Völkern der Erde existieren.
Im 16. Jahrhundert, also im Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas, war das noch völlig anders: Man erwartete nicht nur „exotische“ Völker, sondern hielt es auch für völlig glaubwürdig, dass diese ganz monströs waren. Nun ist der Begriff des „Monsters“ in der heutigen Zeit unpassend, um einen Menschen seines Körpers wegen zu betiteln.

Wenn es aber wahr ist, was europäische Entdecker über den Landstrich Patagonien im Süden Südamerikas berichteten, sei ihnen ihre derbe Ausdruckweise verziehen. Dort soll nämlich ein Volk gelebt haben, dessen Angehörige wahre Riesen waren. Ein erwachsener Europäer soll ihnen manchen Berichten zufolge kaum mehr als zu den Hüften gereicht haben!
Doch selbst im 16. Jahrhundert gab es schon Skeptiker, die nicht an die Existenz von drei (oder noch mehr!) Meter großen Riesen glauben wollten.
Ziel dieses Artikels ist es, das vorhandene Wissen zum legendären Volk der patagonischen Riesen zusammenzuführen. Dabei werden zeitgenössische Berichte von Kolonisten ebenso beachtet, wie spätere Untersuchungen. So kann der Versuch unternommen werden, die Patagonier mit einem – vielleicht noch heute – real existierenden Volk zu identifizieren. Zusätzlich werden auch zwei Möglichkeiten beleuchtet, wie tatsächlich „kleine“ Europäer auf „riesige“ Patagonier getroffen sein könnten.
Letztlich stellt sich die Frage: Wie realistisch kann die Behauptung sein, dass in Patagonien Riesen existier(t)en? Sind sie Fakt oder Fiktion?

Pigafetta contra Drake: Von Riesen, Seemannsgarn und Kolonialinteressen
Ihren Anfang nahm die Geschichte von den Patagonischen Riesen durch einen Reisebericht des Italieners Antonio Pigafetta. Er war mit dem portugiesischen Generalkapitän Magellan und dessen Flotte 1519 zu einer Weltumrundung aufgebrochen, um neue Kolonien zu erschließen. Der Italiener und sein portugiesischer Vorgesetzter handelten dabei aber nicht etwa im Auftrag der portugiesischen, sondern der spanischen Krone.
Zu einem nicht genau definierten Zeitpunkt – allerdings definitiv vor Magellans gewaltsamen Tod 1521 – hatte Pigafetta die Gelegenheit, einen Teil des heutigen Argentiniens zu besuchen. Patagonien, so nannte er dieses Gebiet.
Dabei traf er nach eigenen Angaben auch auf Menschen von unglaublicher Größe – die Patagonier. Die Begegnungen bis zu einem jähen, durch die Spanier verschuldeten, Ende beschreibt er in seinem Reisebericht.
Ja, wirklich unglaublich waren diese Menschen – oder auch unglaubwürdig. Etwa hundert Jahre später wurden Pigafettas Behauptungen nämlich von den Briten dementiert. Auch hierzu existiert ein schriftliches Zeugnis, das von Francis Drake verfasst wurde. Der war wiederum ein Neffe Francis Drakes, des deutlich bekannteren, britischen Freibeuters.
Pigafettas Beschreibung der Patagonier
Zunächst einmal zurück zu Pigafetta. Eines Tages entdeckte die Mannschaft Magellans an der Küste einen tanzenden Mann. Pigafetta beschreibt ihn übrigens einerseits als nackt, andererseits soll er aber auch einen Fellmantel getragen haben. Jedenfalls nahm man mit Händen und Füßen Kontakt zu diesem Mann auf.
Pigafetta beschreibt den Tänzer im Speziellen wie folgt:
„Er war so groß, dass wir ihm bis zum Gürtel reichten, und gut gebaut. Er hatte ein großes Gesicht, das ganz rot bemalt war, rund um die Augen jedoch gelb und mit zwei gemalten Herzen mitten auf den Wangen. Die wenigen Haare, die er besaß, waren weiß gefärbt. Er war in die fein zusammengenähten Felle eines Tieres gekleidet.“
(Pigafetta o.D., Übers. d. Christian Jostmann)
Der „Nackte“ trug neben seinem Mantel auch Schuhe. Beiderlei Material wurde im Nachhinein als Guanako-Pelz identifiziert. Sonst soll die Ausrüstung der Patagonier eher spärlich gewesen sein; ihre Waffen bestanden lediglich aus Pfeil und Bogen. Da die Patagonier eine steinzeitliche Kultur waren, fertigten sie die Spitzen ihrer Geschosse aus Feuerstein.

