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(zum fünften Teil)

 

Wenn der Orang-Pendek kein „normaler“ Affe ist – kann er dann vielleicht ein Mensch sein? Die Frage, ob Hominiden-Sichtungen durch unentdeckte Reliktpopulationen sonst ausgestorbener Menschenarten erklärt werden können, treibt Kryptozoologen grundsätzlich um. Im Fall des Orang Pendek verhält es sich auch nicht anders. Nur müssen dieses Mal keine bekannten Vor- und Frühmenschen wie der Australopithecus, der Homo erectus oder der Neandertaler dafür herhalten, sondern eine eher unbeachtete Art: der Homo floresiensis.

 

Fast tierisch und doch sehr menschlich

Die Überreste eines solchen Menschen fand eine indonesisch-australisches Forschungsteam erstmals 2003 in der Höhle Liang Bua. Diese wiederum befindet sich auf der indonesischen Insel Flores, die dem Homo floresiensis seinen Artnamen gab.

Der Fund erstaunte die Wissenschaftler sehr. Denn der Mensch, dessen Skelett sie vor sich sahen, war nur 1,06 m groß und zu Lebzeiten schätzungsweise 30 kg schwer. Der Schädel war klein, sodass er nur Platz für ein winziges Gehirn bieten konnte. Auch wies er eine fliehende Stirn und ein beinahe fehlendes Kinn auf. Dem modernen Menschen sehr ähnlich waren dagegen das Gebiss des Homo floresiensis: Die Zähne standen relativ dicht beisammen und lange Eckzähne, wie man sie bei Affen beobachten kann, fehlten ihm.

Anhand des gut erhaltenen Schädels wurde im Laufe der Untersuchungen rekonstruiert, wie das Gesicht eines lebenden Homo floresiensis ausgesehen haben mag: Eine breite, aber flache Nase dominierte wohl das Gesicht. Auch die Augen waren – im Verhältnis zum kleinen Kopf – relativ groß. Die Lippen waren breit.

Rekonstruktion des Homo floresiensis
Künstlerisch-wissenschaftliche Rekonstruktion des Gesichtes eines männlichen Homo floresiensis (Bild: Cicero Moraes et alii, CC 4.0)

Wie menschlich der Homo floresienis auf den heutigen Betrachter wirken würde, hängt nicht zuletzt auch von einem Faktor ab, der nicht eindeutig rekonstruiert werden kann: dem Ausmaß der Behaarung. Starke Gesichts- und Körperbehaarung mit eher kurzem Kopfhaar lässt ihn natürlich tierischer wirken, als ein größtenteils unbehaartes Gesicht bzw. unbehaarter Körper mit eher langem Kopfhaar.

Ausgefeilte Kulturtechniken

Ähnlich wie der moderne Mensch beherrschte der Homo floresiensis trotz seines kleinen Gehirns einige wichtige Kulturtechniken. So gilt es als gesichert, dass er Werkzeuge herstellte und sich auch das Feuer zunutze machte. Ob er von seinen Werkzeugen auch Gebrauch machte, um etwa Kleider und Hütten herzustellen, ist unklar. Derartige Erzeugnisse wären im Tropenklima (und auch in beinahe jedem anderem Klima) längst verrottet. Sicher ist dagegen, dass diese kleinen Menschen zumindest teilweise in Höhlen lebten.

Nach aktuellem Stand der Forschung sind sich der Homo floresiensis und der Homo sapiens nie begegnet. In Erdschichten, die jünger als 50.000 Jahre sind, finden sich eine Hinweise auf den Homo floresiensis mehr. Umgekehrt lassen sich in diesen älteren Schichten keine Überreste des modernen Menschen finden. Warum der Homo floresiensis aber vor etwa 50.000 Jahren ausstarb, ist unklar.

