Seeungeheuer im heiligen Land 1/3 – See Genezareth

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Das heilige Land ist wohl die Region der Erde – neben Ägypten und Mesopotamien – mit der am besten und ausführlichsten dokumentierten Geschichte. Es verwundert nicht, wenn wir auch von dort, an den wohl bekannten biblischen Schauplätzen, Berichte über Seeungeheuer finden; man darf aber definitiv sagen, dass sich weder im See Genezareth, noch im Jordan oder im Toten Meer Kryptide verbergen – wäre es so, hätte man sie längst entdeckt.

 

See Genezareth

Lake Kinnereth (der „Harfen-See“, nach seiner Form), der biblische See Genezareth oder Tiberias, erstreckt sich im Norden Israels über 21 km Länge und 13 km Breite, mit einem Umfang von 53 km und einer Oberfläche von 168 km². Seine maximale Tiefe erreicht 42 m, im Durchschnitt 24 m. Das fruchtbare und fischreiche Gewässer liegt ganze 212 m unter dem Meeresspiegel. Es ist uns vor allem aufgrund der neutestamentlichen Geschichten über Jesu Leben und Wirken bekannt – von hier kamen die Fischer, die zu Jesu Jüngern wurden, hier standen die Dörfer und Städte, die in der Bibel genannt werden.

Alte Siedlung am See Genezareth
Historische Siedlung am See Genezareth

Wir sind nicht nur auf religiöse Quellen angewiesen, auch andere antike Schriftsteller haben Notizen über den See hinterlassen (etwa Strabo, Geographie 16,2,45; Josephus, Jüdischer Krieg, 2,635ff).

 

Es sind aber vor allem die zahllose Wunder Jesu, die mit dem See verbunden sind: die Sturmstillung (Mt 8, 23-27; Mk 4,37-41; Lk 8,22-25), das Gehen auf dem Wasser (Mt 14,25; Mk 6,48-51; Joh 6, 19-21; Anm. 1); die Münze im Fischmaul, ein altes Sagenmotiv (Mt 17,24-27) und der wunderbare Fischzug in mehreren Varianten (Lk 5,1-11, Joh 21,1-11).

Die Dämonenaustreibung

Am kryptozoologisch relevantesten, wenn auch über die Rezeption im bekehrten Europa, ist die Geschichte, wie Jesus die Dämonen austrieb. Dieses Vorbild lieferte die mythische Blaupause für Beschreibungen von Seedämonen in der Renaissance.

 

Boote auf dem See Genezareth
Die Boote haben sich in den letzten 2000 Jahren kaum verändert, nur der Sonnenschutz für die Touristen ist dazu gekommen.

 

Lukas beschreibt im 8. Kapitel (26-39) „die Heilung des besessenen Geraseners“:

 

 

„Und sie fuhren weiter in die Gegend der Gerasener, die Galiläa gegenüberliegt. Und als er ans Land trat, begegnete ihm ein Mann aus der Stadt, der hatte böse Geister; er trug seit langer Zeit keine Kleider mehr und blieb in keinem Hause, sondern in den Grabhöhlen. Als er aber Jesus sah, schrie er auf und fiel vor ihm nieder und rief laut:

 

‚Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes des Allerhöchsten? Ich bitte dich: Quäle mich nicht!‘ Denn er hatte dem unreinen Geist geboten, aus dem Menschen auszufahren. Denn der hatte ihn lange Zeit geplagt; und er wurde mit Ketten und Fesseln gebunden und gefangengehalten, doch er zerriss seine Fesseln und wurde von dem bösen Geist in die Wüste getrieben. Und Jesus fragte ihn: ‚Wie heißt du?‘ Er antwortete: ‚Legion‘. Denn es waren viele böse Geister in ihn gefahren. Und sie baten ihn, dass er ihnen nicht gebiete, in den Abgrund zu fahren. Es war aber dort auf dem Berg eine große Herde Säue auf der Weide. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaube, in die Säue zu fahren. Und er erlaubte es ihnen.

