Etwa 40 km nordwestlich von Berlin, im brandenburgischen Havelland, liegt das Dorf Linum. Heute ist der Ortsteil der Gemeinde Fehrbellin vor allem für seine Population an Störchen bekannt, denen zu Ehren es den Beinamen Storchendorf trägt. Doch wo heute inmitten landwirtschaftlich genutzter Felder die schwarz-weißen Vögel brüten, erstreckten sich bis ins 19. Jahrhundert weitläufige Moorgebiete. Von dieser vergangenen Landschaft ist nun nichts mehr zu sehen; jahrzehntelange Entwässerung und Urbarmachung haben ihr Werk getan.
Über Jahrzehnte und Jahrhunderte bildete der händische Torfabbau einen wichtigen Wirtschaftszweig – dabei aber kam es in den meterdicken Ablagerungen immer wieder zu faszinierenden Funden. Hervorragend erhaltene Tier- und Pflanzenreste weckten ebenso wie Relikte des vorgeschichtlichen Menschen schon im frühen 19. Jahrhundert das Interesse der Gelehrten. Eine geheimnisvolle Besonderheit stellt der rätselhafte „Schädel von Linum“ dar.

Dem mecklenburgischen Altertumsforscher Andreas Georg Masch ist ein bemerkenswerter Bericht zu verdanken. In seinem Artikel über Alterthümer im Luche bei Fehrbellin, den er 1844 in den Jahrbüchern des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde publizierte, beschreibt Masch die im vergangenen Jahr besuchte Sammlung des lokalen Oberinspektors Steinkopf in Fehrbellin, welche dieser in den vergangenen Jahren mit Funden aus dem Moor zusammengetragen hatte:
Der „Schädel von Linum“
„Das Luch bei Fehrbellin, oder Linum, wie es auch heißt, – das bekannte große Torfmoor, dessen größte Breite von Tarnow bis Brunnen etwa 3/4 Meilen beträgt und dessen Länge von Flatow bis Fehrbellin zu 2 1/2 geographischen Meilen anzunehmen ist, – liefert sehr interessante Sachen aus der Vorzeit, welche der Herr Oberinspector Steinkopf daselbst aufbewahrt. […]
Der Herr Oberinspector, welcher mit der freundlichsten Bereitwilligkeit mir und meinem Begleiter, Herrn Könitzer, Oberlehrer der Mathematik und Physik am hiesigen Gymnasium, die Ansicht der Sammlung gestattete, hat die ersten Funde an das Oberbergamt in Berlin gesandt, bald aber einen andern Entschluß gefaßt und alle spätern Funde in dem Locale der Inspection aufgestellt. Ist dieser ganz allein aus dem Luche hervorgegangenen Sammlung dadurch auch manches interessante Stück entzogen, so ist sie doch noch nicht wenig reich, wichtig und unterrichtend, wie die häufigen Besuche von Naturforschern und andern Gelehrten, z. B. Alexander von Humboldt u. A., beweisen, und Männer, wie Chamisso, Hoffmann und Poggendorf, haben sie bei ihren Forschungen, welche bedeutende Resultate über das Entstehen des Torfes im genannten Moore geliefert, die Bildung der Torfmoore überhaupt wohl festgestellt haben, sehr benutzt.
Ueberreste aus der Thier- und Pflanzenwelt, als Geweihe, Knochen und Zähne von Hirschen, Elenthieren, Pferden, wilden Schweinen, ganze Gebisse, und mehrere derselben zu einer Masse mit Torf verwachsen, Schädel, Saamen und Hülsen von Menyanthes trifoliata, minder häufig von Scheuchzeria palustris, noch einigen Galeopsis-Arten und andern Asperifolien, und was dergleichen in beide Reiche sonst noch gehört, in allen Tiefen vorkommend, bilden einen bedeutenden Theil der Sammlung.
Unter diesen fiel uns besonders ein Schädel von scheinbar sehr abnormer Form auf, den wir keinem hier oder uns bekannten Thiere anzupassen wußten. Nach vorläufigen Untersuchungen gehört er keiner unserer bekannten Hausthiergattungen an.“ (Masch 1844, 358–359)
Es folgen weitere Ausführungen zu den Mineralien, wirbellosen Tieren und Pflanzen. Neben diesen naturkundlichen Objekten umfasste die Sammlung, wie Masch sie beschreibt, auch eine Reihe archäologischer Funde – darunter mehrere Steinäxte, eine kleine Lanzenspitze aus Bronze, eine Geweihhacke, eine Flintpfeilspitze sowie einen Schnallenring aus Bernstein. Hinzu kommen zwei menschliche Schädel, die im Torf bei Linum bzw. dem nahegelegenen Dorf Langen gefunden wurden. Was aber, vor allen anderen Funden, hat es mit dem rätselhaften Tierschädel auf sich?
Leider verzichtet Masch auf eine nähere Beschreibung des „Schädels von Linum“ und erwähnt nicht, inwiefern dieser sich von bekannten Arten unterschied. Dass es sich um ein exotisches rezentes Tier handelte, erscheint unwahrscheinlich, da die Sammlung nach Aussage von Masch „ganz allein aus dem Luche hervorgegangen“ sei.