 

Ebu Gogo – Die Geschichte vom kleinen Schmarotzer auf Flores

Man könnte die Frage natürlich auch umstellen: Ist der Homo floresiensis denn überhaupt ausgestorben, wenn er doch viele nützliche Kulturtechniken beherrschte? Damit bewegt man sich natürlich in einen stark spekulativen Bereich ohne stichhaltige Beweise. Vor dem Hintergrund von Ebu Gogo-Sichtungen auf Flores ist es diese Frage aber wert, diskutiert zu werden.

 

Homo floresiensis
Eine Homo floresiensis-Frau, oder doch ein Ebu Gogo? (Foto aus dem Smithsonian Natural History Museum, adaptiert)

 

Was ist nun ein Ebu Gogo? Laut den Angehörigen des auf Flores heimischen Nage-Volkes war (oder ist?) dieses Wesen nichts anderes, als ein sehr kleiner, primitiver Mensch. Der aktuell an der Universität von Alberta, Kanada lehrende Anthropologe Gregory Forth untersuchte zwischen 1984 und 2005 die Kultur dieses Volkes. Dabei sammelte er auch legendenhafte Überlieferungen zu diesem Kryptid.

Im Internet falsch zitiert

Die Nacherzählungen seiner Berichte, die man auf diversen Kryptozoologie-Websites findet, sind leider oft verfälscht. Daher sollen die Erzählungen an dieser Stelle nach dem Originaltext von Forth zusammengefasst werden:

Die Verfälschung beginnt mit dem Verhältnis zwischen Ebu Gogo und den Nage in etlichen kryptozoologischen Texten. Dort wirkt es so, als ob die Nage den Ebu Gogo fürchteten, da er am laufenden Band ihre Dörfer überfiel und Babys raubte, um sie zu (fr)essen. Würde man den heutigen Nage diese Fassung der Geschichte erzählen, wären sie höchst verwundert: In ihren traditionellen Überlieferungen ist der Ebu Gogo kaum mehr als ein lästiger Teil der Umwelt. Ein Affenmensch, der sich auf den Feldern und an den Speiseabfällen bediente.

Zwar wird schon von entführten und gefressen Babys berichtet. Die Erzähler sind sich allerdings sicher, dass solche Vorfälle selten waren. Einige geben sogar zu, dass der Kinderraub möglicherweise nur ein einziges Mal vorgekommen sein soll.

Ansonsten wurde das Verhältnis zwischen Nage und Ebu Gogo als angespannt, aber meist friedlich beschrieben. Die Nage sahen die Ebu Gogo nicht aufgrund ihrer angeblichen Dummheit nicht als große Gefahr an – sie verpflegten sie sogar bei ihren Festmählern.

Wieso Großmütter?

Bei diesen Festmählern bewiesen die Ebu Gogo ihre große Gefräßigkeit und sollen selbst das hölzerne Geschirr verschlungen haben. Dass „Ebu Gogo“ angeblich „Großmutter, die alles frisst“ bedeuten soll, erscheint daher auf den ersten Blick passend. Forth allerdings nutzt diese angebliche Übersetzung nicht – er spricht immer von den Ebu Gogo bzw. von den „hairy wildmen“.

Wieso der Ebu Gogo eine Großmutter sein soll, ist letztlich auch unklar: Diese Namensgebung würde darauf hindeuten, dass es sich beim Ebu Gogo um einen Ahnen(-geist) der Lebenden handelt.

Dies wäre jedoch mit der Glaubenswelt der Nage inkompatibel. Im Sachbuch mit dem charmanten Titel: „und darum ist sie so qualvoll gestorben“ von Bettina Volk-Kopplin wird das Verhältnis zwischen den Nage und ihren Toten kurz beleuchtet: Um einen guten Tod zu sterben, ist es nötig, ein hohes Alter zu erreichen und im Idealfall einer Krankheit oder der Altersschwäche zu erliegen.

Um eine Großmutter zu sein (bzw. theoretisch sein zu können), muss man wiederum ein – nach den Maßstäben eines Naturvolkes – recht hohes Alter erreicht haben. Wer aber einen guten Tod stirbt, kehrt in die Welt der Geister zurück und belästigt nicht die Lebenden in der materiellen Welt. So ist es unwahrscheinlich, dass der Ebu Gogo lediglich eine Metapher für Ahnen, die Opfer verlangen, darstellen soll.

