Fotomontage eines Gigantopithecus vor den Karstbergen heute
Lesedauer: etwa 15 Minuten

Der erste Teil des Beitrags.

 

Frühe Studien zeigen Gigantopithecus blacki oft als gigantischen, monsterhaften Affen, der menschenähnlich aufgerichtet Höhen zwischen 2,4 und 3,7 m erreichen soll. Gegen diese Rekonstruktionen sprechen mehrere Argumente, unter anderem die Frage, ob ein Affe, der sich überwiegend oder vollständig pflanzlich ernährt, diese Körpermasse überhaupt aufbauen und erhalten kann. Eine andere Frage war, ob die Biomechanik einen solchen Körper überhaupt tragen kann, ob er genug Kraftüberschuss hat, um ein Leben führen zu können oder ob der Körper nicht unter seiner eigenen Last zusammenbrechen würde.

 

Eine modernere, aber kaum berücksichtigte Studie

Eine modernere Art der Rekonstruktion von Gigantopithecus blacki wurde in einer Arbeit aus dem Jahr 1979. Der Studienautor, A.E. Johnson hatte sich vorher mit der Größe von Zähnen und Körper bei Westlichen Gorillas (Gorilla gorilla) und Borneo Orang-Utans (Pongo pygmaeus) befasst und hierzu eine Studie veröffentlicht.

In seiner Arbeit über Gigantopithecus blacki stellt Johnson zunächst einen linearen Zusammenhang zwischen der Größe der (Kieferknochen, Zähne?) und der Länge der Langknochen in Armen und Beinen fest, dies allerdings beim westlichen Gorilla Gorilla gorilla. Diese, größten rezenten Affen leben in tropischen Regenwäldern und ernähren sich wie Gigantopithecus blacki hauptsächlich von Blättern und Früchten sowie gelegentlich von anderen Pflanzenteilen wie Schösslingen, Wurzeln, Knospen oder Mark. Auch sie decken den überwiegenden Teil des Flüssigkeitsbedarfs aus der Nahrung, wie es Gigantopithecus blacki auch tat. Eine morphologische Ähnlichkeit ist also zu erwarten.

Johnson vermaß die Unterkiefer und Langknochen von westlichen Gorillas. Dabei nutzte er

  • die Maximallänge der Oberschenkelknochen (Femur) (1)
  • den Umfang im „Mittelschaft“ der Oberschenkelknochen (Femur) (2)
  • die Maximallänge der Oberarmknochen (Humerus) (3)
  • den Umfang im „Mittelschaft“ der Oberarmknochen (Humerus) (4)
  • sowie den Durchmesser des Kopfes des Oberschenkelknochens im Kniegelenk (Trochlea ossis femoris) (5).

 

Gorilla-Skelett
Skelettmaße nach Johnson an einem montierten Skelett eines westlichen Gorilla (Grafik: Autor, adaptiert von KKPCW, CC-BY-SA 4.0)

Im Unterkiefer nahm er die

  • Knochenhöhe zwischen Molar 1/2, in der 1. unten stehenden Grafik als Strecke A abgebildet.
  • Dicke des Knochens auf der Höhe M1/M2 in der 2. unten stehenden Grafik als Strecke B abgebildet.

 

 

 

Alle Knochenmaße entnahm Johnson aus den Knochensammlungen der Smithsonian Institution in Washington und dem Cleveland Museum of Natural History, beide USA. Insgesamt wurden Messwerte an 69 Einzelindividuen beider Geschlechter ermittelt.

 

Für Gigantopithecus blacki konnte Johnson nur zwei Abgüsse von Unterkiefern nutzen. Ein weiterer Abguss, der von einem nicht ausgewachsenen Tier stammt, wurde nicht verwendet.
An den beiden Unterkiefern ermittelte er Höhe und Dicke zwischen Molar 1 und 2, entsprechend Strecke 2 auf der oberen Grafik.

