Satyrn in Neu England – Vier Begegnungen und kein Todesfall

 

 

Die Neuenglandstaaten gelten als die „europäischsten Staaten“ der USA. Sie wurden mit als erste von britischen Einwanderern besiedelt, deren stolze Traditionen sich bis heute erhalten haben. Heute bringt man sie eher mit den traditionsreichen „Ivy-League“-Universitäten, „altem Geld“, aber auch dem Indian Summer zusammen – und zahlreichen grenzwissenschaftlich bekannten Ereignissen.

Im Gegensatz zu anderen Teilen der USA sind diese Ereignisse in ihrer Substanz europäisch. Sie gehen nicht auf indigene Mythen und Erzählungen zurück oder basieren auf Ideen, die in der neuen Welt entstanden. Ihre Substanz haben die Siedler aus ihren Herkunftsländern mitgebracht.

Als einer der ersten „Vorfälle“ dieser Art gelten die Hexenprozesse von Salem. Ausgehend vom Örtchen Salem in Massachusetts wurden 1692 in vielen Orten Neuenglands innerhalb weniger Monate über 400 Menschen der Hexerei bezichtigt. 20 Beschuldigte wurden hingerichtet, 55 haben unter der Folter Falschaussagen gemacht, weitere 150 wurden inhaftiert. Sie basieren auf den schwedischen Hexenprozessen der 1660er und 1670er Jahre.

 

 

Farm in Massachusetts
Liebliche, aufgeräumte Landschaften und hübsche Gebäude…

Massachusetts im Herbst
und der Indian Summer, dafür ist Neu England bekannt.

Weiter in diese Gruppe gehören auch die Kontakte mit dem Dover Demon, die 1977 in Dover, Massachusetts stattfanden, ebenso wie der Jersey Devil, die beide unverständlicherweise immer noch als Kryptide geführt werden. Näher an den Beobachtungen ist der Goatman of Maryland, eine Legende, die mindestens in die 1950er Jahre zurückgeht. Im Beltsville Agricultural Research Center (BARC), dem wichtigsten Landwirtschafts-Forschungszentrum der US-Regierung ging ein Versuch schief. Ein Wissenschaftler wurde dabei mit Ziegen „vermischt“ (durch was auch immer), so dass eine Mischkreatur aus Mensch und Ziege geschaffen wurde. Diese Kreatur, die einem Satyr ähnelt, zieht durch die Wälder und greift Autos an, insbesondere solche mit Teenager-Pärchen, die gerne ein wenig alleine sein möchten.

Faun
Ein Faun

Dürers Satyr-Familie
So stellte Dürer 1505 eine Satyr-Familie dar

Jersey Devil
Der Jersey-Devil nach einer Zeichnung der Philadelphia Post von 1909

 

Die erste Faun-Beobachtung und ein Zitat

Dieser Bericht stammt aus Joseph Citros „Vermont Monster Guide“ von 2009. Das Buch ist in Deutschland leider nur zu horrenden Preisen zu haben. Wer zufällig in den USA oder Großbritannien ist, sollte in einem Antiquariat oder einer Buchhandlung danach suchen. Übersetzt schreibt Citro folgendes:

In den frühen 1960ern berichteten die Bewohner von „Mt. View development“ in Jericho ein halb menschliches, halb Ziege-Monster. (…) Es spähte in Fenster, lauerte in Themes herum, verängstigte jeden – und verschwand. Einige Leute sagen, es sei zum nahen Mt. Mansfield geflohen, wo es immer noch zwischen Felsen und Bäumen lebt.

Citro führt das Ganze nicht näher aus. Peter Muise vom Blog  „New England Folklore“ nennt diesen Vorfall ebenso und führt einen Bericht bei der bfro, der Bigfoot Research Organisation auf, dessen Daten er nicht kennt. Nach kurzer Suche kam der Autor auf bfro Media Article # 398. Hier bezieht sich der Autor auf den Liberty County, Texas. In diesem Media Article zitiert die bfro auf eine nicht mehr im Netz befindliche Seite von i-dineout.com:

Wieso Texas?