 

Opfer für den Orang Pendek?
Vor der Islamisierung Indonesiens war die Inselwelt weitgehend hinduistisch. Auf der heute noch hinduistischen Insel Bali sind Hausopfer üblich. Bedienten sich die Ebu Gogo bei diesen Gaben?

Haben sie ihnen Kleidung geschenkt?

Zuletzt sei noch angemerkt, dass die gängigen Berichte über die Ausrottung der Ebu Gogo durch die Nage ebenfalls verfälscht wurden: In der Tat erhielten die Ebu Gogo leicht entzündliche Geschenke von den Nage, die diese anschließend in Brand steckten. Es handelte sich allerdings nicht um Kleider, sondern um Matten aus leichtentzündlichen Palmfasern, die als Betten benutzt wurden. Die Ebu Gogo zogen sie demnach auch nicht an, sondern trugen sie in ihre Höhle. Auch wissen die Erzähler zu berichten, dass mindestens ein Pärchen der Ebu Gogo entkam, sodass es sich nicht um eine vollständige Ausrottung handelte.

Die Vernichtung der Ebu Gogo sahen die Nage laut Forth übrigens eher als erfolgreiche Schädlingsbekämpfung, als als Sieg über einen Feind. Sie wollten schlicht die Erträge ihrer Felder für sich behalten.

 

Des Orang Pendeks Bruder auf Flores

Wie beschreiben die Nage nun den Ebu Gogo? Nun, die Beschreibungen sind laut Forth in sich weitgehend konsistent und weisen erstaunliche Parallelen zum Orang Pendek auf:

Laut der überwältigenden Mehrheit der Erzähler waren die Ebu Gogo deutlich kleiner als ein durchschnittlicher Mann der Nage. Forth schätzt anhand der Durchschnittsgröße von etwa 1,7 m, dass der Ebu Gogo – sollte er existiert haben – wohl unter 1,5 m groß war. Im starken Kontrast zu dieser geringen Größe wird der Ebu Gogo als äußerst kräftig beschrieben. Auch seien die Ebu Gogo mit dunklem Fell bedeckt gewesen, wobei das Gesicht unbehaart war. Sie bewegten sich aufrecht auf dem Boden fort und hatten keinen Schwanz. In diesen Punkten ist die Ähnlichkeit zum Orang Pendek enorm. Lediglich die Fellfarbe variiert bei Berichten über Letzteren stärker.

 

Fundort des Homo floresiensis
Höhle in Lian Bua, Flores. Hier wurden die ersten H. floresiensis gefunden (Foto: Rosino CC2.0)

 

Das Gesicht dieser Wesen beschreiben die Nage als Mischung zwischen einem hässlichen Menschen und einem Affen. Die Augen und Ohren werden meist als groß und menschenähnlich beschrieben. Lediglich vereinzelt ist die Rede von affenähnlichen, kleinen Augen. Die Nasen dagegen sind flach und breit. Den Ebu Gogo werden auch eine niedrige Stirn und ein fliehendes Kinn zugeschrieben. Es fehlt ihnen allerdings an großen Oberaugenwulsten der auch Knochenkämmen, die sie noch stärker wie Affen wirken lassen würden. Ob beim Orang Pendek ein solcher Kamm vorhanden ist, variiert von Bericht zu Bericht.

Die Mehrheit der Zeugen erwähnt ihn allerdings nicht.  Ebenfalls betont wurde, dass die Ebu Gogo riesige Spitze Zähne in ihren breiten Mündern hatten. Ansonsten weist die Mischung aus Merkmalen von Affen und Menschen auch wieder Parallelen zum Orang Pendek auf.

