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Es ist der 12. Oktober 2024. Zeitpunkt des Symposiums zur Kryptozoologie in Mettmann bei Düsseldorf. Der Chef … ähäm … Chefredakteur Tobias spaziert gerade mit Markus Bühler und Darren Naish durch das Neandertal. Ich sitze rund 2000 Kilometer weit entfernt in Südspanien und platze vor Neid. Ich habe selber eine Tagung im fernen Valencia und kann beim Symposium nicht anwesend sein. Dennoch versuche ich, von hier aus zoologisch zumindest etwas dagegen zu halten. Und die Möglichkeit dazu bietet sich tatsächlich. Im Rahmen meiner Tagung muss ich Frau und Kind in ihr Dorf zu Oma und Opa bringen. Aber es ist nicht irgendein Dorf. Wir befinden uns im hintersten Winkel der Provinz Granada. Nach Norden hin nur Sierra, Sierra und nochmal Sierra.

Ein Blick auf die Sierra im Norden der Provinz Granada
Ein Blick auf die Sierra im Norden der Provinz Granada

 

Und mittendrin, da steht sie, meine Fotofalle. Und das schon seit sechs Monaten. Abholbereit. Es war ein langes bürokratisches Prozedere, bis ich sie überhaupt aufstellen durfte. Doch noch viel länger war der Leidensweg zu der ersehnten Stunde Null, die an diesem 12. Oktober schlagen wird und zufällig mit dem Symposium zur Kryptozoologie zusammenfällt. Meine Fotofalle hat viele Strapazen hinter sich. Das kommt davon, wenn man sich von einem Sozialwissenschaftler mit humanistischer „Bildung“ kaufen lässt, dem man in der Essenz nur beigebracht hat, Bücher aufzumachen, zu lesen, und wieder zuzumachen. Das Ergebnis waren kaputte Platinen, zerstörte Akku-Booster und endlose Verhandlungen mit dem Support der Marke, um Ersatzteile zu bekommen … die extra aus Übersee herangeschifft werden mussten und dann erstmal trotzdem nicht so funktionierten, wie man sich das vorstellte. Zwei Jahre dümpelten diese Missstände so vor sich hin.

Neanderthal Museum
Das Neanderthal Museum in Mettmann bei Düsseldorf war Gastgeber des Symposiums „Ist Aussterben für immer?“

Neues Jahr, neues Glück

Aber an diesem besagten 12. Oktober war alles bereit. Die Havarien waren Anfang 2024 weitestgehend im Griff und das erste Mal seit Langem war die Fotofalle auch wieder sechs Monate am Stück einsatzbereit. Und es gab Grund zu Optimismus. Bei der ersten Session hatte sie … ja, ich denke, ich habe diese Gewissheit … eine Wildkatze dingfest gemacht. Das erste Mal, dass ich in irgendeiner Form mit diesen scheuen und heimlichen Tieren in Berührung kam. Das Jahr 2024 war damit für mich zoologisch schon gemacht.

Wildkamera-Foto einer mutmaßlichen Wildkatze
Wildkamera-Foto einer mutmaßlichen Wildkatze (PE)

 

Dasselbe Tieraus dem Frühjahr 2024, auf einer zweiten Ablichtung ein paar Sekunden später (PE)

Aber wie es so ist … wer einmal Blut leckt, der will noch mehr. So stellte ich die Fotofalle in den Osterferien am Tatort abermals auf. Um sie an eben diesem besagten 12. Oktober zu holen. Und wie gesagt: der Zufall wollte es, dass der Besuch vor Ort am gleichen Wochenende stattfand wie das Symposium zur Kryptozoologie.

Lichthof des Museum Koenig
Während der Autor in der spanischen Sierra schwitzt, treiben sich Markus Bühler und Tobias Möser (nicht im Bild) im Museum Koenig in Bonn herum (TM)

Auf in die Sierra!

Es geht also los, Kaffee rein, kurze Nachricht an Tobias („Wie war das Symposium??Erzähl…„), rauf aufs Rad, ab in die Sierra. Der Himmel verfinstert sich. Und zwar genau über dem Hügel, an dem meine Fotofalle steht. Egal, zu weit ist man schon gekommen, wird schon schiefgehen. Ich habe Glück. Der Himmel öffnet sich wieder. Doch da ist schon das nächste Problem. Wo kommen die zwei Typen her, die am anderen Hang spazieren? Hier sind nie Leute. Hier wird doch nicht eine Treibjagd sein? Zweimal bin ich schon in so ein Spektakel reingeraten:

Auf dem Gipfel ist man einsam … doch leider nicht immer (PE)

