Trotz der Regierungskriese in London scheint es für die britische Qualitätspresse ein Sommerloch zu geben. Zum Glück war jemand nicht schnell genug, sich davor zurückzuziehen, so dass The Sun und Mirror am vergangenen Montag über eine Schnecke berichteten:
Horror – Fund: Monster – Schnecke in London entdeckt! Droht ein Lockdown?
Das Portal news.de berichtet unter Berufung auf den „Mirror“, dass ein Spaziergänger in der Nähe des Bahnhofs London Bridge einen Karton mit Salatblättern entdeckt habe. Zwei Schnecken, die sich offensichtlich vorher darin befunden haben, entdeckte der 20-jährige Jamie-Lee McEvory nur wenig entfernt. Gegenüber der „Sun“ sagte er: „Sie waren so groß wie meine Arme. Ich dachte, ich würde Dinge sehen. Alle fragten sich, woher sie kommen würden. Aber niemand wusste, was er tun sollte, und niemand wollte sie anfassen.“ news.de relativiert dann seine Beobachtung und schreibt, dass die Schnecken etwa 20 cm lang sind.
Tierschützer brachten die Tiere zunächst privat unter, bis sie einen geeigneten Pfleger finden.
Soweit so gut. Die nächste Schlagzeile lautet:
Afrikanische Riesenschnecke kann für Menschen tödlich sein
Korrekt schreibt er noch, dass es sich bei der „Afrikanischen Riesenschnecke“ um eine invasive Art handelt, die in Großbritannien nicht heimisch ist. Florida hätte nach Funden dieser Schnecke einen ganzen Bezirk abgeriegelt.
Danach wird berichtet, die Schnecke beherberge einen tödlichen Parasiten. Briten sollten die Schnecken nach Möglichkeit nicht berühren. Weiterhin wird orakelt, dass ein Lockdown der Londoner Innenstadt wie in Florida droht.
Faktencheck
„Afrikanische Riesenschnecke“
Eine einzelne Art, die im Deutschen als „Afrikanische Riesenschnecke“ bezeichnet wird, gibt es nicht. Die Familie Achatinidae aus der Gruppe der Landlungenschnecken wird gelegentlich so bezeichnet, geläufiger ist jedoch „Große Achatschnecken“.
Diese Familie kommt, wie der Name es vermuten lässt, aus Afrika südlich der Sahara. SIe bevorzugen feuchte Lebensräume, hauptsächlich tropische Wälder und gelegentlich Feuchtsavannen. Sie ernähren sich hauptsächlich pflanzlich, hauptsächlich von herab gefallenen Früchten, Blättern, Rinde und ähnlichem Pflanzenmaterial. Nahezu alle Arten nehmen auch tierisches Aas an, wenn es zur Verfügung steht. Sie benötigen viel Kalk, was ihren Lebensraum beschränkt.
Die Achatinidae sind Zwitter, haben aber nichts davon. Für die Fortpflanzung brauchen sie mindestens eine (Fremd-) Kopulation, bei der aber beide Tiere sowohl den männlichen wie den weiblichen Part übernehmen. Oft wird der Samen des anderen Tieres gespeichert, bis es zu einer günstigen Situation für die Vermehrung kommt. Die meisten Arten legen Eier, einige wenige sind lebendgebärend.
Die Familie ist extrem artenreich. MolluscaBase listet 106 gültige Gattungen auf, die Artenzahl ist deutlich höher.
Die Große Achat-Schnecke
Dennoch hat vor allem eine Art für den Menschen Bedeutung. Das ist die Große Achatschnecke Lissachatina fulica. Sie ist eine der größten bekannten rezenten Landschnecken der Erde und kann tatsächlich 20 cm Gehäuselänge erreichen. Ursprünglich kommt sie aus den Regenwaldgebieten in Kenia und Tansania. Man kann sich vorstellen, dass eine 30 cm lange Schnecke auch kulinarisch interessant ist. Tatsächlich ist sie essbar und steht in zahlreichen Ländern auf der Speisekarte. So wird sie meist lokal gehandelt und gezüchtet.
Dies hat zu einer Ausbreitung in vielen Ländern geführt, in denen sie ursprünglich nicht heimisch war. Heute findet man sie in nahezu jedem Land Afrikas südlich der Sahel-Zone, auf Mauritius, Reunion und den Seychellen, Indien, Thailand, Myanmar und Malaysia. Bereits 1928 gelangte die Art nach Borneo, von dort aus nach Südchina und Japan.
In Nordamerika lebt sie heute in den Bundesstaaten Florida, Hawaii, Louisiana und Kalifornien sowie einigen Ländern Mittelamerikas. Auch in der Karibik und in Südamerika findet man sie. hier ist ihr Vorkommen aber eher schlecht dokumentiert.