Unterkiefer des Gigantopithecus
Unterkieferfossil eines Gigantopithecus, ob ein Abguss dieses Fossils verwendet wurde, ist nicht bekannt. (Foto: Durova)

Ergebnisse von Johnsons Messungen

Die einzelnen Messwerte sind nicht in der Veröffentlichung enthalten. Aus den Daten errechnet er vier Verhältnisse:

  • A = Höhe des Unterkiefers bei M1/M2
  • B = Dicke des Unterkiefers bei M1/M2

 

  1. Die Femur-Länge = 143,49 + 5,35 A in mm
  2. Umfang in der Mitte des Femur = 17,579 + 1,15 A +1,13 B in mm
  3. Die Humerus-Länge = 182,520 + 5,93 B in mm
  4. Umfang in der Mitte des Humerus = 2,733 + 1,64 A + 1,62 B in mm
  5. Durchmesser des Kopfes des Oberschenkelknochens im Kniegelenk = 1,389 + 1,02A + 1,09 B

 

Johnsons Analyse erwartet Langknochen des Gigantopithecus mit folgenden Maßen:

 

 

Dies lässt eine wesentlich kleinere Größe des Gigantopithecus erwarten, als alte Studien dies „versprachen“. Die Daten „verschieben“ auch die Proportionen des großen Affen. Wie beim Gorilla sind die Vorderextremitäten länger, als die hinteren. Der Unterschied zwischen vorne und hinten ist geringer, was den Gigantopithecus auf den ersten Blick weniger „vorderlastig“ wirken lässt. Jedoch ist die Dicke des Humerus überproportional angestiegen, was bei gleicher Belastung der Extremitäten dazu führt, das beide Geschlechter von Gigantopithecus deutlich mehr Gewicht mit den Vorderextremitäten tragen, während Gorillas eine nahezu ausgeglichene Gewichtsverteilung tragen:

 

Die Maße der Langknochen lassen natürlich auf die Körpermaße der Gigantopithecus schließen. Ein etwa 21% längerer Oberarmknochen würde auch eine 21% größere Schulterhöhe bedeuten, da für die typische Menschenaffen-Fortbewegung die Arme gestreckt sind. Ein 24% längerer Oberschenkel bedeutet ein höheres, jedoch nicht unbedingt 24% höheres Becken, da die Hinterbeine beim Laufen angewinkelt bleiben.

Die größere Dicke der Langknochen von ca. 12% hinten und über 30% vorne lassen auch ein entsprechend größeres Gewicht vermuten. Grob kann man hier tatsächlich von 12% mehr Masse auf den Hinterbeinen und 30% mehr Masse auf den Vorderbeinen bzw. Armen ausgehen.

 

Massenberechnung für Gorilla bzw. Gigantopithecus:

Um eine mögliche Masse des Gigantopithecus-Modells zu errechnen, bin ich von folgender Annahme ausgegangen:

  1. Ein Knochen kann pro Fläche die selbe Masse tragen.
  2. Femur und Humerus sind an der Stelle, an der der Durchmesser gemessen bzw. ermittelt wurde, kreisrund.
  3. Männliche Gigantopithecus tragen pro Flächeneinheit Langknochendurchmesser das selbe Gewicht, wie männliche Gorillas, weibliche entsprechend.
  4. Die gemessenen Gorillas wogen zu Lebzeiten 10% weniger als das Maximum, was für das jeweilige Geschlecht in der Natur bekannt ist. Es handelt sich schließlich um die größten Individuen einer Stichprobe von 69 Elementen.

Daraus ergibt sich folgendes Szenario:

  1. Männliche Gorillas haben eine Gesamtfläche des Durchmessers der Langknochen von 4859 mm². Bei einem Gewicht von 157,5 kg ergibt das eine Belastung von 32,4 g/mm²
  2. Weibliche Gorillas haben eine Gesamtfläche des Durchmessers der Langknochen von 3216 mm². Bei einem Gewicht von 81 kg ergibt das eine Belastung von 25,2 g/mm²
    Berechnet für die beiden Gigantopithecus ergibt das
  3. Gigantopithecus Nr. 1 hat eine berechnete Gesamtfläche des Durchmessers der Langknochen von 8840 mm². Bei einer Belastung von 32,4 g/mm² ergibt das ein Gewicht von 286,5 kg.
  4. Gigantopithecus Nr. 3 hat eine berechnete Gesamtfläche des Durchmessers der Langknochen von 5314 mm². Bei einer Belastung von 25,2 g/mm² ergibt das ein Gewicht von 133,9 kg.