Schwein gehabt

Das erste Mal kam eine gestresste Wildsau wütend schnaubend an einem Gipfel direkt auf mich zu gerannt, … zu groß der Respekt, als dass ich mich traute, in die Hocke zu gehen, meine Kamera auf sie zu richten und einfach abzudrücken. Was wäre das wohl für ein Foto gewesen? Aber eigentlich tat mir das Tier in diesem Augenblick auch Leid. So bin ich im Nachhinein froh, dass ich es nicht noch mehr gestresst habe. Es zog dann auch knapp an mir vorbei, ab in ein sicheres Versteck. Die verbliebenen Hunde streunen unten auf der Straße noch lange hin und her. Ohne Herrchen in Sicht. Jetzt verstehe ich, woher die vielen herrenlosen Jagdhunde kommen, die sich hin und wieder den Wanderern in der Sierra anbiedern. Doch hier versuchten ein paar von ihnen, nach meinem Rad zu schnappen, als ich schließlich, irgendwann wieder unten angekommen, an ihnen vorbeifuhr. Zum Glück ohne Erfolg.

 

Gänsegeier Foto: Peter Ehret
Die Gänsegeier … es sollte nicht mehr lange dauern, dann hatten sie genug von der Ballerei und flogen auf (PE)

Ein Schock fürs Leben

Das zweite Mal beobachtete ich  gerade Gänsegeier an einer Felswand. Doch das Geballere scheuchte sie auf – auch mir wurde es zu bunt. Das Echo der Kugeln hallte an der Felswand direkt in meiner unmittelbaren Nähe. Ob die Schützen meine Warnrufe hörten? Unter mir am Felsen hörte ich nur das getriebene Keuchen eines Hundes. Irgendwann war der Spuk vorbei – doch der Schock sitzt bis heute tief in den Knochen. So auch an diesem Tag. Hoffentlich sind die zwei Typen keine Jäger. Und hoffentlich geht nicht gleich das Gebelle los. Vorsichtig nähere ich mich also meiner Fotofalle. Alles ist noch da. Ein bisschen nass. Also kurz abmontieren, etwas trocknen, alte Batterien raus, neue rein, alte SD-Karte raus, neue rein, alles wieder dranmontieren, Testlauf, anketten, fertig und ab dafür. Wieso ging es nicht immer so zackig wie heute? Zurück aufs Rad, ab nach Hause. So muss es sein.

 

Peter Ehret in seiner eigenen Wildkamera
Der sichtlich eingeschüchterte Verfasser, ertappt von der eigenen Fotofalle

Trophäenschau

Ankunft. Tobias hat mittlerweile geantwortet: Das Symposium war ein Erfolg, aber die Müdigkeit fordert ihren Tribut. Seit Donnerstag konstant auf Achse, Abholen von Markus und Darren am Bahnhof, Museum, Zoobesuch, Symposium, Abend im Restaurant, Spaziergang am Morgen … da sei es einem vergönnt, wenn man auf der kurzen Zugfahrt nach Hause einnickt. Und ich kann indessen eine ruhige Minute an meinem Tag nicht erwarten. Ich muss unbedingt die SD-Karte kontrollieren. Endlich. Am Nachmittag findet sich Zeit. Computer an. Kabel verbinden. Speicherkarte checken. Über 3000 Bilder! So viele wie noch nie! Tobias ist per WhatsApp-Audio dabei … er erzählt vom Symposium … ich von den Auswürfen meiner Speicherkarte … beide Inhalte haben es in sich …

 

Graukopfgänse
Das Bild der beiden süd-südamerikanischen Graukopfgänse (Chloephaga poliocephala) in der Abendsonne muss als Beleg für unseren Zoobesuch reichen. (TM)

„Frank Brandstätter hat spontan einen sehr knackigen Vortrag abgeliefert“ – „ein Damhirsch mit Kitz“ – „die Leute saßen abends im Restaurant noch bis spät in die Nacht beisammen und haben lebhaft diskutiert, das ging ewig“ – „eine säugende Wildsau mit ihren Frischlingen, direkt vor der Kamera!“ – „Darren Naish war von dem Symposium sehr angetan, es hat ihm sehr gefallen, er würde gerne wiederkommen“ – „Mufflons! Ich wusste gar nicht, dass wir hier in der Sierra Mufflons haben!“ – …

Damhirsch mit Kitz in der Wildkamera
Wildkamera von einer Damhirschkuh mit Kitz (PE)
Damhirsche in der Wildkamera (Peter Ehret)
Auch eine Rothirschkuh mit ihren Kitzen zeigte sich (PE)

 

Wildschweine in der Wildkamera
Wildschweine! Kämpfende Wildschweine, direkt vor der Kamera! (PE)

 