 

Da fuhren die bösen Geister von dem Menschen aus und fuhren in die Säue; und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See und ersoff. Als aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten es in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen die Leute hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und sie erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündeten ihnen, wie der Besessene gesund geworden war. Und die ganze Menge aus dem umliegenden Land der Gerasener bat ihn, von ihnen fortzugehen; denn es hatte sie große Furcht ergriffen. Und er stieg ins Boot und kehrte zurück.

 

Aber der Mann, von dem die bösen Geister ausgefahren waren, bat ihn, dass er bei ihm bleiben dürfe. Aber Jesus schickte ihn fort und sprach: ‚Geh wieder heim und sage, wie große Dinge Gott an dir getan hat.‘ Und er ging hin und verkündigte überall in der Stadt, wie große Dinge Jesus an ihm getan hatte.“

 

 

Im Mittelalter wurden die biblischen Landschaften auf Mitteleuropa übertragen, sowohl der Thuner See als auch der Genfersee galten als See Genezareth, nahe bei Luzern lag ein Berg, in dem der Dämon Pilatus gebannt wurde, und die Schweineherde des Gerasener fand ihre Ruhestätte im Seelisberger Seeli. Dort sah man Dämonen in Form einer Schweineherde unter Wasser, die spätere Autoren und Erzähler nach und nach in ein echtes Monster vom Typ Nessie verwandelten.

Dämonische Ungeheuer

Bei der bildlichen Darstellung der Stillung des Sturms auf dem See Genezareth wurde die Handlung allegorisch durch Ungeheuer und Dämonen personifiziert: So zeigt beispielsweise eine Illustration im Messbuch Kaiser Heinrichs, das um 900 von einem Mönch der Insel Reichenau gemalt wurde, die Bibelstelle Markus 4, 35–41; dabei ist das Schiff, auf dem sich Jesus und die Jünger befinden, in Form eines Seeungeheuers dargestellt. Sein zerrissenes Segel sieht aus wie die Schwanzflosse seines Riesenwals und der Bug des Bootes hat die Form eines drohend aufgerissenen Mauls. (Pfarrer Karl-Heinz Feldmann: Predigt über Markus 4,35-41; die Seite ist nicht mehr abrufbar). Ein Fresko aus dem Kloster Oberzell auf der Reichenau, das aus dem 10. Jahrhundert stammt, zeigt Jesus, wie er die stürmenden Wasser des Sees Genezareth besänftigt. Der See ist als Bodensee dargestellt, in dem gehörnte Winddämonen blasen. (Michel Meurger: Lake Monster Traditions. Fortean Tomes, S. 139)

See Genezareth
Die Gegend um den See wird intensiv landwirtschaftlich genutzt

Bis ins Mittelalter symbolisierten Ungeheuer im See Genezareth also dämonische Kräfte. Erst in jüngster Zeit wurden hier „echte“ Seeungeheuer gemeldet, diese folgten aber dem Erzähltyp vom „entlaufenen exotischen Haustier“.

Die entlaufenen Exoten

In der zweiten Julihälfte 1993 sorgten Beobachtungen eines „großen schuppigen Krokodils“ nahe den Stränden von Tiberias für eine Panik unter den Seeanrainern. Offizielle Stellen fahndeten zwei Tage lang mit Booten nach dem Untier, die Suche wurde schließlich wegen schlechtem Wetters abgebrochen. Der Parkranger Dina Weinstein meldete, er habe nach der Suche neue Berichte von zwei Familien erhalten, die er als glaubwürdig einstufte. „Wir vermuten, dass ein Alligator oder ein Krokodil hier lebt.“

 

See Genezareth

 

Loren Coleman wusste zu melden (Strange 12, S. 28), dass sich in der Nähe der größte Reptilienzoo Israels befindet. Tatsächlich geht die Homepage des Zoos auf die damaligen Sichtungen ein. Bei den Bädern von Hammat Gader gibt es nicht nur Ruinen, ein Spaßbad für Kinder und ein Thai-Restaurant, sondern auch eine Alligatorfarm: „1993 gab es Gerüchte, Alligatoren seien entweder durch Zufall oder durch beabsichtigte Sabotage in das Galiläische Meer entkommen; aber keine Sichtung und keine Jagd nach ihnen führte zu konkreteren Ergebnissen wie die Suche nach dem Ungeheuer von Loch Ness.“ (http://www.frommers.com/, auch diese Seite ist nicht mehr abrufbar.)