Menschenähnlich, aber primitiv

Was die Lebensweise der Ebu Gogo betrifft, sind die Nage sich einig: Sie war äußerst primitiv. Ihnen war nur eine einzige Population von 50-100 Individuen bekannt, die gemeinsam in der Höhle Lia Ula hausten. Diese war noch bis ins 20. Jahrhundert hinein für geschickte Kletterer zugänglich, sodass einige der durch Forth befragten Greise als junge Männer dort gewesen waren. Seltsamerweise berichtete keiner von ihnen, eine größere Zahl von Ebu-Gogo-Überresten gefunden zu haben, obwohl die Wesen doch angeblich in dieser Höhle getötet wurden. Inzwischen bräuchte man jedenfalls einige Hilfsmittel, um bis zum Eingang zu gelangen. Ferner ist unsicher, ob dieser nicht zwischenzeitlich eingestürzt ist.

Allgemein verhielten sich die Ebu Gogo eher wie Tiere: Sie gingen nackt umher, nutzten keinerlei Werkzeuge und machten sich auch das Feuer nicht zunutze. Im Gegenteil fürchteten sie sich den Sagen zufolge vor Letzterem so sehr, dass sie bei den Festgelagen der Nage am Rande des Geschehens blieben. Im Kontrast zu diesem eher tierischen Verhalten sind die Nage überzeugt, dass die Ebu Gogo sprechen konnten – allerdings in ihrer eigenen, murmelnden und unverständlichen Sprache. Dazu sei auch noch gesagt, dass die Nage Affen ebenfalls die Fähigkeit zu sprechen zuschreiben, wobei sie deren Stimmen allerdings anders imitieren, als die der Ebu Gogo.

Der Orang Pendek wiederum trägt Berichten zufolge ebenfalls weder Kleider noch Werkzeuge. Auch von der Nutzung des Feuers weiß niemand zu berichten. Weiterhin ist auffällig, dass auch der Orang Pendek in einem felsigen und unwegsamen Gebiet lebt: am Fuße des Kerinci-Vulkans. Darüber, ob er auch tatsächlich in Höhlen hausen soll, gibt es allerdings keine Berichte.

 

Orang Pendek = Ebu Gogo = Homo floresiensis?

H. floresiensis-Modell
Modell einer H. floresiensis-Frau aus dem naturhistorischen Museum in Paris (Foto: Eunostos CC 4.0)

Die Ähnlichkeiten zwischen Orang Pendek und Ebu Gogo sind also äußerst verblüffend. Fast wäre man geneigt, zu glauben, dass die beiden Namen dasselbe Wesen bezeichnen. Nun wird die Frage allerdings erst richtig interessant: Ähneln die Beschreibungen des Ebu Gogo (und dementsprechend auch des Orang Pendek) nicht auch stark den Rekonstruktionen des Homo floresiensis?

Da wäre schon einmal die Tatsache, dass es sich bei den Dreien jeweils um ähnlich kleine Wesen handelt, die aufrecht gehen. Letzteres ist unter den Säugetieren ja Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Auch der Homo floresiensis ging aufrecht – und war ähnlich klein, wie Ebu Gogo und Orang Pendek. Alle drei wären also primär Bodenbewohner, was sich mit den Berichten über die beiden Kryptide deckt.

Anschließend sollte das Gesicht genauer betrachtet werden. Für den Orang Pendek gibt es hier leider keine allzu genauen Beschreibungen. Wenn man aber den Ebu Gogo mit dem Homo floresiensis vergleicht, finden sich große Übereinstimmungen: Die flache Nase, die fliehende Stirn, das kaum vorhandene Kinn… Auch der große Mund ist sowohl Teil der Rekonstruktionen des Homo floresienis, als auch der Beschreibungen des Ebu Gogo.

Bei Letzterem könnte er ein Grund dafür sein, dass die Nage ihn großer Gefräßigkeit beschuldigten. Der verhältnismäßig kleine Schädel erzeugt wiederum den Eindruck eines affenartigen Wesens. Dies würde wiederum erklären, weshalb die Nage den Ebu Gogo für dumm hielten. Auch auf den heutigen Beobachter würde ein Homo floresiensis wohl wie eine seltsame Mischung aus Affe und Mensch wirken – zumal, wenn er behaart ist.

 

Unterschiede – (k)ein Problem?