Mufflon in der Wildkamera (PE)
Bislang wusste ich nicht, dass es hier auch Mufflons gibt. Das ist der Beweis (PE)

Zwei Tage Symposium. Über 3000 Bilder. Mit die besten, die meine Fotofalle jemals abgeliefert hat. Doch die Partie hat Tobias gewonnen. Denn meine 3000 Bilder zeigten keine Wildkatze. Naja, vielleicht beim nächsten Mal. Sie steht ja immer noch dort, mit neuen Batterien und neuer SD-Karte.

im Neanderthal-Museum
Endlich: die beiden (menschlichen) Protagonisten des Beitrags: Darren Naish (li.) und Markus Bühler (mi.) im Gespräch mit einer Neanderthalerin (re.)

die zarte Seite „tougher Beaster

Es wird Abend. Ab nach Granada. Jetzt bin ich dran. Die Pflicht ruft. In zwei Tagen habe ich selber einen Vortrag. Also zurück in den Alltag. Allerdings ist das auch mein erster Abend allein zu Hause, seit Monaten. Was macht man da? Ach ja, richtig! … schau dir doch noch einmal die Fotos an, in aller Ruhe, du hast ja jetzt ein bisschen Zeit … also let the show begin (again)! … ich kann mich wirklich nicht beklagen, es ist alles dabei, von kämpfenden Wildschweinen über Rot- und Damhirsche mit Kitz, Frischlingen, die an der Brust ihrer Mutter saugen, während diese sichtlich angetan im Schlamm liegt…jetzt, wo man selber Vater ist, und die Hingabe der Tiermütter zu ihren Jungen aus nächster Nähe sieht, wird einem ganz anders um das Herz…und wenn man bedenkt, dass trotz der harten klimatischen Bedingungen und Gefahren, denen sie tagein-tagaus ausgesetzt sind, noch so viel Platz für Liebe zum eigenen Nachwuchs ist, dann verspürt man für diese Welt fast schon wieder so etwas wie Optimismus…

Frischlinge
Frischlinge an der Wasserstelle (PE)

 

Damhirschkuh mit Kitz (PE)
Damhirschkuh mit Kitz (PE)

 

Nachspielzeit

,..ich klicke mich also durch die Fotos, langsam und gerührt von den zärtlichen Gesten der verschiedenen Bewohner der Sierra, die sich vor meiner Kamera mit Nachwuchs die Ehre gaben…aber langsam werde auch ich müde … doch ich klicke weiter … eigentlich kenne ich alle Bilder schon … 3125, 3126, 3127… Stop! … 3127… Stop! Stop! Das kann doch nicht sein! Tatsächlich: auf Bild 3127, gut versteckt im Schatten des Baumes, der die Hälfte des Bildes säumt .. das habe ich ja glatt übersehen…da läuft doch eine…und es besteht kein Zweifel…es ist eine…ja!…Wildkatze! Dieses Mal ganz klar zu sehen aus seitlicher Perspektive, wenn auch dunkel wegen dem Schatten. Aber ohne Zweifel eine Wildkatze! Es ist ein Uhr nachts … doch die WhatsApp-Bombardements in alle Richtungen gehen los … auch zu Tobias … der das Handy schon aus hat … verständlich..am nächsten Tag die Antwort: „Wow! Volltreffer“ … und auch andere Antworten stimmen optimistisch …“Es ist so, als hätte jemand das Bild der Wildkatze von deiner Bestimmungstafel abgemalt und sie auf dein Bild geklebt„… ich bin aus dem Häuschen … es hat geklappt! die Wildkatze ist tatsächlich noch einmal aufgetaucht. Und dieses Mal sieht man sie ganz! Man halte fest: sechs Monate Kameralaufzeit, nur ein einziges Mal zeigte sie sich. Dafür aber ziemlich klar. Mission complete. Der Tag, nein, die Woche, nein, der Monat, ist gerettet. Und Tobias und ich könnten uns jetzt auf ein Unentschieden einigen. (Anmerkung der Redaktion: Einverstanden! Und denk‘ nicht an den Ritter der Brücke aus „Ritter der Kokosnuss“!)

mutmaßliche Wildkatze (PE)
Ist er das … der große Wurf? Hat meine Fotofalle tatsächlich zum zweiten Mal eine Wildkatze fotografiert?

