Freitagnacht-Kryptos: Rätselhafte Dendrogramma

Kryptozoologie, wie sie im Internet meist verstanden wird, befasst sich mit großen und noch unentdeckten Tieren. Optimal ist noch, wenn sie furchteinflössend, legendär und ein wenig gefährlich sind. Yeti, Bigfoot, Nessie und wenns sein muss auch noch ein Kongamato, drunter ist es uninteressant. Dabei ist gerade bei den kleineren Tieren eine Menge zu finden. Es gibt Kryptide, die nahezu jedermann entdecken kann, ohne unglaubliches Glück zu haben. Hier gibt es Rätsel, die man sich bei den Großen nicht vorstellen kann.

Die Dendrogramma sind so etwas. Doch was sind Dendrogramma?

Hier folgt der Originalartikel vom 6.9.2014 aus dem Kryptozoologie-Online-Forum:

Stämme sind die eine der höchsten systematischen Ordnungen im Tierreich. Derzeit werden bei den mehrzelligen Tieren etwa 30 Stämme unterschieden, z.B. die Arthropoden, Mollusken oder Chordatiere.

Die meisten Stämme sind sehr artenreich und mannigfaltig, aber es gibt auch einige wenige kleinere. Dem entsprechend selten werden Organismen entdeckt, die keinem der bekannten Stämme zugeordnet werden können. Doch möglicherweise ist genau das vor kurzem wieder passiert.

Rätselhafte Dendrogramma

Dendrogramma ein Holotyp vor schwarzem Hintergrund
Dendrogramma enigmatica, seitliche Sicht (oben), nach Schrumpfung durch Konservierung. Foto: Just J, Kristensen R, Olesen J, CC 4.0

Bereits 1986 sammelten Forscher mit Hilfe eines Epibenthosschlittens zwei Tierarten auf dem Meeresboden vor Australien. Diese Geräte, eigentlich eine Art Korb, der über den Meeresboden gezogen wird, schneiden die oberste Schicht des Meeresbodens aus und nehmen alles mit, was darauf und darin lebt. Das wird in der Regel konserviert, archiviert und erst mal in einer Museumssammlung eingelagert. Dann muss man später „nur noch“ die Proben durchsuchen und bestimmen, was man denn da gefangen hat.

Tatsächlich fand man dort auch unbekannte Tiere. Sie waren pilzförmig, 8 bis 11 mm hoch und hatten einen Durchmesser von bis zu 17 mm. Sie verfügen über einen kompletten Verdauungsapparat und möglicherweise sogar eine Art Schwimmboje.

In 400 bzw. 1000 m Tiefe fanden die Forscher diese Organismen, die sie mit Dengrogramma enigmatica und D. discoides benannten. Nach 28 Jahren wurden sie von Dorte Janussen vom Senckenberg Forschungsinstitut in den Sammlungsproben entdeckt, und als etwas Besonderes erkannt, weil sie keinem der bekannten Stämme zugeordnet werden können.

In Formaldehyd konserviert

Zahlreiche Dendrogramma-Funde vor schwarzem Hintergrund mit Erklärungen
Weitere Dendrogramma-Exemplare, ebenfalls nach Konservierung. Foto: Just J, Kristensen R, Olesen J, CC 4.0

Leider erschwert die Konservierung auch die Bestimmung. Um die fragilen Körper zu schützen, haben die Forscher damals mit Formaldehyd fixiert. Hierdurch ist eine DNA-Analyse unmöglich. „Aufgrund seiner Formolfixierung eignet sich Dendrogramma leider nicht für molekularbiologische Untersuchungen, die seine Abstammung besser klären könnte“, erklärt Janussen.

Dendrogramma teilt die Merkmale von Rippenquallen (Ctenophora) und Korallentierchen (Cnidaria), lässt sich aber gerade deswegen keinem der beiden Tierstämme zuordnen. Die Erstbeschreiber um Jean Just fanden bei den Tieren weder Nesselzellen noch Tentakeln – dann könnte man sie den Cnidariern zuordnen. Auch das typische Sinnesorgan der Ctenophora, das Apikalorgan, konnten sie nicht ausmachen.

Janussen ist da anderer Meinung: sie findet Verbindungen zur heute noch rätselhaften Ediacara-Fauna, will aber Dendrogramma nicht einordnen. „Die Ähnlichkeit mit Ediacara-Fossilien ist zwar vorhanden, aber nicht aussagekräftig“, sagt die Meeresbiologin. „Schon die Zuordnung dieser Fossilien ist umstritten.“

Um das Rätsel um die kleinen, pilzförmigen Tiere zu lösen, muss vor allem eins her: Mehr und besser konserviertes, im Idealfall auch lebendes Material.