Hier zeigt sich allerdings schon eine erste Unklarheit: Orang Pendek und Ebu Gogo werden von allen Beobachtern als am ganzen Körper stark behaart beschrieben. Ob auch der Homo floresiensis starke Körperbehaarung aufwies, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Über diesen Aspekt lässt sich nur spekulieren, sodass er kein geeignetes Vergleichskriterium ist.

Worüber sich nicht spekulieren lässt, ist die Tatsache, dass der Homo floresiensis keine affenartigen Zähne hatte. Dieses Wissen widerspricht den Berichten, nach denen die Eckzähne des Ebu Gogo beeindruckend lang und groß waren. Man kann allerdings nicht ausschließen, dass die Nage ihn nur in ihren Erzählungen mit diesem Merkmal ausgestattet haben, um ihn noch tierischer wirken zu lassen.

 

Schädel des Homo floresiensis (Exemplar LB 1), keine Spur von affenartigen Eckzähnen

 

Auch versichern die Erzähler der Nage, dass der Ebu Gogo keine Werkzeuge und erst recht kein Feuer nutzte. Dass der Orang Pendek ebenfalls keine Kulturtechniken beherrscht, wird zwar von den Augenzeugen nicht betont – es gibt aber auch keine gegenteiligen Berichte. Die einzige Ausnahme besteht im in Teil 2 des Artikels besprochenen Video – wenn der Speerträger denn tatsächlich ein Orang Pendek ist.  Der Homo floresiensis war jedenfalls deutlich weiter entwickelt. Beim Ebu Gogo könnten die Erzähler natürlich wieder versucht haben, ihn primitiv wirken zu lassen. Warum aber mangelt es auch in Berichten über den Orang Pendek an Erwähnungen von Werkzeugen?

Wie war das mit den Füßen?

Eine besondere Kuriosität stellt dann wieder der Fuß des Homo floresiensis dar. Zwar ging er – wie angeblich auch Ebu Gogo und Orang Pendek – aufrecht. Zugleich ergaben Untersuchungen seiner Fußknochen, dass diese nicht völlig menschlich wirkten. Vielmehr wiesen sie auch Merkmale auf, wie sie eher bei Affen üblich sind: So waren die Füße deutlich länger als die eines modernen Menschen und auch die Form des Kahnbeins ähnelte eher der eines Affen (d.h. der Fußrücken war weniger stark gewölbt).

Wer nun meint, dass Dr. David Chivers doch beim Fußabdruck eines angeblichen Orang Pendek (siehe Teil 3) von einer Mischung aus menschlichen und tierischen Merkmalen berichtete, liegt richtig.

Wer deswegen meint, dass dies der Beweis dafür sei, dass der Orang Pendek mit dem Homo floresiensis identisch ist, liegt trotzdem falsch: Der Homo floresiensis verfügte nicht über opponierbare Zehen. Wenn die beiden Wesen also identisch wären, kann der Abdruck nicht von einem Orang Pendek stammen.     .

 

Kleiner Mann auf großer Reise?

Wenn man aber annimmt, dass Orang Pendek, der Ebu Gogo und der Homo floresiensis identisch sind, tut sich ein weiteres Problem auf: Der Ebu Gogo lebt angeblich auf Flores, der Orang Pendek dagegen auf Sumatra. Beides sind bekanntlich Inseln. Es stellt sich also schon die Frage, wie das Kryptid von einer Insel zur anderen gelangt sein kann.

Fest steht jedenfalls, dass der indonesische Inselbogen, zu dem auch Sumatra gehört, bis vor etwa drei Millionen Jahren noch gar nicht existierte. Er erhob sich durch das Aufeinandertreffen der eurasischen und der indisch-australischen Platte. Zumindest Sumatra war zu diesem Zeitpunkt noch mit dem asiatischen Festland verbunden. Die beste Möglichkeit, zwischen den Inseln hin- und her zu wandern, bestand dagegen während der Eiszeiten. Vor 600.000 Jahren etwa war der Meeresspiegel so niedrig, dass die ersten Orang-Utans auf dem Landweg von Sumatra nach Borneo wandern konnten.

 

Floß
Konnten die Vorfahren der Homo floresiensis die Wasserstraßen zwischen den Inseln mit Flößen wie diesem überwinden?

 

Der Homo floresienis existierte allerdings vor 600.000 Jahren aller Wahrscheinlichkeit noch nicht in seiner späteren Form (d.h. unter dieser Artbezeichnung). Das ist unschön, da er ja der geeignetste Kandidat ist, die beiden Kryptiden Orang Pendek und Ebu Gogo zu erklären. In die letzte Eiszeit vor etwa 100.000 Jahren würde er da schon besser passen. Auch damals war der Meeresspiegel niedriger, als er es jetzt ist. Etliche der indonesischen Inseln waren daher durch eine Landbrücke verbunden. Genauer müsste man sogar sagen: die Inseln waren eine einzige Landmasse, Sunda genannt.

Flores war immer eine Insel

Hier ist aber wiederum das Dumme: Flores war gar nicht Teil dieser Landmasse. Sie erstreckte sich nur etwa bis Bali. Auf manchen Karten endet die Landmasse sogar bei Java. Trockenen Fußes wäre der Homo floresiensis also nicht von seiner Heimatinsel Flores nach Sumatra gekommen. Auch wenn die Distanz zwischen den Inseln eher gering war, hätte die Überquerung der Meerengen doch eine Herausforderung für den Homo floresiensis dargestellt. Erst von Bali (oder eben auch schon Java) aus hätte er seine Reise dann wieder auf dem Landweg fortsetzen können.

Mögliche Besiedlung
Sundaland und Nordaustralien in der Eiszeit: hellgrün: heutiges Land, dunkelgrün: in der Eiszeit Festland, heute überflutet: So könnten die Vorfahren der Homo floresiensis auf die Insel gelangt sein – und die Vorfahren der Aboriginals nach Australien.

Wo kamen die Homo floresiensis vor?

Nun ist allerdings schon der Vorfahr des Homo floresienses irgendwie vom Festland nach Flores gekommen. Wenn ihm die Besiedlung einer Insel gelang, gibt es eigentlich keinen Grund, wieso der Homo floresiensis nicht auch das Meer überwinden könnte. Schließlich war diese Art ihrer geringen Schädelgröße zum Trotz recht intelligent. Wer Werkzeuge herstellt, könnte theoretisch auch primitive Boote herstellen – Einbäume etwa. Das ist natürlich reine Spekulation. Der Wissenschaft ist momentan noch nicht einmal bekannt, wer der Vorfahr des Homo floresiensis war, der die Insel besiedelte – geschweige denn, ob er Werkzeuge nutzte. Ob sich der Homo floresiensis auf weitere Inseln ausbreitete, ist mangels Fossilienfunden auch ungeklärt. Selbst auf Flores selbst beschränken sich die Fundorte auf eine einzige Höhle.

Oder ging nur die Erinnerung auf Reisen?

Zuletzt muss noch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass nicht der kleine Mann selbst auf Reisen ging, sondern Geschichten über ihn. Mit anderen Worten: Vielleicht hat der moderne Mensch Geschichten über ihn von Flores nach Sumatra gebracht? Theoretisch möglich wäre es: Die erste Besiedlungswelle Indonesiens durch den modernen Menschen fand vor etwa 50.000 Jahren statt – etwa zur selben Zeit also, als der Homo floresiensis ausstarb. Es ist daher grundsätzlich plausibel, dass die beiden Arten noch aufeinandertreffen konnten, auch wenn keine Fossilienbeweise dafür vorliegen. Der Homo sapiens wiederum hat bekanntlich keine allzu großen Schwierigkeiten, Boote zu bauen. Diese Variante der Geschichte erklärt allerdings keine Orang Pendek-Sichtungen der heuten Zeit.

 

Orang Pendek
Folkloristische, indonesische Darstellung des Orang Pendek: Affengesicht, kurzes, dichtes Fell, Mähne und große Füße. Sieht er wirklich so aus?