 

Dies ergibt etwa dieses Bild

Rekonstruktion von Gigantopithecus nach Johnson 1979
Rekonstruktion von Gigantopithecus nach Johnson, 1979

 

Vergleich der Rekonstruktionen:

 

Vergleich der klassischen und der Rekonstruktion nach Johnson
Vergleich der Rekonstruktionen mit der klassischen Größenangabe und der Größenberechnung nach Johnson

 

Wie rekonstruiert die Wissenschaft die Lebensweise von Gigantopithecus blacki?

Das Wissen der Wissenschaft über Gigantopithecus entsteht aus mehreren Quellen. Die erste, sicherlich wichtigste Quelle sind die fossilen Überreste. An Zähnen kann eine Menge abgelesen werden, da sie während des gesamten Lebens eines Individuums wachsen und abgenutzt werden. Bestandteile der Nahrung und des Trinkwassers, das ein Tier aufnimmt, finden sich also in den Zähnen wieder. Gibt es Krisen, z.B. eine Hungersnot, finden Wissenschaftler entsprechende Spuren.

 

Eine weitere Quelle ist die Rekonstruktion des Körperbaus und daraus der Vergleich mit rezenten Tieren. Dies ist mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, denn schon die beiden Rekonstruktionen weichen beispielsweise beim Gewicht um etwa 50% voneinander ab. Dies wird sich mit Sicherheit auf die Lebensweise und den Nahrungsbedarf des Tieres ausgewirkt haben. Der Nahrungsbedarf und die Verfügbarkeit von Nahrung bestimmt die Reviergröße und damit die Populationsdichte.

 

Die dritte, nicht unwesentliche Quelle sind Begleitfossilien. Sie beschreiben das Ökosystem, in dem Gigantopithecus blacki lebte, welche Nahrungspflanzen vorkamen, mit welchen anderen Tieren er zusammenlebte und ggf. konkurrierte. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um Pollen, Samen, seltener auch fossiles Holz. Holzkohlenreste deuten auf Brände hin.

 

 

Heutige Landschaft in den Karstgebieten Südchinas
Heutige Landschaft in den Karstgebieten Südchinas. Die Berge haben zu Zeiten des Gigantopithecus vermutlich ähnlich ausgesehen, im Schwemmland wird Wald gestanden haben.

 

Hierbei ergibt sich bei Gigantopithecus eine besondere Schwierigkeit. Er lebte im Gebirge, vor allem zwischen und auf den steilen Karstbergen Südchinas. Das hat zwei Nachteile für moderne Forscher: Ein Kadaver, der irgendwo an einem Berg liegt, wird nur in den seltensten Fällen „am Stück“ irgendwo in eine Senke fallen, wo er mit Erde bedeckt wird, um dann dort zum Fossil zu werden. Er bleibt offen liegen, Tiere bedienen sich, einzelne Knochen rollen oder rutschen ins Tal und werden dabei zerstört. Auch Senken und Schwemmländer, in denen die Knochen landen könnten, werden mehr oder weniger regelmäßig durch Starkregen, Schneeschmelze u.a. ausgeschwemmt. Fossilien entstehen in Gebirgen noch seltener, als im Flachland.

Typische Fundorte in Gebirgen sind Höhlen, wenn sie vorkommen. Doch auch Höhlen bieten nicht zwangsläufig gute Bedingungen, insbesondere im Karst. Karst entsteht, wenn Regenwasser, das CO2 aus der Atmosphäre gelöst hat, auf Kalkstein trifft und diesen auflöst. Dabei scheidet es den Kalk teilweise an anderen Stellen wieder ab. Dies kann zum Verlust ganzer Berge (mit Höhlen und Fossilien) führen, aber auch dazu, dass Fossilien nicht erkennbar in Sinterkalk eingeschlossen werden.

Das erklärt, warum von einem großen Affen mit mutmaßlich robusten Knochen so gut wie nichts gefunden wurde.

 

Gigantopithecus-Reko nach Johnson
Moderne Rekonstruktion eines Gigantopithecus in einem tropischen Wald am Bach. Tiefländer hat die Art wohl nur im Notfall aufgesucht.

 

Wie hat Gigantopithecus blacki gelebt?

