Seeungeheuer in Alpenseen

Lesedauer: etwa 7 Minuten
image_pdfimage_print
Der Urlaub naht, coronabedingt soll dieses Jahr der Urlaub im eigenen Land stattfinden. Doch in Deutschland soll ja kryptozoologisch nichts los sein. Unser Autor Ulrich Magin stellt in lockerer Folge nun aber Berichte von Seeungeheuern aus den Alpenseen im deutschsprachigen Bereich vor. Der Chiemsee, das bayerische Meer, macht den Anfang.

 

Die Redaktion

 

 

Sollte die psychosoziale Deutung von Seeungeheuern zutreffen – also die These, dass bekannte Mythologie, Erwartungshaltung und natürliche Reize dazu führen, dass Menschen Seeungeheuer sichten, dann müssten Monster in allen großen Seen beobachtet werden können. Vor Jahren machte ich mich daran, diese These an den Seen Mitteleuropas zu testen. Und siehe da – vom Starnberger See zu Bodensee, von den Eifelmaaren zum Traunsee, vom Lago Maggiore bis zu Gardasee – überall wurden Ungeheuer beobachtet, gemeldet, vermutet. Diese Allgegenwärtigkeit lässt sich kaum zoologfisch erklären, sei lässt sich nur deuten als Tendenz des Menschen, ihm unbekannte Reise zoologisch auszudeuten und alte Vorstellungen von Dämonen und Höllendrachen in Phänomen zu erkennen, die für andere Menschen alltägliche Wellen oder Wasservögel sind.

 

Enten auf dem Chiemsee
Die Wellen, die Wasservögel verursachen, sind bei ruhigem Wasser weithin sichtbar

Diese Tendenz kann sich in vielerlei Form äußern, von der Phantasterei über den Scherz bis zur ehrlichen Fehldeutung von Boots- und Seiche-Wellen als Ungeheuer. Um die Bandbreite an menschlichen Erfahrungen aufzuzeigen, die zu Ungeheuersichtungen führen, sollen hier stellvertretend fünf Alpenseen unter die Lupe genommen werden.

 

Chiemsee
Chiemsee mit Alpenpanorama

 

Das Ungeheuer vom Chiemsee

Es ist erstaunlich, wo überall schon Seeungeheuer gesichtet wurden. Wie ich in mehreren Beiträgen im „Kryptozoologie-Report“ bereits gezeigt habe, muss man nicht unbedingt nach Schottland oder zum Lake Champlain reisen, um zu einem Ungeheuersee zu kommen. Allerdings war auch mir neu, dass – wenn man von den obligatorischen Riesenwels-Geschichten absieht – auch der bayrische Chiemsee ein Monster haben sollte. So aber war es in mehreren spanischen Zeitungen (zum Beispiel La Vanguardia vom 25. August 1934, S. 21 und in der ABC, Sevilla, vom 25. August 1934, S. 31) zu lesen:

 

 

 

 

„Mehrere Ertrunkene bei Ungeheuerjagd. München 24, 17 Uhr. Eine nächtliche Jagd, um das Ungeheuer zu fangen, das im Chiensse [sic!] (Bayern) lebt, endete in einer wahrhaften Katastrophe. Als Folge eines Sturms sanken viele der teilnehmenden Kanus. Bis jetzt wurden drei Leichen geborgen, man fürchtet aber um viele weitere der verschwundenen Leute. –

 

United Press.“

 

 

Anzeige

Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht: Unsere Naturschätze. Wie wir sie wiederentdecken und retten können

Aus Liebe zur Natur ist Johanna Romberg vor Jahren aufs Land gezogen. Doch seit einiger Zeit vermisst sie vertraute Vogelstimmen im Garten, Schmetterlinge und Bienen machen sich rar, und in den Wäldern vertrocknen die Buchen. Verlieren wir gerade unsere Lebensgrundlage? Auf der Suche nach Antworten trifft Johanna Romberg Menschen, die es im Kleinen schaffen, die Zerstörung der Natur aufzuhalten. Ob Nachtfalterexpertin, Gewässerbiologe oder Eulenschützer – entstanden sind poetisch erzählte Naturgeschichten, die zum Beobachten einladen und zum Handeln ermutigen.

Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht ist im Februar 2021 bei Quadriga erschienen und hat 288 Seiten. Er ist als gebundenes Buch und für den Kindle erhältlich.

Mit dem Kauf über den Link unterstützt ihr den Betrieb dieser Website.

 

Der Heimatpfleger weiß Bescheid

Weil ich bei der Recherche nicht weiterkam, richtete ich am 9. Juli 2012 ein Anfrage an den Tourismusverband der Region Chiemsee. Ich mutmaßte, dass es sich bei dem Ungeheuer um eine Werbeaktion gehandelt haben könnte, die schrecklich schief ging, fragte aber auch nach, ob es eine solche Katastrophe überhaupt je am See gegeben hätte. Eine Antwort erhielt ich noch am gleichen Tag von Astrid von Rauhecker vom Chiemsee-Alpenland Tourismus GmbH & Co. KG in Felden.