 

mutmaßliche Wildkatze
Hier der Bildausschnitt mit der Katze, etwas überarbeitet und vergrössert

 

Heckrinder und Teilnehmer
Einige Teilnehmer des sonntagmorgendlichen Spaziergangs durch das Neanderthal-Wildgehege – die dortigen Heck-Rinder zeigten sich sehr kooperativ (TM)

Sylvain Tesson: der Schneeleopard

An dieser Stelle danke ich dem Leser für seine Geduld. Kommen wir nun endlich zum Kern des Artikels. Man stellte sich den letzten Absatz als mathematischen Term vor, packe ihn in eine Klammer und potenziere ihn mit dem Faktor 20. Dann hat man die Story, die auf den Leser des Buches von Sylvain Tesson wartet. Titel: Der Schneeleopard. Erschienen 2019 in Frankreich, und dort völlig überraschend den Renaudot-Preis gewonnen und zum Bestseller avanciert. Mittlerweile aber auch in deutscher Sprache erhältlich. Das Buch schildert die Expedition des ebenfalls preisgekrönten Naturfotografen Vincent Munier, seiner Freundin Marie und seinen zwei Begleitern (darunter ein Philosoph und der Schriftsteller Tesson, Autor des Buches), um in den tibetanischen Hochlagen den seltenen Schneeleoparden zu beobachten und zu fotografieren. Ich will hier nicht zu viel vorgreifen. Man erfährt viel über die zähen Begleitumstände eines Unterfangens. Aber auch ist es mit viel philosophischer Einlage und schriftstellerischer Pointe gespickt. Zeitweise liest es sich wie eine Neuauflage von Jean-Jacques Rousseaus Jahrhundertwerk Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, allerdings mit Fokus auf der Geduld, die die Naturfotografie im Allgemeinen und die Beobachtungen des Schneeleoparden im Besonderen von den Teilnehmern erfordert.

Aber wie gesagt: ich will hier nicht zu viel vorgreifen. Man lasse sich allerdings die Einleitung auf der Zunge zergehen. Tesson und Munier sitzen an einem Dachsbau, um das Spektakel zu beobachten, das diese wundervollen Bewohner unseres Waldes geben, wenn die Sonne am Horizont untergeht und man ihnen ihre Ruhe lässt…wie sie herumtollen, sich balgen, kreischen, sich verfolgen, auskundschaften…wie oft konnte ich das selbst in meiner Jugend beobachten?…doch hatte ich keinen Vicente Munier neben mir, der einem dann plötzlich sagt:

Es gibt ein Tier in Tibet, hinter dem ich seit sechs Jahren her bin. Es lebt in den Hochlagen. Es bedarf langer Pirschgänge, um es zu sehen. Ich fahre diesen Winter wieder hin, komm mit

– „Was für ein Tier ist das?

– „Der Schneeleopard

– „Ich dachte, der sei ausgestorben.“

– „Er tut nur so„.

Cool.

Und in diesem Buch findet sich auch ein Foto. Eigentlich hat Munier einen Falken anvisiert. Er weiss, dass der Schneeleopard ganz in der Nähe ist. Aber der will sich partout nicht der Kamera zeigen .. doch zwei Monate später, als er die Fotos noch einmal durchsieht, bemerkt er, dass ihn etwas auf diesem Foto beobachtete …

… in diesem Sinne … viel Spaß bei der Lektüre.


Anmerkungen

1) Wer genau aufgepasst hat, wird sicherlich bemerkt haben, dass die Bilder der Fotofalle auf das Jahr 2023 datieren…das ist noch eine Nachwirkungen der vielen Havarien. Aber vielleicht sollte ich beim nächsten Mal daran denken, dass Datum wieder richtig einzustellen. Daher danke für den Hinweis 😉

2) Es kann sein, dass die Zitate aus dem Buch „der Schneeleopard“ nicht ganz wortgleich jenen der deutschen Übersetzung entsprechen – mir lag die spanische Version zugrunde und ich habe den obigen Text größtenteils frei aus der spanischen Version übersetzt – der Sinn der Wörter dürfte aber dennoch derselbe sein.

3) Das Abenteuer wurde auch verfilmt. Während Sylvain Tesson die Suche nach dem Schneeleoparden mit der „Feder“ begleitete, zeichnete Vincent Muniers Freundin, die Tierfilmerin Marie Amiguet, die Ereignisse mit der Kamera auf. Die Dokumentation („Der Schneeleopard“) kam 2022 in die deutschen Kinos.

Mehr Informationen zum Buch findet ihr unter diesem Link

Von Peter Ehret

Peter Ehret ist studierter Politikwissenschaftler und Rechtsphilosoph. Praktisch sein ganzes Leben ist Zoologie im Allgemeinen sein wichtigstes Hobby. Seit dem Jahr 2000 befasst er sich mit Kryptozoologie. Themenschwerpunkt seines kryptozoologischen Interesses sind die Rückwirkungen von konventionellen Tierbeobachtungen auf Legendenbildung. Seit 2012 lebt und arbeitet er als Deutschlehrer in Spanien.