Die lokale Sammlung von Johann Heinrich Ludwig Steinkopf war seinerzeit nicht unbekannt. Bereits zwei Jahrzehnte zuvor beschrieb der Dichter Adelbert von Chamisso zusammen mit F. Hoffmann und Johann Christian Poggendorf (1822) die dort gesammelten naturkundlichen Funde. Trotz expliziter Thematisierung der tierischen Überreste findet der ungewöhnliche Schädel keine Erwähnung, was darauf hindeutet, dass dieser erst in den darauffolgenden 21 Jahren gefunden wurde. Somit könnte nur die Auffindung weiterer Quellen oder – im Idealfall – der Funde selbst Auskunft über dessen Natur geben.
Die Sammlung des Oberinspektors versinkt im Dunkel der Geschichte
Unglücklicherweise scheint sich das Schicksal des Oberinspektors Steinkopf und seiner Sammlung schon kurz nach ihrer ersten Beschreibung weitgehend im Dunkel der Geschichte zu verlieren. Allein der Historiker Leopold Karl W.A. Freiherr von Ledebur erwähnt acht Jahre später in seinem Buch über Die heidnischen Alterthümer des Regierungsbezirks Potsdam (1852) ein Ensemble von archäologischen Funden, bei denen es sich nur um die zuvor in der Sammlung Steinkopf befindlichen Artefakte handeln kann:
„Das grosse Torfmoor von Linum ist eine reiche Fundgrube nicht blos von Überresten einer untergegangenen Thier- und Pflanzenwelt, welche die Aufmerksamkeit der Naturforscher auf sich gezogen hat, sondern auch von urzeitlichen Geräthen. Davon gelangten in die Sammlung des Grafen v. Zieten in Wustrau eine keulenförmige Kornquetsche von Granit, ein Hammer von Knochen, eine Framea von Bronze, ein Ring von Bernstein, Feuerstein-Keile und Pfeile.“ (von Ledebur 1852, 43 f)

Demnach gelangten die archäologischen Artefakte „in die Sammlung des Grafen von Zieten in Wustrau“. Aus dieser Sammlung, welche Friedrich Christian Ludwig Graf von Zieten dem Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Neuruppin vermachte, ging später das heutige Museum Neuruppin hervor. Der vierzig Jahre später von Heinrich Begemann (1892) herausgegebene Katalog der prähistorischen Sammlung des Museums erwähnt die Objekte jedoch nicht. Nach Aussage von Arne Lindemann, dem Geschäftsführer des Museumsverbandes des Landes Brandenburg, welcher zuvor auch die archäologische Sammlung des Museums Neuruppin bearbeitete, existieren dort jedoch heute keine Menschen- oder Tierschädel (Mail vom 28.08.2024). Eine Anfrage beim Museum selbst blieb bislang ergebnislos. Doch wäre der abnorme Tierschädel vor 1892 in die damalige Zieten-Sammlung gelangt, so sollte man meinen, hätte von Ledebur neben den archäologischen Stücken auch diesen erwähnt. Es scheint wiederum durchaus plausibel, dass die Sammlung Steinkopf –nach dessen Tod oder noch zu Lebzeiten – aufgeteilt wurde und die naturkundlichen und archäologischen Teile an verschiedene Nachfolger gelangten.

So scheinen die beiden von Masch erwähnten Menschenschädel möglicherweise einen anderen Weg genommen zu haben. Funde dieser Art beschreibt der berühmte Anthropologe Rudolf Virchow 1872 in einem Vortrag für die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte:
„Zunächst lege ich einen Schädel vor, welcher dem Typus entspricht, der so wohl bei uns, als auch in Dänemark den eigentlichen Torfschädeln eigenthümlich ist. Leider ist, was die Zeit angeht, über diesen Schädel nichts Bestimmtes zu sagen. Derselbe ist zwischen Ferbellin und Langen gefunden worden, als man den Rhinfluss vertiefte, und mir von Hrn. Kreisgerichtsrath Rosenberg in Neu-Ruppin geschickt worden. Unter dem Bett des aus dem Ruppiner See fliessenden Wustrauer Rhin stiess man, nachdem 1 Fuss Schlamm und etwa 3 Fuss Torf weggeräumt waren, in einer Tiefe von 7 Fuss unter dem früheren Wasserspiegel und zwar auf Sandboden liegend, auf diesen Schädel und einen menschlichen Oberschenkel. Beide haben das schwarzgraue Torfcolorit.“ (Virchow 1872, 79)
Ist der „Schädel von Linum“ doch erhalten geblieben?
Handelte es sich bei jenem „Torfschädel“ aus dem Moor zwischen Fehrbellin und Langen um jenen mit gleicher Herkunftsangabe, den bereits Masch erwähnt, oder um einen weiteren Fund aus derselben Gemarkung? Die Vergesellschaftung mit einem Oberschenkelknochen dürfte für letzteres sprechen.
Virchow fährt jedoch fort, „dass von einer benachbarten Oertlichkeit, ebenfalls aus dem Linumer Moor, die hiesige Bergakademie einen Torfschädel besitzt, welcher die grösste Uebereinstimmung zeigt“ (ebd.). Könnte dies der erste in der Aufzählung von 1844 beschriebene Schädel sein? Bereits Masch erwähnt, dass Oberinspektor Steinkopf seine früheren Funde dem Oberbergamt in Berlin überstellte – durchaus denkbar also, dass in seinen späteren Jahren oder nach seinem Tod auch der Rest der Sammlung diesen Weg nahm. Das Oberbergamt aber wurde 1838 aufgelöst (Heckl 2002). Könnten die Funde von dort an die Berliner Bergakademie gelangt sein?

Die Sammlung der Bergakademie erlebte in den folgenden Jahrzehnten verschiedene Umstrukturierungen und Kriegsverluste; direkter Nachfolger sind die Mineralogischen Sammlungen der Technischen Universität Berlin. Dort sind heute jedoch keine menschlichen oder tierischen Schädel mehr vorhanden, die sich mit der einstigen Steinkopf-Sammlung in Verbindung bringen ließen, wie mir auf Nachfrage bestätigt wurde. Möglicherweise könnte einer der Schädel noch in der auf Virchow zurückgehenden Schädelsammlung der BGAEU vorliegen – tierische Schädel sind dort jedoch nicht zu erwarten. Im dem Niedermoor bei Linum indes scheinen im 19. Jahrhundert und später immer wieder archäologische Funde gemacht worden zu sein. Ernst Friedel (1877, 350) erwähnt ein bronzezeitliches Schwert, welches im „ehemaligen Seeboden“ bei Linum gefunden und für das Märkische Museum erworben wurde. Wenige Jahre später beschreibt Wilhelm Schwartz (1884, 448) einen weiteren, 1864 im „Fehrbelliner Torfstich“ entdeckten Menschenschädel sowie zwei Steinbeile und ein bronzenes Absatzbeil aus dem Linumer Luch. Auch in den letzten Jahren sind durch ehrenamtliche Sondengänger im Umfeld des Dorfes Linum immer wieder prähistorische Metallfunde entdeckt worden (Ortsakte BLDAM).
Bemerkenswert mag in diesem Zusammenhang allenfalls noch eine andere knappe Erwähnung in den Verhandlungen der BGAEU sein: „Im Moor bei Wall (unweit Alt-Friesack) wurden Knochen eines grossen Säugethieres gefunden; ebendaselbst auf dem Acker eine Anzahl wohl erhaltener Spindelsteine“, beschreibt Schwartz (1872, 224) im Rahmen eines kurzen Beitrags über die archäologischen Sammlungen in Neuruppin; weitere Informationen fehlen an dieser Stelle. Der kleine Ort Wall befindet sich auf der nördlichen Seite desselben Moorgebiets, etwa 8 km Luftlinie entfernt von Linum. Ob das ungenannte (wenngleich nicht unbedingt unbekannte) Tier von Wall, dessen Gebeine sich möglicherweise in den 1870er Jahren in der Zieten-Sammlung oder der Sammlung des Kreisgerichtsrats Rosenberg in Neuruppin befanden, derselben Art angehörte wie der rätselhafte Schädel von Linum, lässt sich nicht mehr feststellen.
Viele aufgelöste Altsammlungen aus Brandenburg, meist kaum aufgearbeitet, befinden sich heute im Fundarchiv des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologischen Landesmuseums mit Standort in Wünsdorf. Eine Sammlung Steinkopf, Linum oder Fehrbellin ist jedoch auch dort nicht vorhanden.

Von dem rätselhaften Tierschädel oder weiteren Funden dieser Art ist nach der Erwähnung 1844 nie wieder etwas zu hören; der unscharfe Bericht von Masch bleibt die letzte und einzige Quelle. Worum handelte es sich also bei diesem Geschöpf aus dem Linumer Moor? Um den Schädel eines pleistozänen Säugetiers, eine exotische Art, ein missgebildetes Individuum, eine Missinterpretation archäozoologisch ungebildeter Gelehrter – oder etwas völlig anderes? Wie alt mag der Schädel gewesen sein, wo doch aus dem Linumer Luch Funde ganz verschiedener (prä-)historischer Epochen zutage kamen? Ging er im Laufe der komplexen Sammlungsgeschichte im 19. Jahrhundert verloren oder wurde wie viele brandenburgische Sammlungen im 2. Weltkrieg und den darauffolgenden Wirren zerstört? Oder existiert der Schädel noch heute – wenn ja, in welcher Sammlung könnte er sich nun befinden?

Bis auf weiteres sind Natur und Verbleib des Tierschädels von Linum ungeklärt, womöglich werden sie es für immer bleiben. Nur eine etwaige Wiederauffindung könnte das Rätsel dieses brandenburgischen Kryptiden des 19. Jahrhunderts lösen – die Nachforschungen dauern an.

Literatur
Bardey, E. 1892: Geschichte von Nauen und Osthavelland. Mannus-Bibliothek 4, Rathenow.
Begemann, H. 1892: Die vorgeschichtlichen Altertümer des Zietenschen Museums, Neuruppin.
von Chamisso, A. / Hoffmann, F. / Poggendorf, J. C. 1822: Ueber das Torfmoor zu Linum. Archiv für Bergbau und Hüttenwesen 5, 253–277.
Friedel, E. 1877: Schwerter und Dolche nebst einem Miniatür-Hohlcelt aus Bronze. Zeitschrift für Ethnologie 9, Verhandlungen der BGAEU, 349–351.
Heckl, J. 2002: Das Brandenburg-Preußische Oberbergamt in Berlin. Zuständigkeit, Geschäftsverteilung und Personal von 1810 bis 1838. Der Anschnitt 54, 2002, 33–49
Ledebur, L. Freiherr von 1852: Die heidnischen Alterthümer des Regierungsbezirks Potsdam. Ein Beitrag zur Alterthümer-Statistik der Mark Brandenburg, Berlin.
Masch, A. G. 1844: Alterthümer im Luche bei Fehrbellin. Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 9, 358–361
Schwartz, W. 1872: Die Sammlungen in Neu-Ruppin. Zeitschrift für Ethnologie 4, Verhandlungen der BGAEU, 224.
Schwartz, W. 1884: Sitzung am 18. October 1884. Zeitschrift für Ethnologie 16, Verhandlungen der BGAEU, 448.
Virchow, R. 1872: Vergleichung finnischer und esthnischer Schädel mit alten Gräberschädeln des nordöstlichen Deutschlands. Zeitschrift für Ethnologie 4, Verhandlungen der BGAEU, 74–84.