Oder doch natürlich vorkommende Tiere

Möglicherweise haben Berichte durch reale Sichtungen von Ottern diese Beobachtung inspiriert: Der Eurasische Otter kam bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Israel in allen Küstenflüssen vom Libanon bis zum Soreqfluss im Süden vor, ebenso im ganzen Jordan sowie im Hula-See und im See Genezareth. „Untersuchungen in den 1990er fanden heraus, dass er in den Küstenebenen praktisch völlig verschwunden ist, aber gesunde Populationen noch im Einzugsgebiet des Jordans inklusive des Sees Tiberias zu finden sind. Die Gesamtzahl in Israel wird auf nur 100 geschätzt.“ (http://www.otter.org/news/world6.html, die Seite ist nicht mehr abrufbar.)

 

Zu einer weiteren Panik wegen „entlaufener Exoten“ kam es im Dezember 1994, als Fischer drei rund 10 cm lange Piranhas aus dem See Genezareth zogen. Das Landwirtschaftsministerium teilte aber mit, bei den Fischen habe es sich nur um Pacus gehandelt, pflanzenfressende, mit dem Piranha verwandte Fische aus Brasilien. (INFO Journal 73,Sommer 1995, S. 49)

 

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Seichen im See

Im See Genezareth gibt es, wie in jedem größeren Gewässer, durch Luftdruckunterschiede hervorgerufene plötzliche Seespiegelschwankungen, die sogenannten Seiches. In alten Überlieferungen wird dieses Phänomen oft „Wellen ohne Wind“ genannt und von Kryptozoologen mit Seeungeheuerberichten verwechselt. Oberflächenseiches erscheinen wie eine kleine Ausgabe von Ebbe und Flut, allerdings mit schnellerem Rhythmus; sogenannte interne Seiches sind Riesenwellen, die unter Wasser zwischen Schichten unterschiedlich dichtem Wassers entstehen und werden von Augenzeugen natürlich nicht wahrgenommen. Vom See Genezareth kenne ich nur wissenschaftliche Arbeiten zu internen Seiches, die hier mit einer Periode von 24 h und einer Amplitude von 10 m auftreten können. (I. Ostrovsky, Y. Z. Yakobi, P. Walline, I. Kalikhman: Seiche-induced mixing: Its impact on lake productivity. Limnol.Ocean. 41(2), 1996, 323-332)

 

See Genezareth
Strand am See Genezareth

 

Erdbeben und Tsunamis

Seichephänomene können auch durch Erdbeben und Erdrutsche ausgelöst werden, man spricht dann von Tsunamis. So erzeugte das Erdbeben vom 18. Januar 749 einen Tsunami, der die Stadt Tiberias überschwemmte. (Shmuel Marco, Moshe Hartal, Nissim Hazan, Lilach Lev, und Mordechai Stein: Archaeology, history, and geology of the A.D. 749 earthquake, Dead Sea transform. Geology, August 2003, vol. 31, nr. 8, S. 665-668) Ein weiterer von Erdstößen ausgelöster Tsunami ereignete sich 1. Januar 1837, als ein starkes Erdbeben Israel und Syrien erschütterte. Damals gab es an der Küste Israels einen Tsunami, der 5000 Todesopfer forderte, und einen weiteren im Lake Tabariya, der arabische Name für den See Genezareth. (Y. Altinok et al.: Revision of the tsunami catalogue affecting Turkish coasts. Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 11, 273–291, 2011, dort Nummer 92)