Die Wissenschaft hat festgestellt…

Das war der Stand von 2014, als diese Meldung das erste Mal im damals schon im Niedergang begriffenen Forum von Kryptozoologie-online erschien. Zwischenzeitlich ist die Wissenschaft an frisches Material gekommen. Forscher haben genetische Analysen durchgeführt, lebende Tiere untersuchen können und sind schließlich zu einer Einordnung gekommen.

Zunächst einmal die „schlechten Nachrichten“: zu einem der Stämme, aus denen sich die Ediacara-Fauna zusammensetzt, konnten die Dendrogramma nicht zugeordnet werden. Das wäre auch seltsam, da es bisher kaum wirkliche Aussagen über die Einordnung der Ediacara-Fauna gibt.

Die Ediacara-Fauna

Künstlerische Darstellung eines Biotops mit Ediacara-Lebewesen
So stellt sich Künstler John Sibbick einen Biotop mit zahlreichen unterschiedlichen Ediacara-Lebewesen vor.

Die Ediacara-Fauna ist nach den Ediacara-Hills im Outback von Australien, etwa 350 km nördlich von Adelaide benannt. Sie besteht aus präkambrischen Lebewesen, von denen Weichkörper fossil erhalten sind. Hartteile hat das Leben zu dieser Zeit noch nicht entwickelt. Die relativ artenarme Fossilgemeinschaft besteht aus etwa 280 Taxa, von denen etwa die Hälfte Spuren darstellt. Die Zuordnung der Organismen zu später lebenden Formen ist unklar und bestenfalls umstritten.

Bisher ist nicht einmal klar, ob es sich um Einzeller, Pilze, Pflanzen oder Tiere handelt oder ob sie möglicherweise ein siebtes Reich (nach Bakterien und Archaeen) bilden. Um nicht namenlos zu bleiben, haben die Wissenschaftler den provisorischen Namen Vendobionten nach dem Zeitalter des Vendiums vergeben.

Die meisten der Organismen leben auf dem Boden, einige Arten scheinen mobil gewesen zu sein. Nur wenige Arten zeigten Ansätze von Skelettstrukturen, viele Arten waren bilateralsymmetrisch und sehr dünn.

Erste Formen der Ediacara-Fossilien traten nach derzeitigen Erkenntnissen vor etwa 610 Millionen Jahren auf. Die letzten Ediacara-Gemeinschaften fand man in Gesteinen, die etwa 542 Millionen Jahre alt waren. Damit starben sie an der Grenze zum Kambrium aus.

Nicht nur in Ediacara

Fossil einer großen Dickinsonia
Fossil einer großen Dickinsonia

Ediacara-Fossilien hat man nicht nur in den Ediacara-Hills gefunden, sondern an etwas mehr als vierzig Fundorten auf allen Kontinenten. Wichtige Fundorte sind neben den Ediacara-Hills der Südosten Neufundlands, die Küstenregion des Weißen Meeres in Russland und der Kalahari-Kraton in Namibia.

Neuere Untersuchungen aus dem letzten Jahr zeigten eine für Tiere typischen Biomarker bei einem typischen Ediacara-Vertreter: Dickinsonia. Dieser ähnelt dem Cholesterin und entsteht, wenn tierische Fette zerfallen. Eine geringe Menge von Biomarkern deutet auf pilztypische Verbindungen hin, die für Einzeller charakteristischen Moleküle fehlten weitgehend. Ob man daraus schlussfolgern kann, dass es sich bei Dickinsonia um ein Tier handelt, muss jeder selbst entscheiden. Ein Schluss auf andere Ediacara-Fossilien, die nicht näher mit Dickinsonia verwandt waren, erscheint mir gewagt.

Doch was sind die Dendrogramma nun?

Durch die genetische Untersuchung konnte man die Dendrogramma tatsächlich einordnen. Sie stehen in einer bereits bekannten Familie, den Rhodalijdae in der Ordnung der Staatsquallen oder Siphonophorae, gehören also zum Stamm Nesseltiere.

Sie stehen dort ziemlich am Rand, weitere Erkenntnisse könnten durchaus eine neue Einstufung ergeben. Andererseits: Die Staatsquallen gehören zu den ungewöhnlichsten Tieren überhaupt. Da passt so etwas ungewöhnliches wie die Dendrogramma ganz gut rein.