In Europa ist sie von Mallorca, aus Griechenland und der Türkei bekannt, hier vor allem in küstennahen Regionen. Gebiete, in denen die Wintertemperatur regelmäßig und länger unter 8°C fällt, kann die Große Achatschnecke nicht besiedeln.
„Für den Menschen tödlich“
Lissachatina fulica verfügt über keinerlei Gifte die den Menschen schädigen können. Weder kann sie mit einem Dorn zustechen, der wie bei Kegelschnecken mit einem Nervengift versehen ist, noch enthalten Muskeln, Organe oder Hämolymphe irgendwelche Giftstoffe. Sie kann lediglich Wirt für den Ratten-Lungenwurm (Angiostrongylus cantonensis) sein.
Dieser Wurm gehört zu den Fadenwürmern (Nematoda) und nutzt Lissachatina fulica als Zwischenwirt. Die Schnecke nimmt die Eier des Wurms über den Kot infizierter Ratten auf. In der Schnecke entwickelt sich der Wurm bis zum 3. Larvenstadium und verharrt in diesem Zustand dort. Es kommt aber auch regelmäßig vor, dass diese Larven mit dem Schleim der Schnecke nach außen geraten und dort von Ratten aufgenommen werden. Ansonsten muss die Ratte die Schnecke fressen (was vermutlich eher selten vorkommt).
Der Weg der Larve in und aus der Schnecke
In der Ratte wandert die Wurmlarve ins Gehirn und verbreiten sich von dort aus über den Blutstrom in alle Gewebe. Dort entwickeln sie sich bis zum 5. Larvenstadium. Das wandert wieder ins Gehirn, aber direkt weiter in die Lungenarterie, kann aber auch das Zentralnervensystem, die Hirnhäute und das Auge befallen. Nach ca. 6 Wochen erfolgt die Adulthäutung und die Würmer paaren sich. Die Eier werden ins Blut abgegeben, gelangen in die Lungenalveolen und werden schließlich abgehustet. Die Ratte verschluckt einen Teil des Sputums wieder, im Darm entwickeln sich schnell die Larvenstadien 1 und 2, letztere werden dann mit dem Kot ausgeschieden.
Man kann sich leicht vorstellen, dass ein solcher Befall alles andere als gesund ist. Tatsächlich sind hier die Ratten zwar die Endwirte, werden aber deutlich stärker geschädigt als die Zwischenwirte. Normalerweise ist das anders herum. Der komplizierte Zyklus in der Ratte legt nahe, dass früher ein zweiter Zwischenwirt vorhanden war. Vermutlich hat ein Nagetier die Larve 3 aus dem Schleim der Schnecke aufgenommen. Dort hat sich der Wurm zum Geschlechtstier entwickelt, gepaart und die Eier aus diesem Endwirt heraus geschleust, vermutlich durch Abhusten. Die abgehusteten Eier haben sich dann in einem anderen 1. Zwischenwirt zur Larve 1 und 2 entwickelt, wurden von der Schnecke aufgenommen, wo sie sich zur Larve 3 entwickelten. Evolutionär ist dann der Endwirt mit dem 1. Zwischenwirt in der Ratte „vereint“. Dies nützt zwar der Ratte wenig, halbiert aber die Zahl der riskanten Wirtswechsel.
Und der Mensch?
Physiologisch sind Ratten und Menschen recht ähnlich. Daher sind wir für eine ganze Zahl von Rattenparasiten und -krankheiten empfänglich. Der Ratten-Lungenwurm ist eine davon.
Beim Menschen ruft er ähnliche Symptome hervor, wie bei der Ratte: Insbesondere die Stadien im Gehirn und den Hirnhäuten rufen starke Entzündungen hervor, die sich als Hirnhautentzündung, der Meningoenzephalitis manifestieren. Da hierbei viele eosinophile Blutzellen in die Hirnflüssigkeit einwandern, sprechen die Mediziner von einer eosinophilen Meningoenzephalitis. Diese kann tödlich sein.
Glück für uns!
Zum Glück sind Fehlwirte wie der Mensch nicht so empfänglich wie die turnusmäßigen Wirte. Das bedeutet, dass der überwiegende Teil der Besiedlungsversuche schief geht: Der Parasit kann sich nicht richtig einnisten oder das Immunsystem bekämpft ihn erfolgreich. Nur wenige Prozent aller Infektionen manifestieren sich.