Nach dieser Seite sollen Leute aus der Gegend um Dayton, Texas, genauer der Landstraße 1409. Hier haben Anwohner die Polizei gerufen, weil sie eine kleine Kreatur in der Nachbarschaft sahen, die sie als Monkey Man bezeichneten. Der Webmaster war skeptisch, hat den örtlichen Sheriff kontaktiert, der Berichte des „Monkey Man of 1409“ bestätigte. Die Straße, in dessen Nähe er auftrat war die Kreuzung mit der County Road CR 450 und die Straße selbst. Auf Patrollen konnte das Wesen aber nicht gesichtet werden.

Ziege
Portrait einer Ziege, unsicher ist, wie sie sich mit Menschen zum Goatman vermischt haben soll.

Liberty County
Pfad durch die dicht bewachsene Sumpfregion beim Day Lake (Foto: Carol Highsmith)

Statt dessen hatte der Zeuge einen Kontakt mit dem Wesen. Er war Bogenfischen (Fischjagd mit Pfeil und Bogen) von einer Brücke am Day Lake. Dies will der Zeuge nicht wiederholen. Er schreibt:

„Da ist etwas in der Gegend um den See. Ich weiß nicht was, aber es ist weder menschlich noch tierisch. Etwas wie ein Wildschwein, das auf seinen Hinterbeinen läuft. Glaubt mir, ich bin Jäger und ich habe noch nie ein Wildschwein auf den Hinterbeinen laufen sehen.“

Derselbe Zeuge bezieht sich noch auf die 1960er und 1970er Jahre, als es Gerüchte eines Wesens, halb Mensch, halb Ziege aus der Gegend um den Day Lake und die Straße 1409 gegeben hat. Jeder in der Schule gab an, das Wesen gesehen zu haben. Der Zeuge erzählt, dass er viele schöne Stunden in der Gegend verbracht hat, aber ohne das Wesen selbst zu Gesicht bekommen zu haben.

Anmerkung:

Bemerkenswert ist hier erneut die Ähnlichkeit zu einer Legende. Die Old Alton Bridge liegt etwa 400 km nördlich bei Dallas, Texas. Laut der Legende zog ein afro-amerikanischer Ziegenzüchter in die Umgebung, war dort mit seinem Unternehmen sehr erfolgreich und wurde allgemein geachtet. 1938 war dies den Männern vom lokalen Ku-Klux-Klan zuviel, einen wohlhabenden Schwarzen wollte man nicht dulden. Also schleppte man ihn zur Brücke, wo man ihm ein Seil um den Hals legte und ihn herunter stieß. Als die Klansmen das Seil wieder erblickten, war die Schlaufe leer. In Panik fuhren sie zu seiner Familie und ermordeten Frau und Kinder.
Seit dem erscheinen, so die Legende, seltsame Lichter und geisterhafte Figuren in den Wäldern in der Umgebung der Brücke. Zeugen berichten von unklaren Berührungen, tastenden Händen und dass sie mit Steinen beworfen wurden. Wer nachts mit ausgeschalteten Scheinwerfern über die Brücke fährt, soll einen Kontakt mit dem „Goatman“ bekommen.

Das Motiv der Beobachtung ist sehr ähnlich. Eine Brücke, der Ziegenmensch, umgebende Wälder, in denen irgend etwas ist. Der Zeuge von i-dineout schreibt von sich, dass er erst vor kurzem in diese Gegend gezogen sei. Woher? Zufällig aus der Gegend von Dallas?

Eine ähnliche Legende, wenn auch mit anderem Entstehungsmythos stammt aus Kentucky, wo das Pope-Lick-Monster, ebenfalls ein Ziegenmensch sein Unwesen treiben soll.

Die zweite Beobachtung

Die zweite Beobachtung ist etwa 15 bis 20 Jahre jünger und stammt aus den späten 1970ern. Zeuge war hier ein elfjähriger Junge aus Sandwich, Massachusetts. Er sah an einem grauen Dezembertag fern. Der Fernseher stand an einer Wand zwischen zwei Fenstern zum Garten und dem dahinter liegenden Wald. Irgendwann sah er eine humanoide Kreatur mit sehr haarigem Gesicht, die ihn durch das Fenster ansah. Der Junge schätzte sie auf 5 Fuß (1,52 m). Als er anfing zu schreien, grunzte das Wesen und verschwand im Wald. Als sich der Junge beruhigt hatte, rief er seine Freunde an.