In der vorliegenden Arbeit von Westaway et al., die die Basis für den Artikel vom 6. Februar („Warum starb Gigantopithecus aus?“) bildet, ist die Umwelt, in der dieser große Affe lebte, ausführlich dargestellt. So lange es der Art gut ging, bestand die Umwelt aus einem Mosaik aus Wäldern und Offenland, wobei die Wälder etwa 2/3 der Landfläche bedeckten. Dominierend waren hier Kiefern-, Buchen- und Birkengewächse, die Wälder waren stabil, Farne als Störungsanzeiger kamen selten vor. Die heute für die Ernährung von Orang-Utans wichtigen Flügelfruchtgewächse (Dipterocarpaceae) finden in der Arbeit keine Erwähnung. Dies deutet auf eine kühlere Umgebung hin, in der nicht regelmäßig die tropischen 25°C (plus x) erreicht wurden. Dies war wohl vor allem aufgrund der Höhenlage der Fall.

 

Die Lebensräume von Gigantopithecus waren also kühl-tropische Gebirgswälder ohne spürbare Jahreszeiten, die von Wäldern mit weichfruchtenden Bäumen dominiert wurden.

 

Karstlandschaft im Süden Chinas
Gigantopithecus haben vermutlich in den Höhenlagen, jedoch nicht an den steilen Hängen gelebt.

 

Jahreszeiten im Sinne von deutlich kälteren und wärmeren Perioden zeigte die Landschaft bis zum Aussterbefenster nicht. Es schien trockenere Perioden zu geben, in denen Gigantopithecus aus Gewässern trank. Diese nahmen zum Aussterben hin zu.

Die Hauptnahrung, Früchte und andere, faserreichere Pflanzenbestandteile, war das ganze Jahr in ausreichender Menge verfügbar, lediglich die Arten wechselten.

 

Mitbewohner der Wälder waren kleinere Orang-Utans der Art Pongo weidenreichi, aber auch andere Großtiere wie Pandabären der Art Ailuropoda microta, eine Pavianart der Gattung Procynocephalus, die Elefanten Sinomastodon, Stegodon, das Schwein Hippopotamodon und das Chalicotherium Hesperotherium.

 

Mitbewohner von Gigantopithecus blacki, Stegodon ganesa (Fotomontage)
Fotomontage eines Stegodon ganesa in einer modernen Landschaft dieser Gegend

 

Was hat zum Aussterben des größten bekannten Menschenaffen geführt?

Vermutlich war eine Klimaveränderung für das Aussterben des Gigantopithecus ausschlaggebend. Die Forscher um Westaway fanden bei den Fossilien im Aussterbefenster stärkere Abnutzungen im Mikrobereich. Dies erklären sie damit, dass zu bestimmten Zeiten nicht genug weiche Früchte zur Verfügung standen und Gigantopithecus sich zumindest zeitweise vor allem von faserreicheren Pflanzenbestandteilen ernähren musste. Dies können Sprosse, Blätter, Wurzeln, Knollen oder Ähnliches sein.

Die Klimaveränderung brachte eine Veränderung der Vegetation mit sich. Wälder brachen auf, Farne breiteten sich aus, ebenso das Offenland. Am Ende des Aussterbefensters bestand die Landschaft im (ehemaligen) Verbreitungsgebiet der Art nur noch zu 25% aus Wäldern und fast zu 50% aus offenen Landschaften wie Wiesen, Sümpfen, Schilf- und Buschland. In dieser Landschaft konnte sich Gigantopithecus nicht mehr ernähren und ist ausgestorben.

Umweltveränderungen und Aussterben
Veränderung der Umwelt in den letzten 1,8 Millionen Jahren, die zum Aussterben von Gigantopithecus blacki führten (ebenfalls nach Westaway et al., 2024, CC-BY-SA 4.0)

 

Kasten: Die Gigantopithecus = Bigfoot-Theorie

Einer der ersten Fachwissenschaftler, die sich mit dem Bigfoot-Phänomen beschäftigt haben, war der amerikanische Anthropologe und Zoologe Grover Krantz. Er begann damit 1963, kurz nachdem im Six Rivers National Forest große Fußabdrücke im Matsch gefunden und 200 kg schwere Ölfässer ohne Spuren bewegt wurden. 1971 veröffentlichte er eine Arbeit in North American Research Notes, in der er die Hypothese aufstellt, Bigfoot bzw. die „Affenmenschen“ seien Überlebende einer Population von Gigantopithecus. Diese seien vor etwa 300.000 Jahren über die Bering-Landbrücke von Asien nach Amerika gelangt und hätten die Wälder der Westküste besiedelt.