Fazit

Unter allen Hominiden der Kryptozoologie ist der Orang Pendek (zusammen mit dem Ebu Gogo) sicherlich einer der glaubwürdigsten. Das gilt schon deswegen, weil er nicht zwingend eine Relikt-Population von Urmenschen darstellen muss, wie das bei einem Teil ähnlicher Kryptiden der Fall ist. Sicher – es bestehen etliche Ähnlichkeiten zwischen den Kryptiden und dem Homo floresiensis. Allerdings beschreiben ihn die modernen Augenzeugen als weit stärker tierisch, denn menschlich.

Demnach könnte es sich problemlos um eine unentdeckte Primatenart handeln. Dieser Ansatz wäre zwar nicht so revolutionär, wie die Entdeckung einer zweiten, rezenten Menschenart, aber doch sensationell.

Auch die Beweislage ist etwas dichter, als bei vergleichbaren Kryptiden. Sicher, Augenzeugenberichte, Bilder und Fußabdrücke gibt es von vielen Hominiden. DNA-Proben sind dagegen schon viel seltener. Zugleich konnte allerdings bei keiner der untersuchten Proben eine Kontamination sicher ausgeschlossen werden. Andere der Proben wurden wiederum gar nicht erst auf die darin enthaltene DNA geprüft. Die morphologische Untersuchung wurde hier bereits als hinreichend erachtet.

Viele Details sind stimmig

Ebenfalls interessant sind Details, die etwa beim Bigfoot kaum beachtet werden: So hat der Orang Pendek etwa ein recht klar definiertes und im Laufe der Zeit schrumpfendes Verbreitungsgebiet. Das ist durchaus logisch, da gerodete Flächen, geschädigte Wälder und Palmölplantagen ihm ebenso wenig Schutz und Nahrung gewähren könnten, wie dem Orang-Utan. In einem Nationalpark – wie das Gebiet um den Kerinci-Vulkan – wären seine Bedürfnisse eher zu befriedigen. Der Bigfoot hat dagegen die mysteriöse Neigung, sich in Gebieten mit menschlicher Besiedelung aufzuhalten, wo es wenig Nahrung für ein Wesen seiner Größe gäbe.

Vorläufig darf man den Orang Pendek trotzdem nicht zur realen Menschenaffenart erklären. Auch wenn die Indizienlage stärker für seine Existenz spricht, als bei Hominiden üblich – der letzte Beweis fehlt. Wie im Laufe der verschiedenen Expeditionen und Untersuchungen ersichtlich wurde, ist selbst eine DNA-Probe kein sicherer Beweis. Es wäre also dringend nötig, ein lebendes oder kürzlich verstorbenes Exemplar zu finden und für wissenschaftliche Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Nur so kann das Ziel, den Orang Pendek aus der Kryptozoologie aus- und in die etablierte Zoologie einzugliedern, erreicht werden.

Bis dahin dürfen sich diejenigen Kryptozoologen, die zu Expeditionen nach Sumatra aufbrechen, wie Professor Challenger aus „The Lost World“ fühlen: einer „verlorenen“ Art auf der Spur. Vielleicht ist der Orang Pendek ja doch eine Art Urmensch…?

 


Aufgrund seines Umfanges bieten wir das Literaturverzeichnis für diesen Artikel als pdf zum Download

Von Dominik Schindler

Dominik Schindler ist aktuell Student der Wirtschaftspsychologie (B. Sc.). Sein Interesse für die Kryptozoologie wurde erstmals im Vorschulalter durch eine Fernseh-Dokumentation über das Ungeheuer von Loch Ness geweckt. Da aber bis heute verhältnismäßig wenig deutschsprachiges Material zur Kryptozoologie verfügbar ist, ruhte dieses Interesse für längere Zeit. Erst seit wenigen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit diesem Thema. Auslöser dafür war ein Bericht über den Minnesota Iceman, der auf einer englischsprachigen Website über amerikanische Sideshows veröffentlicht wurde.