Falls es jedoch zu klinischen Symptomen kommt, ist die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Für die Behandlung gibt es drei große Probleme:
- Es handelt sich um einen tierischen Parasiten, der uns biochemisch näher ist, als ein Pilz oder Bakterium. Was für den Wurm giftig ist, hat in der Regel starke Nebenwirkungen beim Patienten.
- Würmer sind deutlich größer als Einzeller, Bakterien oder parasitische Pilze. Stirbt so ein Wurm durch ein Medikament, muss das Immunsystem schlagartig mit einer großen Menge Fremdeiweiß zurecht kommen. Unter Umständen kann das zu einem anaphylaktischen Schock und zum Tod des Patienten führen. Dies muss bei der Behandlung beachtet werden.
- Das Gehirn ist betroffen. Dies bedeutet, dass ein Wirkstoff die Blut-Hirn-Schranke überwinden muss oder er muss direkt in die Hirnflüssigkeit eingebracht werden. Beides ist therapeutisch nicht gerade einfach.
Hinzu kommt das Problem, dass ein Arzt erst einmal auf die Idee kommen muss, dass die heftigen Kopfschmerzen seines Patienten durch einen tropischen Wurm verursacht werden.
Wie kann sich der Mensch an der Schnecke infizieren?
Bisher ist nur die Infektion über den Genuss rohen oder nicht ausreichend gegarten Schneckenfleisches nachgewiesen. Das amerikanische Center for Disease Control (CDC) erwähnt die Möglichkeit der Infektion über den Schleim nicht.
Eine Mensch-zu-Mensch-Infektion findet nicht statt.
Wie ist die Prognose?
Die CDC hält in den meisten Fällen einer Infektion eine Behandlung für unnötig. Die Würmer sterben im Menschen meist nach kurzer Zeit ab, auch ohne Behandlung. Selbst wenn sich eine Meningitis einstellt, ist normalerweise kein Antiparasitikum notwendig. Die Behandlung erfolgt rein symptomatisch.
Wie kann man die Infektion vermeiden?
Auch das ist simpel: keine rohen oder nur teilweise gegarten Schnecken essen. Da auch andere Schneckenarten als Lissachatina fulica den Angiostrongylus beherbergen können, sollte das für alle Nackt- und Gehäuseschnecken gelten. Ebenso gilt das für Shrimps, Krebse und Frösche, die einige sehr ähnliche Würmer tragen können. Fische haben den Wurm nicht.
Mögliche lebende oder rohe Wirte sollten nur mit Handschuhen angefasst werden, regelmäßiges Waschen ist notwendig.
Dort, wo die Parasiten vorkommen, sollte auf rohes am Boden angebautes Gemüse und Obst verzichtet werden. Brunnenkresse scheint in Europa eine gelegentliche Infektionsquelle zu sein.
Wird es zu einem Lockdown kommen?
Nein. Die Lockdowns in Florida und anderen US-Staaten dienten nicht dazu, den Parasiten einzudämmen. Ähnliche Arten gibt es dort bereits und die Gefährlichkeit wird stark übertrieben.
Die Eindämmung dient dazu, die Ausbreitung der Schnecke selber zu verhindern. Jeder Gartenbesitzer weiß, was ein paar kleine Schnecken im Gemüsebeet anrichten können. Da kann man sich vorstellen, was ein „Brummer“ von 500 g und mehr anrichten kann. Eine solche Schutzmaßnahme dient also am ehesten dem Schutz der Vegetation und der Landwirtschaft.
Im britischen London wird das nicht nötig sein. Wie oben zu lesen ist, kommt die Schnecke nicht mit kalten Wintern klar. 8° als Mindesttemperatur begrenzen ihre Verbreitung und in London werden 8° C nicht nur gelegentlich unterschritten. In 7 von 12 Monaten liegt die durchschnittliche Tagestiefsttemperatur bei 8° und darunter. Selbst in einigen Monaten, in denen die Temperatur darüber liegt, sind Kälteeinbrüche nicht unrealistisch. Wenn sich Lissachatina in London etablieren wird, dann sicherlich nur in von Menschen kontrollierten Bereichen wie Gewächshäusern. Andere Wärmebereiche wie Fernwärmeschächte oder die berühmte U-Bahn bieten entweder zu wenig Nahrung oder sind zu trocken.
Quellen
Mehlhorn: Die Parasiten des Menschen: Erkrankungen erkennen, bekämpfen und vorbeugen
Mirror: Giant Monster Snails can be deadly
news.de: Gigantische Monsterschnecken in London entdeckt
The Sun: Deadly Snails found in London
Tierportrait.ch zur Achatschnecke
Wikipedia Achatschnecke
englische Wikipedia Klima von London
Wikipedia Ratten-Lungenwurm