 

Wieso schließt dieses Wissen beinahe aus, dass Bigfoot ein überlebender Gigantopithecus-Nachfahr ist?

Ein wesentlicher Teil zum Ausschluss der Bigfoot-Gigantopithecus-Theorie ist die ökologische Ausrichtung von Gigantopithecus. Er war ein spezialisierter Bewohner tropischer Bergwälder. Die Autoren argumentieren schlüssig, dass G. blacki ausgestorben ist, weil durch einen Klimawandel Jahreszeiten in seinem Lebensraum erschienen und somit nicht mehr permanent Früchte vorhanden waren.

Diese Spezialisierung schließt eine Ausbreitung des Lebensraumes in den Norden aus. Je weiter man aber aus dem (sub)tropischen Bereich nach Norden gelangt, um so stärker sind die Jahreszeiten und die Saisonalität in der Verfügbarkeit von Früchten ausgeprägt. Eine Verbreitung bis in die subarktische Bering-Landbrücke hinein wäre Gigantopithecus nicht möglich gewesen. Ebenso wenig dürften die borealen und kaltgemäßigten Wälder Alaskas, Kanadas und im Pazifischen Nordwesten einen geeigneten Lebensraum darstellen.

 

Wie man sich eine „Wanderung“ vorstellen muss

Landläufig stellt man sich eine solche Wanderung so vor, dass einige Gigantopithecus ein paar Früchte einpacken, auf der Landkarte einen Halbkreis von Südchina über die Bering-Landbrücke nach Amerika zeichnen, auf Nordkalifornien tippen, „ugh ugh“ sagen und sich auf den Weg machen. Dann wandern sie ein halbes Jahr, alle frieren, die Hälfte verhungert, einer wird von einer Säbelzahnkatze gefressen und auf einmal sind sie im gelobten Land angekommen.
So könnte jedenfalls „Ice Age – Wanderung der Bigfoots“ aussehen.

Doch so funktioniert die Besiedlung neuer Lebensräume in der Biologie nicht. Eine solche Wanderung verläuft über Generationen: Junge Gigantopithecus werden geschlechtsreif und müssen Reviere erobern. Da alle Reviere besetzt sind, gründen sie neue Reviere am Rand des Verbreitungsgebietes. Können sie hier gut leben, dann pflanzen sie sich erfolgreich fort und unter Umständen vergrößern sie das Verbreitungsgebiet noch einmal um eine Reihe Reviere. Je besser geeignet ein Gebiet ist, um so mehr Junge werden pro Revier großgezogen, um so mehr neue Reviere werden benötigt, um so schneller breitet sich eine Art aus. Dort, wo das Gebiet weniger geeignet ist, werden weniger Junge geschlechtsreif, besetzte Reviere werden schneller frei, so dass sich das Verbreitungsgebiet im Extremfall gar nicht vergrößert, die „Front“ nicht weiterwandert.

Solche „Wanderungen“ verlaufen langsam, teilweise weicht die „Front“ sogar zurück. Wenn sie alle zwei bis drei Generationen eine Reviergröße nach vorne wandert, ist das schon eine schnelle Ausbreitung.

 

Diese Art der Wanderung bedeutet auch, dass das gesamte Gebiet zwischen dem südchinesischen Karstland und Nordkalifornien von Gigantopithecus besiedelt war. Möglicherweise nicht gleichzeitig, aber bei einer potenziellen Wanderung musste die Bering-Landbrücke ausreichend Nahrung geboten haben, damit „Gigantopithecusse“ dort nicht nur überleben, sondern einen Fortpflanzungsüberschuss erzielen konnten.

 

Die Bering-Landbrücke war auch zu Zeiten der von Grover Krantz postulierten Gigantopithecus-Besiedlung boreal bis subarktisch. Vermutlich war die Witterung dort vor 300.000 Jahren eher noch rauer als heute, schließlich war man auf der Hochphase der Saale/Riß-Kaltzeit und entsprechender Vergletscherung.