Pigafettas Ansicht nach waren die Patagonier grenzenlos primitiv, aber keinesfalls bösartig. Seinem Bericht nach zu urteilen wollte er sie wohl als Kinder in Riesenkörpern betrachten. So sollen sie die europäischen Entdecker prompt als Gesandte der Götter verehrt haben. Magellan wollte dieses unterbinden und brachte ihnen einige Wendungen christlicher Prägung bei.
Dass mindestens einer der Patagonier anschließend „Pater noster“ („Vater Unser“, bloß die beiden Worte, nicht das Gebet) sagen konnte, änderte freilich nichts an seinen Glaubensvorstellungen. Leider fasst sich Pigafetta an dieser Stelle sehr kurz. Außer dem Begriff „Setebos“, der vielleicht eine Art Gottheit oder Geistwesen beschreiben sollte, überliefert er kaum etwas Konkretes von den Glaubensvorstellungen dieses Volks.
Eine gescheiterte Entführung
Weil ihm die Riesen als besondere Kuriosität erschienen, entschloss sich Magellan, einige von Ihnen gefangen zu nehmen. Er wollte sie im Anschluss an seine Weltumrundung dem spanischen Königshaus schenken.
Laut Pigafetta überlistete er die Eingeborenen, die den Europäern an Körperkraft überlegen waren. Da die Verhältnisse zwischen den Spaniern und Patagoniern bis dahin friedlich waren, konnten die Ersteren mühelos eine Gruppe der Letzteren auf eines ihrer Schiffe locken. Dort macht man den Patagoniern Glauben, dass es sich bei eisernen Fußfesseln um Schmuck handelte.

Zwei der nun wehrlos gemachten Patagonier wurden entführt, zwei weitere konnten entweder entkommen oder wurden freigelassen. Die Formulierungen in Pigafettas Bericht sind dabei etwas mehrdeutig. Ursprünglich wollten die Spanier wohl neben Männern auch Frauen entführen, wobei ihnen die zwei später geflohenen Gefangenen behilflich sein sollten. Dieser Versuch führte aber bloß zu einem Kampf, in dem ein Spanier zu Tode kam.
Wie Pigafetta selbst schreibt, kam letztlich keiner der beiden Riesen in Spanien an. Nach einiger Zeit auf hoher See waren sie krank geworden und gestorben. So blieb nur eine Vokabelliste von ihnen übrig, die Pigafetta angelegt hatte. Sie stellt die patagonischen Entsprechungen verschiedener spanischer Wörter dar.
Die wundersame Schrumpfung der patagonischen Riesen
Als etwas weniger als 60 Jahre später – im Jahr 1577 nämlich – Francis Drake mit seiner Mannschaft in Patagonien ankam, schien diese Entführung immer noch nachzuwirken. Der Engländer beschreibt die Einheimischen als äußerst misstrauisch, auch aggressiv.