 

Raddampfer
Dieser historische Raddampfer Ludwig Fessler fährt seit 1926 auf dem See

 

„Da wir noch nichts von einem ‚Ungeheuer vom Chiemsee‘ gehört haben, haben wir Ihre Anfrage an den Kreisheimatpfleger, Herrn Karl J. Aß, weitergeleitet. Vielleicht kann man Ihnen dort weiterhelfen, bzw. den richtigen Ansprechpartner vermitteln.“ Und tatsächlich meldete sich Herr Karl J. Aß, der Kulturbeauftragte von Prien, am 27. Juli 2012, mehr noch, er legte drei Originalartikel aus der Chiemgauzeitung vom 18., 25. und 27. August 1934 bei. Mittels dieser Artikel lässt sich nun die ganze Sache genauer rekonstruieren und ein vergessenes deutsches Seeungeheuer erneut entdecken.

 

 

„Herrenchiemsee, 18. August (Seeungeheuer!?!) Durch einwandfreie Zeugen ist die Anwesenheit eines riesigen See-Ungeheuers im Chiemsee festgestellt. Man glaubte, durch eine einfache Jagd das Untier erledigen zu können. Diese Erwartung erwies sich als großer Irrtum. Es soll nunmehr, nachdem alle Vorbereitungen soweit gediehen sind, im Laufe der nächsten Woche eine Großjagd stattfinden, wobei mit den modernsten Kampfmitteln gearbeitet wird. Als Leiter der Jagd, die in den Abendstunden stattfinden soll und ihren Ausgang vom Schloßhotel Herrenchiemsee nimmt, ist Herr Huber ernannt, dessen Persönlichkeit den Erfolg verspricht. Es sind dazu alle Interessenten eingeladen; Tag und Beginn der Jagd werden noch bekanntgegeben.“

 

Chiemsee
Chiemsee-Impression

Diese Jagd ging tragisch schief. Am 25. August schrieb die Chiemgauzeitung:

 

 

 

„Unglücksnacht auf dem Chiemsee. […] Friedlich lag der blaue See da, einladend spiegelte sich der leuchtende Mond im Wasser, als am Donnerstag [= 23. August 1934], abends gegen 20 Uhr, in Ruderbooten, Segel- und Paddelbooten eine ungeheure Zahl Schaulustiger der Herreninsel zusteuerten, um Zeuge der Einholung des sagenhaften Seeungeheuers zu sein. Noch tummelte sich ein Rudel von Booten um das Untier, das an das magisch beleuchtete Ufer der Herreninsel geschleppt wurde, noch mischten sich in den Äther die wundervollen Klänge der Musik – und niemand ahnte, welch folgenschweren Ausgang diese Veranstaltung nehmen sollte.

 

Noch in Gedanken bei dem genuß- und abwechslungsreichen Abend weilend, wurde die Heimfahrt nach den verschiedenen Richtungen angetreten. Auch die vorhergehende Schwüle de Tages ließ ein Unwetter, wie es sich in dieser Nacht über dem See entlud, nicht vorausahnen. Noch ehe die Mehrzahl der Boote das heimische Ufer erreichen konnte, wurden sie vom Sturm, der zum Orkan schwoll, überrascht. Das Wasser wurde meterhoch aufgepeitscht und die Fahrzeige gleich Kinderspielzeugen auf- und abgeworfen.

 

Viele Boote brachte die elementare Gewalt zum Kentern, Segelboote wurden trotz sofortigen Reffens umgeworfen oder gegen das Ufer geschmettert. Der Kampf, den die Insassen gegen die Wellen aufzunehmen begannen, war ungeheuer, auch viele sich durch Schwimmen retteten, so hat der Se, wie schon so oft, seine Opfer gefordert. Wenn auch viele Hilfsbereite ihre ganze Kraft einsetzten, um ein teures Leben zu retten, in einigen Fällen blieb ihnen der Erfolg leider versagt. Scheinwerfer leuchteten noch in den See hinaus, um vielleicht eine hilfsbedürftige Hand zu entdecken, Motorboote rasten und suchten die Seefläche ab, aber alle Mühen bleiben vergeblich.“

 

 

 

Drei Menschen ertranken, andere harrten auf einer kleinen Insel im See aus, bis das Unwetter vorüber war. Die Leichen der Ertrunkenen wurden nach langer Suche am darauffolgenden Sonntagmorgen geborgen.

 

Frauen-Chiemsee
Insel Frauenchiemsee

 

In einer Anmerkung zu den drei Zeitungsausschnitten schrieb Herr Karl J. Aß: „Es handelte sich wohl um eine Scherzaktion oder, heute würde man sagen ein ‚Event‘, des Wirts vom Schlosshotel Herrenchiemsee. Die Veranstaltung nahm dann ein tragisches Ende!“

 

Offenbar hatte sich Herr Huber, um sein Hotel zu bewerben und ein kleines Volksfest zu veranstalten, am Ungeheuer von Loch Ness orientiert, das 1934 in allen deutschen Zeitungen Schlagzeilen machte. Den Zeitungsberichten nach muss er sogar ein Model gefertigt haben, dass das unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zur Insel Herrenchiemsee geschleppt wurde, als der Sturm hereinbrach.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert