Nicht immer kreuzen sich die Spuren der Kryptozoologen mit denen der ganz großen Zeitläufe. Nicht immer gehören kryptozoologisch Interessierte zu den ganz Großen ihres Fachs. Bei dem nun zu behandelnden Gelehrten ist das anders – er scheint heute noch aktuell. Vielleicht sogar aktueller denn je, und man wundert sich, dass nicht überall in Deutschland Schulen und Straßen nach ihm benannt wurden. Aber wahre Größe hat es ja wirklich nicht immer einfach. Dennoch: die Okenstraße gibt es in Offenburg, Freiburg im Breisgau, Nürnberg, Jena, Karlsruhe, Eisenach und Zürich. In Offenburg stehen zudem die Lorenz-Oken-Grundschule und das Oken-Gymnasium.
Die Rede ist von Lorenz Oken. Der Mann war Mediziner, vergleichender Anatom, Physiologe, Zoologe, Philosoph, Wortschöpfer (Neologismen sprudelten geradezu aus ihm heraus), Demokrat und Publizist – und manch anderes mehr. Über ihn sind bereits mehrere Biografien erschienen. Ein kleiner Beitrag kann also nicht einmal an der Oberfläche kratzen. Aber ich will hier wenigstens auf einige Aspekte eingehen, die ihn für Kryptozoologen und Anomalisten interessant machen.

Okens Lebenslauf im Schnelldurchlauf
Geboren wurde Lorenz Oken als Laurentius Okenfuß (den Fuß hat er später amputiert) am 1. August 1779 als Bauernkind in Bohlbach im Schwarzwald. Seine Umwelt erkannte früh schon seine Begabung. Er wurde vom katholischen Pfarrer und vom Lehrer gefördert und ging ab 1793 aufs Gymnasium. 1800 begann er sein Studium in Freiburg. 1802 erschien sein erstes Buch „Grundriß der Naturphilosophie“, das ihn als abstrakten Organisator der Natur zeigt. Jede Einzelbeobachtung musste in Gesetze passen, diese mussten einem überkragenden Gedanken untergeordnet sein.
Studium, Forschung, dann Professur in Jena – und Streit mit Goethe
Nach Abschluss des Studiums begleitete er in mehreren Orten diverse Stellen, forschte 1806 bis 1807 auf Wangerooge, bekam 1807 eine Professur in Jena, wo er sich mit Johann Wolfgang von Goethe stritt. Beide hatten unabhängig voneinander eine Entdeckung gemacht, doch Goethe wollte und konnte nicht teilen. Er beschuldigte Oken des Plagiats. Goethe legte ihm danach Steine in den Weg, wo es nur ging. Zudem wagte es Oken, für Pressefreiheit und gegen die Zensur einzutreten, was dem Herrn von Goethe missfiel, war er doch entschiedener Gegner einer freien Presse. Dennoch wurde Oken 1810 Hofrat zu Jena, weil der aufgeklärte Fürst nicht in den Ruch kommen wollte, die freie Meinungsäußerung zu behindern, und 1812 Professor für Naturgeschichte an der Universität von Jena.
1816 erschien das erste Heft der „Isis“, eine enzyklopädische Zeitschrift mit Schwerpunkt Naturwissenschaft, Medizin, Technologie, Ökonomie, Kunst, Geschichte und zunächst auch Politik. Goethe versuchte, das Heft sofort verbieten zu lassen, hatte zunächst damit keinen Erfolg, bis die Universität Jena Oken 1819 vor die Alternative stellte: Professur oder „Isis“ – Oken entschied sich für die „Isis“ und ließ sich des Amtes entheben.
Oken geht nach München, dann nach Zürich
1822 gründete er die „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“, die es heute noch gibt, 1827 war er in München, dann zog er, weil in Deutschland unerwünscht, in die Schweiz, wo er ab 1832 Vorlesungen an der neugegründeten Universität Zürich gab, die sich als Hort der Meinungsfreiheit zu etablieren suchte. 1835 wurde Oken Schweizer Bürger, 1848 erschien die „Isis“ zum letzten Mal. Am 11. August 1851 starb Oken in Zürich.
Wer mehr über das hier nur skizzierte Leben wissen will (und es gibt viel mehr zu wissen!), mag sich den langen Eintrag in der Wikipedia betrachten oder sich das Lesebuch zu Lorenz Oken von Martin Ruch besorgen, das einen idealen Überblick über das Leben und Denken Okens bietet.
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Ein ganz besonderer MenschDer Autor schreibt: Der Fall Oken ist ein Lehrbeispiel in Sachen Freiheit des Denkens und Handelns, und es hat mich gereizt, seinen Lebenslauf so mitzuteilen, daß er als spannende Lektüre auch Nichtfachleute interessieren kann. Bei der Materialsuche sind neue Details bekannt geworden, etwa sein Reise-Journal oder Briefe in Archiven, die alle zusammen den unbeugsamen, aufrechten Charakter des Mannes bezeugen.
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Wie so oft von Forschern des frühen 19. Jahrhunderts kann man auch von Oken sagen, er sei einer der letzten universellen Gelehrten gewesen – Zoologe, Philosoph, Mediziner, manchmal Geologe und Paläontologe. Vor allem aber ein mutiger Vorkämpfer für die Pressefreiheit und gegen den Standesdünkel. Neben maßgeblichen Werken in Naturgeschichte – Oken gilt unter anderem als der Erforscher der Einzeller und der Zelle –, vertrat er früh schon evolutionäre Konzepte und war für alle Neuentdeckungen offen, wie ein Blick in die oft auch im Internet einsehbaren Ausgaben der „Isis“ zeigt.

Die geheime Matrix der Welt
Auf einer Kryptozoologie-Website will ich mich auf die anomalistischen Aspekte von Okens Werk beschränken. Da ist zum einen sein Hang, man könnte sogar sagen: Zwang, zur Zahlenmystik. In seiner Epoche verzichtete die Wissenschaft auf das Prinzip Gott als Erklärung für den Kosmos, doch musste die dadurch entstandene Lücke noch mit mystischen Systematisierungen gefüllt werden.
Galt Gott einst als der „große Uhrmacher“, erkannte die Naturphilosophie nun – wie heute die Esoterik – überall und nirgendwo Bezüge, Symmetrie, Symbolik, Verflechtungen und verborgene Ordnung. Oken erkannte etwa als organisierende Zahlen des Universums die 5 (Finger, Zehen), die 13 und die 16.
Oken und die Zahlenmystik
Okens evolutionäre und damit verbundene zahlenmystische Vorstellungen hängen eng zusammen. Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GdNÄ) porträtiert ihn in einem Buch wie folgt:
„In seinen Werken spricht sich Oken für eine stufenförmige Verwandlung der Natur von einfachen zu komplizierten Formen und schließlich zum Menschen aus, ohne dies jedoch durch Evolution im Darwin’schen Sinn zu erklären. Der Mensch stellt bei Oken dabei die gesamte Welt im Kleinen dar. Oken suchte in allen Lebensformen Symmetrien und Strukturwiederholungen, um seine Ansicht einer umfassenden Naturmetamorphose zu unterstützen.
So stellten sich ihm Schädelknochen als umgeformte Wirbel dar und Schnecken, Fische und Vögel sah er als noch selbständige Organe des Menschen an. Als kleinste Einheit der Lebewesen betrachtete Oken sog. Infusorien oder Urtiere, die durch Urzeugung entständen und aus denen alle übergeordneten Organismen bestehen. Oken griff damit der Zelltheorie vor, in der Körperzellen als autonome Lebenseinheiten angesehen werden.“
Die Natur war ein sich selbst organisierendes System. Im „Lehrbuch der Naturgeschichte“ spricht er 1825 die „Gesetzmäßigkeit der Zahl in der Natur“ an. In seiner „Rede über das Zahlengesetz in den Wirbeln des Menschen“ hat er, wie Peter Haffner meint, „die 34 menschlichen Wirbel so lange durcheinandergewürfelt und ergänzt, bis sie vollständig in Fünfergruppen – gemäß einer seiner Lieblingszahlen – sortiert waren“. Oken allerdings war und blieb überzeugter Christ, trat allerdings spätestens in Zürich von der katholizischen zur lutheraner Konfession über.

Okens System zur Benennung der Arten
Um diese zunächst unsichtbare Struktur der Welt deutlich zu machen, wollte Oken das System der Benennung der Arten nach Linné durch ein eigenes ersetzen, in dem Gruppen zusammengehörender Organismen durch ähnlich lautende Namen bezeichnet waren. Haffner erklärt:
„Zwei Länder bilden nach Oken das Pflanzenreich, Stocker und Bluster, die ihrerseits in zwei Gaue gegliedert sind, Marker und Stammer beziehungsweise Blüher und Fruchter; Klassen, Stufen, Ordnungen, Zünfte, Sippschaften und Sippen verfeinern die Unterteilung. Da an den herkömmlichen und noch heute gültigen Pflanzennamen […] die Systematik der Ordnung nicht ablesbar ist, ersann Oken eine kombinatorische Nomenklatur, als deren Ordnungszahl er die Dreizehn nahm. Aus 13 Klassen ergaben sich 13×13 Zünfte und 13×13×13 Sippen. Und da die Zahl der Pflanzenorgane ebenfalls dreizehn war, lassen sich aus deren Namen sämtliche Namen kombinieren. Waren zweigliedrige Komposita für die 169 Zünfte durchaus angebracht, erschienen dreigliedrige für die 2197 Sippen aber zu schwerfällig – Wörter wie Zellendrossler oder Laubgröpser mochten angehen, Gröpslaubzeller oder Drosselzellengröpser indes widerstrebten Okens Sprachgefühl.
Also prägte er für jede der 169 Zünfte ein nomen simplex, das er dem Kompositum zur Seite stellte. So wurden beispielsweise im Land der Stocker die Ader-Ader zu Schlinken und die Ader-Lauber zu Dusen, die Ader-Zeller zu Matzen und die Gröps-Aderer zu Stuppen, die Drossel-Stengler zu Schwaden und die Drossel-Lauber zu Schwideln; im Land der Bluster, nicht minder voller Wunder, treffen wir auf Gewächse wie Schraden, Schlutten und Schrallen, Grampen, Gulpen und Glahnen oder Ramseln, Rodeln und Pimpeln.“
„Jahre später kam Oken darauf, daß die Pflanzenwelt nicht 13, sondern 16 Organe zählt, womit sich 16 Klassen, 16 Zünfte, 16 Geschlechter und 16 Gattungen ergeben und das gesamte Pflanzenreich aus exakt 16 x 16 x 16 x 16 Arten, das sind 65536, besteht.“
Ich muss jedes Mal lachen, wenn ich die witzigen Neologismen lese (und bin froh, dass sie sich nicht durchgesetzt haben).
Oken prägte unsere Sprache
Carus Sterne ergänzt 1879 (S. 519–520) anlässlich von Okens hundertstem Geburtstag:
„In ähnlicher Weise verfuhr er mit dem Thierreich. Auch da wurden z. B. unter den Insecten Wurzelinsecten (Würmer), Laubinsecten (Wanzen), Sameninsecten (Zweiflügler), Kapselinsecten (Bienen), Blumeninsecten (Schmetterlinge) und Fruchtinsecten (Käfer) unterschieden, wobei offenbar ganz oberflächliche Analogien leitend gewesen waren. Andererseits offenbarte sich das Genialische seiner Natur in der Schöpfung höchst origineller Classen- und Ordnungsnamen bei Thieren und Pflanzen, die oft wirklich der Natur abgelauscht erscheinen und vielfach in Gebrauch geblieben sind, wie z. B. das Wort Lurche für die Salamander, Molche und Tritonen.“
Tatsächlich hat Oken Worte erschaffen, die zu seiner Zeit ebenso fremd klangen wie Grampen, Gulpen oder Ramseln. Sie sind aber in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen: Echsen, Lurche, Schleichen, Kerfe, Falter und Quallen, aber auch bezeichnende Begriffe wie Nestflüchter oder Zelle.
Oken und die Seeschlange
In der „Isis“ – und nun geht es um Kryptozoologie – hatte Oken stets ein offenes Ohr für mysteriöse Naturphänomene und noch unentdeckte Arten. Der Seeschlange widmete die Zeitschrift knapp ein Dutzend längere und kürzere Berichte, teilweise Übersetzungen aus Amerika, teilweise eigene Beiträge Okens. Das begann bereits im ersten Jahrgang 1818 mit Berichten über die 1808 auf der Orkney-Insel Stronsa (heute: Stronsay) gestrandete Seeschlange (S. 2096), über die amerikanische Seeschlange von Gloucester (S. 2100, u.a. mit dem Woodward-Schwindel). Im Folgejahr setzte er das Thema mit weiterer, intensiver Berichterstattung über die neuenglischen Seeschlangensichtungen fort (S. 113, 263, 653, 1123, 1752–1754).

Die meisten dieser Artikel sind Übersetzungen amerikanischer Zeitungsberichte, etwa zuletzt ein Brief des Augenzeugen James Prince.
Bericht eines dänischen Schiffers
1829 brachte die „Isis“ (S. 885) die Ergebnisse einer Umfrage von Friedrich Faber am Kattegat nach dortigen Beobachtungen. Auf der dänischen Ostseeinsel Endelave traf er einen Schiffer:
„Als er bald merkte, daß ich mich für die Naturgeschichte interessierte, fragte er mich, ob ich auch eine wahre Seeschlange gesehen hätte? Als ich es verneinte, erzählte er mir, daß er [sie] vor zwey Jahren mit einem andern Manne unter Thunoe gesichtet habe. Er und sein Gefährte wurden auf einen Thierkopf aufmerksam, der nahe am Boote auf dem Wasser ruhte, um dem Kopfe eines Seehundes ähnlich war, ob sie gleich bald sahen, daß es kein Seehundskopf war.
Eine Möve kam nach dem Seethiere zugeflogen und machte einen Bogen nach ihm, worauf dieses das oberste seines Körpers 3 Klaftern [5,40 m] hoch wagerecht in die Luft warf, um den Vogel zu ergreifen, der erschrocken wegflog. Er sah dann sogleich, daß es kein Seehund, sondern eine Seeschlange war, da sie roth am Halse und überall von gleicher Stärke und doppelt so dick als der Mast des Bootes war. – Also auch an den Küsten des Cattegattes finden wir die Versicherung von dem Daseyn einer nordischen monströsen Seeschlange, an deren Existenz keiner von den norwegischen Küstenbewohnern zweifelt, und welche zu sehen noch keinem Naturforscher gelungen ist.“
Weiter geht es mit der Beschreibung heimischer Quallenarten. Anfang des 19. Jahrhunderts galt die Seeschlange noch als rein norwegisches Geschöpf, mit einer zweiten Art an der Küste Neuenglands.

Oken brachte nicht nur Übersetzungen, wie 1834 die große zoologische Klassifikation der Seeschlangen nach Rafinesque Schmaltz. Zusätzlich gab es eigene Wortmeldungen, in denen er u.a. darauf hinwies, dass es noch zu früh für eine wissenschaftliche Einordnung der gesichteten Tiere sei.
Vater der Kryptozoologie in Deutschland?
Okens Unterstützung der Seeschlange führte in Deutschland zu einer Quasi-Akzeptanz des Ungeheuers durch die Gelehrten. 1855 schreibt H. E. Linck beispielsweise in „Die Schlangen Deutschlands“ auf Seite 40:
„Doch mag nicht verschwiegen bleiben, dass jene Einen, die Skeptiker, nicht, wohl aber die Verfechter der Wahrscheinlichkeit, dem Kreise derer angehören, die ein Menschenleben der Erforschung der athmenden Natur gewidmet haben; und dass dem leichtfertigen Hohne schöngeistiger Unterhaltungsjournale der tiefe Ernst von Blättern gegenüber steht, in denen die Altmeister der Wissenschaft niederzulegen gewöhnt sind, was sie seit Jahrzehnten mühevollen Ringens im tiefen Schachte der Naturgeheimnisse erschaut und gesammelt haben.
So anerkennt namentlich Oken’s Isis und Froriep’s Notizensammlung [eine weitere wichtige populärwissenschaftliche Zeitschrift] die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseyns eines nicht näher gekannten Seeungeheuers in der Gestalt einer Schlange, durch Mittheilung von Erfahrungen, die das wiederholte Erscheinen jenes räthselhaften Geschöpfes zum Gegenstande haben. Gewiss reicht all das noch lange nicht aus, um volles Licht auf die Sache zu werfen; gedenken wir aber der vasten Räume des Ozeans, der in seinen Tiefen wohl noch Myriaden monströser Leben dem menschlichen Auge verbergen kann.“
Oken könnten wir demnach als Begründer der Kryptozoologie in Deutschland betrachten, hätte er nicht so viel mehr geleistet!
Literatur
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GdNÄ) (Hg.): Lorenz Oken; 2020 als pdf-Download (< 1 MB)
Haffner, Peter: Die fixe Idee. 13 Genies und ihre Spleens. München: dtv 1999
Link, H. A.: Die Schlangen Deutschlands. Stuttgart 1855: J. B. Müller
Ruch, Martin. Lorenz Oken 1779–1851. Ein Lesebuch. Offenburg: Schwarzwald Verlag 2001
Sterne, Carus: Ludwig Lorenz Oken. Zum hundertjährigen Geburtstage eines Vielgeschmäheten. Die Gartenlaube, 1879, Heft 31, S. 518–520