Unterseeische Ruinen

Dazu passen verschiedene Meldungen, nach denen Unterwasserruinen im See entdeckt worden sind: Als im Frühjahr 2008 der Wasserspiegel im See aufgrund des geringen Winterniederschlags gesunken war, fand man auf dem Boden eine Reihe von runden Steinhaufen, die sich im jeweils gleichen Abstand von rund 30 m zueinander befanden. Jeder der Steinhaufen war einen Meter hoch und maß 10 Meter im Durchmesser, die Reihe zog sich 3 km lang von Zemach nach HaOn entlang des Ufers im Südosten. Ähnliche Steinhaufen wurden auch bei Tabha im Nordwesten gemeldet. Das Alter der Anlagen ist unbekannt, aber israelische Wissenschaftler denken, es handle sich Markierungen für römische Häfen, die die Tiefwasserzone anzeigen. (La Stampa 18. Juni 2008).

 

uraltes Siedlungsgebiet
Das Land um den See ist uraltes Siedlungsgebiet, auch unter dem heutigen Seespiegel.

 

Prähistorische Grabhügel

Ein weiterer Fund unter Wasser wurde 2013 bekannt – eine „riesige monumentale Steinstruktur“. Der kegelförmige Steinhaufen aus „unbehauenen Steinen und Blöcken“ wiegt an die 60.000 Tonnen, ist rund zehn Meter hoch und weist einen Durchmesser von 70 Meter auf. Bei der Struktur in zehn Metern Tiefe, rund 400 m vom Ufer entfernt, wo der Jordan aus dem See fließt, könnte sich um einen Grabhügel handeln. Sie wurde im Sommer 2003 bei einer Sonaruntersuchung im Südwesten des Sees entdeckt, heißt es in einem Bericht im „International Journal of Nautical Archaeology“.

„Eine genaue Untersuchung durch Taucher ergab, dass die Struktur aus scheinbar wahllos verteilten Basaltblöcken mit einer Länge von bis zu 1 m besteht. Die Felsbrocken haben natürliche Seiten ohne Zeichen von Sägen oder Meißeln. Wir haben auch keine Anzeichen von Umfassungen oder Wänden gefunden, die diese Struktur abgrenzen.“ Archäologen vermuten, dass der Steinhaufen auf trockenem Land errichtet und später durch steigenden Seespiegel versank.

 

„Die Form und Zusammensetzung der versunkenen Struktur ähnelt keinem natürlichen Objekt. Wir kommen daher zu dem Schluss, dass es von Menschenhand hergestellt wurde und als Cairn bezeichnet werden kann.“

Yitzhak Paz von der Israel Antiquities Authority und der Ben-Gurion-Universität glaubt, dass der Ort mehr als 4000 Jahre alt ist. „Am Wahrscheinlichsten stammt das aus dem dritten Jahrtausend v. Chr., weil weitere megalithische Phänomene [aus dieser Zeit] in der Nähe gefunden werden.“

und eine Megalith-Siedlung

Ähnliche Funde sind mit befestigten Siedlungen verbunden, und andere Megalithen befinden sich am See Genezareth, wie beispielsweise Khirbet Beteiha, etwa 30 km nordöstlich des untergetauchten Bauwerks. Dieser Kreis umfasst „drei konzentrische Steinkreise, von denen der größte einen Durchmesser von 56 m hat.“ Die Stätte befindet sich auch etwa eine Meile nördlich einer Stadt aus dem 3. Jahrtausend, die Archäologen als Bet Yerahby bezeichnen. Diese „mächtigste und am stärksten befestigte Stadt der Region und in ganz Israel“ hatte bereits bis zu 5000 Einwohner. (Link; 9 April 2013)

Sonnenuntergang am See Genezareth
Sonnenuntergang am See

Ein weiterer archäologischer Fund ist in unserem Zusammenhang interessant: Im See Genezareth gab es vor 1,4 Millionen Jahren Flusspferde, die von Menschen gejagt wurden – ihre Fossilien hat man am Ufer entdeckt. (Spiegel 5/2004, 2. Februar 2004, S. 146)

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