Schon kurz nach der Ankunft der Freibeuter schlug die Stimmung um und es kam zum Gefecht. Drake selbst war der Meinung, dass das Misstrauen der Patagoniern gegenüber den Europäern Magellans Schuld war. Ob sich nun die Engländer so viel diplomatischer verhielten, sei dahingestellt.
Viel wichtiger als Beschreibungen gewalttätiger Auseinandersetzungen ist nämlich Drakes Beschreibung der Patagonier.
„Magellan war nicht völlig einer Täuschung erlegen, als er sie Riesen nannte. Denn im Allgemeinen unterscheiden sie sich von der gewöhnlichen Sorte Menschen sowohl in Statur, Größe und Körperkraft, als auch in der Abscheulichkeit ihrer Stimme. Sie sind aber nicht ansatzweise so monströs, so riesig, wie sie beschrieben wurden. Es gibt nämlich einige Engländer, die ebenso groß wie die Größten unter denjenigen waren, die wir sehen konnten. Aber leider glaubten die Spanier wohl nicht, dass jemals irgendein Engländer hierher kommen würden, um sie zu widerlegen und daher waren sie geneigt, desto wackerer zu lügen.“
Drake (1628), Übers. d. Verf.
Soll das schon das Ende sein?
So standen sich also zwei völlig widersprüchliche Behauptungen gegenüber. Man könnte sich nun zurücklehnen und die letztere einfach als Fakt anerkennen. Man könnte sich aber auch fragen, was Drake vertrauenswürdiger macht, als Pigafetta?

Pigafetta hatte natürlich Grund genug, die Größe der Einheimischen zu übertreiben. Schließlich wollte Magellan Patagonien für die spanische Krone in Besitz nehmen. Je größer die vermeintlichen Wunder in Patagonien waren, desto wertvoller erschien dieses Land. Dass (vorläufig) gar keine Patagonier nach Europa gelangten, hätte seine Lüge erleichtert.
Bloß hatte auch Drake Grund genug, die Entdeckungen der Spanier kleiner zu machen, als sie tatsächlich waren. Schließlich war das British Empire ebenfalls eine Kolonialmacht, die in arger Konkurrenz zum Königreich Spanien stand. Der Engländer Drake führte diesen Kampf gegen Spanien vor allen Dingen durch Kaperfahrten. Warum aber sollte er neben den physischen nicht auch zu verbalen Waffen gegriffen haben?
So würde es sich also zumindest lohnen, noch einige weitere Stimmen zu den Einheimischen Patagoniens anzuhören und erst dann ein endgültiges Urteil zu fällen.

Weitere historische Berichte zu den patagonischen „Riesen“
Die Vorstellung von Riesen, die die unerforschten Regionen dieser Welt bewohnen könnten, fasziniert Viele. Bis ins 19.Jahrhundert hinein schien die Existenz solcher Menschen aber keine bloße Träumerei, sondern beinahe schon Fakt zu sein.
So braucht es nicht zu verwundern, dass sich verschiedene Reisende der Frage annahmen, wie groß die Patagonier denn nun wirklich waren. Einige ihrer Berichte werden nachfolgend zusammengefasst:
John Hawkesworth (1773)

Gab es nun also Riesen in Patagonien? Einen Bericht des Engländers John Hawkesworth kann man auf verschiedene Art interpretieren. Der begleitete den Seefahrer John Byron (nicht der romantische Poet, sondern dessen Großvater) auf einer Weltumseglung. Ziel war wie so oft die Inbesitznahme neuer Ländereien für die englische Krone.
Die folgenden zwei Zitate vermitteln einen Eindruck davon, wie Hawkesworth die Patagonier wahrnahm:
„Ich habe [einen Häuptling der Patagonier] nicht gemessen, aber müsste ich seine Größe durch das Verhältnis seiner Statur zur meiner beurteilen, konnten es nicht weniger als sieben Fuß [ca. 2,10m] sein.“
„Mr. Cumming kam mit dem Tabak und ich musste einfach über das Erstaunen lächeln, das er durch sein Verhalten ausdrückte, als er sich – obgleich sechs Fuß zwei Zoll [ca. 1,9m] groß – wie ein Zwerg unter Riesen erschien.“
Hawkesworth (1773), Übers. d. Verf.
Interessanterweise sieht die Website „Museum of Hoaxes“ in solchen Aussagenden den Beweis, dass die Patagonier kein Volk von Riesen waren. Der (die?) skeptisch eingestellte(n) Betreiber der Website werfen zum Vergleich Behauptungen aus dem 18. Jahrhundert in den Raum, nach denen die Patagonier bis zu 12 Fuß (3,7m) groß gewesen sein sollen.
Diesen Angaben wird im Bericht Hawkesworths klar widersprochen. Ihm war schon klar, dass diese Menschen keine märchenhafte Körpergröße erreichten. Trotzdem bezeichnet er sie ausdrücklich als Riesen.
Für diese abweichende Definition vom Begriff des Riesen bietet er zweierlei Rechtfertigungen: Zunächst einmal soll eine Höhe von etwa zwei Metern nicht die Ausnahme, sondern die Regel gewesen sein. Dazu kam dann auch noch, dass die Patagonier wohlproportioniert waren, was bei riesenwüchsigen Europäern eher selten vorkam. Schon dadurch wirkten sie ungleich beeindruckender
D’Orbigny (1828)