Zunächst glaubte er, einer seiner Freunde hätte ihm einen Streich gespielt, aber sie verneinten alle. Zwei Freunde kamen rüber und gemeinsam untersuchten sie den Garten. Das Wesen war längst im Wald verschwunden, aber sie fanden die Fußabdrücke im Schnee. Sie zeigten eindeutig gespaltene Hufe.

Bewertung:

Auch diese Beobachtung wurde von Peter Muise gesammelt, ohne jede Quellenangabe. Bei der Beurteilung ist also ein wenig Vorsicht geboten. Wie Muise hätte auch ich am Ende die typischen Bigfoot-Fußabdrücke erwartet. Die gespaltenen Hufe sind ungewöhnlich, zumal sonst von dem Wesen nichts Huftierartiges aufgefallen ist. Man hätte auch hier eine Parallele zum Dover Deamon erwartet, aber auch diese gab es nicht: weder ein pferdeartiges Gesicht noch Lederflügel. Statt dessen wieder die Neugierde, die von den beiden Wesen aus Jericho und vom Day Lake bekannt sind. Mögen es Satyre, anderen Leuten ins Fenster zu gucken?

Die dritte Beobachtung

Hierzu bezieht sich Muise wieder auf eine Quelle. Die „New England Graveside Tales” von T.M. Gray berichten aus den 1950ern, als ein Einheimischer seinen Pickup durch die Wälder vor Cherryfield, Maine fuhr. Da er am Morgen getankt hatte, wunderte er sich, dass sein Auto auf einer einsamen Straße ausfiel. Als er den Benzintank nachprüfte, war dieser leer, aber ohne Anzeichen eines Lecks. Noch als er darüber rätselte, sah er etwas, das sich aus dem Wald näherte. Zuerst wollte er um Hilfe bitten, aber dann sah er, dass sich kein normaler Bürger von Maine näherte:

Die Person war männlich und trug, wie damals üblich, ein rotes Flanellhemd. Seine Beine waren nackt, dicht behaart und waren wie Ziegenbeine geformt. Zwei Hörner wuchsen aus seiner Stirn. Er hatte spitze Ohren eines Tieres.

50er Jahre Pickup
Typischer Pickup der damaligen Zeit, aber als gut gepflegter Oldtimer

Massachusetts
Wald und See im Indian Summer

Der Ziegenmann ging auf die Straßenmitte, lächelte den Zeugen an, dann überquerte er die Straße und verschwand im Wald auf der anderen Seite. In seiner Panik sprang der Zeuge ins Auto, verschloss die Tür und versuchte zu starten. Der Motor sprang an und er konnte nach Hause fahren. Als er seinen Benzintank erneut überprüfte, war der voll.

Bewertung:

Muise bewertet diese Geschichte anders. Hier offenbart der Ziegenmann magische Fähigkeiten, indem er das Auto ausfallen lässt. Damit ist der Ziegenmann kein genetischer Mutant oder ein Wesen innerhalb der Naturwissenschaften, sondern etwas Paranormales oder Spirituelles. Insbesondere das Flanellhemd hält Muise für etwas Spezielles. Es charakterisiert den Satyr als Mainer, zieht aber auch einen Bogen zu anderen flanelltragenden Entitäten, so Muise. Er nennt hier eine Spukerscheinung namens „The Flannel Man“ und einen geisterhaften, rothaarigen Anhalter auf der Route 44 in Massachusetts. Angeblich soll sogar der Bigfoot in Maine Flanellhemden tragen.

Gesamtfazit

Wenn ich mir die drei bzw. vier Beobachtungen ansehe, haben sie kaum etwas gemeinsam, außer dass von einem eher kleinen, 4 bis 5 Fuß großen, behaarten Wesen gesprochen wird. In der ersten Beobachtung wird das Wesen als halb Ziege, halb Mensch beschrieben, ohne dass irgendjemand genauer darauf eingeht, welche Hälfte von welchem Lebewesen stammt. Die Wesen aus Texas haben Schweinebeine, scheinen aber sonst menschlich zu wirken. Der von dem Elfjährigen aus Sandwich beobachtete Satyr hatte ebenfalls keine Hörner, sondern wirkte in der Beschreibung wie ein junger Bigfoot – lediglich hinterließ er „unpassende“ Fußspuren.