Wölfe konnten hier überleben, sogar ein Evolutionszentrum bilden und beide Kontinente von hier aus mit modernen Formen besiedeln (siehe Kasten „Wolf-Event„). Aber eine tropische, waldbewohnende Affenart, die auf beständige Versorgung mit frischen Früchten angewiesen war? Wohl kaum.

 

Dies hätte auch ganz andere Folgen für den Fossilbericht gehabt. Man hätte doch mehr, als nur die dürftigen Überreste aus den Karsthöhlen gefunden. An zahlreichen Stellen in China, Korea und der Amur-Pazifik-Region Russlands hat man nach Fossilien gegraben, nie ist auch nur ein Zahn oder Fingerknöchel eines großen Affen aufgetaucht – und ja, man hätte ihn erkannt.

 

Ausblick: Bigfoot und Gigantopithecus

Nach meiner Meinung ist die Darstellung des Gigantopithecus blacki als Spezialisten für ganzjährig warmfeuchte Bergwälder der entscheidende Gegenbeleg für den Versuch, das Bigfoot-Phänomen mit einer abgewanderten Gigantopithecus-Population zu erklären. Krantz hatte 1971 bei der Publikation seines Artikels noch deutlich weniger Daten zu Gigantopithecus, als wir mehr als 50 Jahre später. Dennoch hätte ihm als Zoologen auffallen müssen, dass diese Affen unterwegs und vermutlich auch in Amerika, 2/3 des Jahres so gut wie nichts zu Essen hatten.

 

Der naturwissenschaftlichen Erklärung des Bigfoot-Phänomens als realem „Affenmenschen“ tut das Wegfallen eines der Hauptargumente auch nicht wirklich gut. In einem offenen System ist ein Negativbeweis kaum möglich, aber es gibt in 70 Jahren intensiver Forschung keinerlei Beweise für Bigfoot als Lebewesen: Zwei längere Filmsequenzen, eine sehr schlechte und ein paar Auftauchen auf Bildern oder kurzes Gastspiel in Dashcam-Videos. Tausende Fußspuren, von denen ein Großteil von einem Mann gefälscht wurde, abgeknickte Bäume und Geräusche, die von Bigfoot stammen könnten – oder auch nicht.

 

Patty
Die drängendste Frage ist nicht, ob es sich in dem Bild um den Nachfahren eines Gigantopithecus handelt, sondern ob es überhaupt um ein Tier und nicht ein Menschen im Kostüm ist.

 

Kein Körper oder wenigstens ein Teil davon, weder frisch durch Jagd oder Autounfall, keine Leiche nach dem Ausbruch des Mount St. Helens. Es gibt keine mehr oder weniger alten Knochen, die irgendwo ein Hund gefunden hätte, keine Haare, die einer unabhängigen Untersuchung standgehalten hätten, keine eindeutigen Kotspuren, keine unbestreitbaren Spuren von Interaktionen mit der Umwelt. Von den zahllosen Wildkameras, die Enthusiasten in seiner Umwelt aufstellen, lässt er sich nicht fotografieren, er meidet Drohnen, selbst solche, die so hoch fliegen, dass sie vom Boden nicht zu sehen sind. Und dennoch besucht er sogar regelmäßig Leute in ihren Gärten – zumindest so lange, bis man versucht, ihn zu fotografieren.

 

Sorry, liebe Believer, aber diese Studie bestätigt meine Sicht zu der Dinge, Bigfoot nicht als reales Tier zu sehen.

 


Literatur

Johnson, A.E.: Skeletal estimates of Gigantopithecus based on a Gorilla analogy, In: Journal of Human Evolution Vol. 8, Issue 6, Pp. 585-587 (1979) https://doi.org/10.1016/0047-2484(79)90111-8

Krantz, G.S.: Sasquatch Handprints. In: North American Research Notes. Band 5, Nr. 1, 1971, S. 145–51.

Pei, W.C.: Gigant ape’s jaw discovered in Southern China. American Anthropologist 59, 834-838

Simons E.L. & Ettel, P.C.: Gigantopithecus. Scientific American 222, 77-85

Wikipedia-Seiten zu Gigantopithecus blacki, Indopithecus giganteus und Orang-Utans

Zhang, Y., Westaway, K.E., Haberle, S. et al. The demise of the giant ape Gigantopithecus blacki. Nature 625, 535–539 (2024). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06900-0

Von Tobias Möser

Tobias Möser hat Biologie, Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.