Der „Wilde Mann“ ist eine Sagenfigur, die im Volksglauben spätestens seit dem frühen Mittelalter, verstärkt in der beginnenden Neuzeit nachzuweisen ist. Er kommt vor allem im germanischen und slavischen Sprachraum vor.
Typische Darstellung
Der Wilde Mann sieht oberflächlich wie ein Mensch aus. Er trägt lange Haare und einen langen Bart, ist jedoch nackt oder mit Laub und Moos bekleidet. Er trägt keine Waffen, jedoch häufig einen Knüppel oder ausgerissenen kleinen Baum.
Üblicherweise wird er als sehr stark, jedoch primitiv dargestellt. Gelegentlich gibt es auch wilde Frauen, die mit den wilden Männern zusammenleben.
Interpretation
Im Allgemeinen wird der Wilde Mann als Personifizierung der ungezähmten, bedrohlichen Natur dargestellt. In Mittelalter und früher Neuzeit lebten in Mitteleuropa noch Bären, Wölfe, Auerochsen und Wisente. Sie waren eine regelmäßige Bedrohung für Menschen, die sich in unbewohnten Waldgebieten aufhalten mussten.
Die Kombination aus Attributen der Wildniss (Nacktheit, Bekleidung mit Blättern, Knüppel) und der Herrschaft (lange Haare und langer Bart waren höchsten Adeligen vorbehalten, je wichtiger, desto längere Haare) lässt ihn als Herrscher der Wildniss oder herrschende Wildniss erscheinen.
Kryptozoologisches
Die Meinung der Kryptozoologie zum Wilden Mann ist nicht einheitlich. Eine starke Minderheit glaubt, in ihm einen Vertreter einer Restpopulation von Hominiden zu sehen, die sehr viel später ausstarben, als bisher bekannt.
Kleiner ist der Anteil der Kryptozoologen, die in den Sagen um den Wilden Mann Rest von Erzählungen aus der Zeit sehen, in der moderner Mensch und Neanderthaler in Mitteleuropa gemeinsam vorkamen. Diese Geschichten müssen dann mehr als 30.000 Jahre alt sein. Dass Geschichten ohne schriftliche Fixierung nur durch mündliche Überlieferung lange überleben können, beweisen die australischen Aborigines immer wieder. Aber 30.000 Jahre sind auch sehr lang!
Die Mehrheit der Kryptozoologen hält die „einfache Personifizierung“ der wilden Umwelt für wahrscheinlich. Legenden und Berichte von Einsiedlern oder Ausgestoßenen, die sich an unbewohnten Orten angesiedelt haben, mögen das noch verstärkt haben.
Bergbau?
Die Bezeichnung „Wilder Mann“ trifft ungewöhnlich oft Orte oder Flurstücke, die mit Erzbergbau zu tun haben. Auch Bergstädte, die nur zur kurzfristigen Ansiedlung und Versorgung von Bergwerken angelegt wurden. Ein bestimmter Stollentyp heißt ebenfalls als „Wilder Mann“.
Wenig bekannt, aber gut belegt sind „Walen“ oder „Venediger“, die heimlich ohne die Zustimmung des Landesfürsten im Mittelalter und der frühen Neuzeit in den Mittelgebirgen Mitteleuropas nach Erzen schürften. Sie bemühten sich, unentdeckt zu bleiben. Klappte das nicht, versuchten sie, ihre Entdecker mit Funden, Silber oder Gold zum Schweigen zu bringen, wurden diese zu gierig, wurden sie umgebracht. Das führte ebenfalls zu Sagenbildung.
Die Funde der Venediger wurden in Venedig zur Herstellung bunten Murano-Glases verwendet. Da man geheim halten wollte, womit man Glas färbt oder entfärbt, konnten die Erze nicht auf dem freien Markt gekauft oder offen gefördert werden.
Möglicherweise nahmen die Venediger-Bergleute am Anfang einzelne besonders großgewachsene Männer als Wache mit, die das normale Volk als Wilder Mann interpretierte.
Heutige Verbreitung
Heute ist der Wilde Mann vor allem ein Motiv in Wappen und als Flurbezeichnung. Rustikale Gasthäuser tragen öfter seinen Namen, ebenso Stadtteile (Dresden). In der alemannischen Fasenacht spielt er eine zentrale Rolle.