Nur der Satyr aus Maine zeigte sich als „vollständiger“ Satyr, mit lokalem Touch und übernatürlichen Elementen. Keine der Begegnungen, egal ob in Neuengland oder in Texas führt zu echten Konsequenzen, immer sind es nur – offenbar gewollte – Begegnungen, die ohne dauerhafte physische Beweise ablaufen. Und selbst wenn es Spuren gäbe: Was sollen schon Abdrücke von gespaltenen Hufen beweisen, wenn sie in einem Gebiet vorkommen, das vor Hirschen (bzw. Wildschweine in Texas) nur so wimmelt?

Muise führt an, dass eine Intention der Satyre darin bestehen könnte, die Menschen daran zu erinnern, dass ihnen die Welt nicht alleine gehört. Doch dann stellt sich die Frage, wieso sie in drei von vier Fällen nur unvollständige Charakteristika zeigen? Doch nicht nur die physischen Eigenschaften fehlen, auch die Pan und seinen Satyrn eigene Verhaltensweisen zeigt nur der Satyr von Maine im Ansatz: Sie sind Götter bzw. Geister der Freude, des Tanzes, Gesang und Musik – und der Trunkenheit. Sie sind laut, fröhlich und spielen Menschen gerne Streiche.

Satyr-Maske
Satyr-Maske aus der alemannischen Fastnacht

Satyr aus Carnival Row
So stellen sich die Macher von Carnival Row einen Sartyr vor (Bild: imdb)

Der Streich mit dem leeren Tank fällt im Vergleich zu anderen Erzählungen eher halbgar aus. Weniger halbgar erscheint seine „Markierung“ als Einheimischer. Das Flanellhemd bei der Begegnung in Maine war mit Sicherheit kein Zufall. (Gedankennotiz an mich: Wenn ich nach Maine fahre, Flanellhemden einpacken).

Der Zeitpunkt

Wieso kommen diese Beobachtungen jetzt an die Öffentlichkeit? Zugegeben, zwei von ihnen sind in nicht zu alten Büchern erschienen, eine ist in einem Polizeibericht festgehalten – stammt aber aus einer Gegend 2500 km südwestlich. Die dritte Begegnung ist nicht zitierbar. Mir erscheint nach dieser Zusammenfassung willkürlich, wieso sich Peter Muise die ersten zwei bzw. drei Beobachtungen zur Unterstützung des letzten Vorfalls herausgreift. Bei den ersten dreien ist außer durch die Tierbeine bzw. die Bezeichnung Goatman kein Zusammenhang mit dem Satyr der letzten zu finden. Sie unterscheiden sich fundamental im Verhalten, Aussehen und Auftreten.

Durch Carnival Row kamen die Sartyre, Elfen und viele andere Fabelwesen wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit

Ein Handlungsstrang: der Sartyr Mr. Agreus kämpft um gesellschaftliche Anerkennung. (Bild: imdb)

Könnte es sein, dass die Ausstrahlung der Amazone-Prime-Serie „Carnival Row“ mit der Meldung auf der Seite der „New England Folklore“ nicht nur zufällig zeitlich zusammenhängt? „Carnival Row“ ist eine sehr düster gezeichnete Steam-Punk-Fantasy: Elfen, Satyrn und andere Fabelwesen sind real und leben als Kriegsflüchtlinge in einem inselartigen Stadtstaat mit Menschen zusammen. Eine der wichtigsten Nebenrollen ist der Satyr (Mr.) Agreus, meisterhaft gespielt von David Gyasi. Er ist zu Geld gekommen und muss nicht, wie die meisten Satyrn und Elfen ums Überleben kämpfen, sondern kämpft um gesellschaftliche Anerkennung. Er stellt die den Satyrn nachgesagte, unbändige „Männlichkeit“, unter einer dünnen Decke der Zivilisiertheit gebändigt, hervorragend dar.


Literatur:

Bigfoot Research Organisation: Artikel 398

Citro, Joseph A.: The Vermont Monster Guide; University Press of New England, 2009

Gray, T.M.: New England Graveside Tales; Schiffer Publishing, Ltd. 1. Aufl. 2010

i-dineout.com, die aktuelle Seite geht nur wenige Jahre zurück

i-dineout zum Monkey Man vom 14.07.2003 als Kopie im Webarchive.

New England Folklore zum Thema Satyre in Neu England

Wikipedia zur „Old Alton Bridge