Der Franzose Alcide Dessalines d’Orbigny bereiste in den 1820er Jahren verschiedene Länder Südamerikas. Dabei machte er auch in Patagonien halt, welches er sogar vom restlichen Argentinien getrennt behandelt.
Er traf also auf ein Volk, dass in seinen Lebensgewohnheiten den Patagoniern ähnlich war. Allerdings deckten sich d‘Obignys Beobachtungen kaum mit denen Pigafettas. Erwartet hatte er nämlich:
„[…] [die] Gegenwart der berühmten Patagonier des Ritters Pigafetta, Begleiter des Magellan und des Kommandanten Byron, dieser Menschen, ‚die so groß sind, dass ihnen die Europäer nur bis zu den Hüften reichen‘ oder die auch mehr als neun Fuß groß sind; der Kolosse von drei Ellen [sic!] Länge, die den Zyklopen ähneln oder auch Menschen von zehn bis elf Fuß, die wild sind […]“
D’Orbigny (1849-1853), Übers. d. Verf.
Diese Erwartungshaltung wurde aber nicht erfüllt. D’Orbigny traf zwar auf Menschen, die er im Nachhinein klar als Patagonier identifizieren konnte – seine Methode wird später noch besprochen. Doch dieses Volk machte einen wenig spektakulären Eindruck:
„Bei ihrem Anblick hatte ich Grund, zu zweifeln, dass sie Angehöriges desselben Volkes waren, wie die, von denen bei den Autoren die Rede war, die ich eben zitiert habe. Ich habe nämlich in ihnen keine Riesen gesehen, sondern bloß schöne Menschen.“
D‘Orbigny (1849-1853), Übers. d. Verf.
Thomas J. Hutchinson (1869)

Die Angaben d’Orbignys stützte knapp 40 Jahre später der Brite Thomas Hutchinson. Dieser war Mitglied der „Ethnological Society of London“. In seinem Bericht für deren (wohl periodisch erscheinende) Publikation „Transactions of the Ethnological Society of London“ übersetzt er in erster Linie d’Orbignys Beschreibungen der Patagonier.
Allerdings ergänzt er diese Übersetzung auch um einige eigne Erkenntnisse. Er hatte nämlich die Gelegenheit, bei einem Besuch in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires (durch einen Übersetzer) ein kurzes Gespräch mit Patagoniern zu führen.
Zu deren Gestalt wusste Hutchinson Folgendes zu sagen:
„Ich habe allerdings auf den ersten Blick einen Unterschied bezüglich ihres männlichen Verhaltens und ihrer körperlichen Entwicklung im Vergleich zu den Mocovis erkannt. […] Die Körpermasse des führenden Kopfes, Francisco und des Jägers, Kilcham, war zumindest gewaltig, aber nicht ansatzweise von einer so riesenhaften Statur, wie wir sie mit dem Namen „Patagonier“ in Verbindung zu bringen gelernt haben.“
Hutchinson (1869), Übers. d. Verf.
Der zweite Teil dieses Beitrages erscheint am 5. Januar 2023