Der Siamang als Orang Pendek?
Wenn man nicht davon ausgeht, dass entweder sämtliche Augenzeugen entweder lügen oder die abstrusesten Verwechslungen vorliegen, muss es ein menschenähnliches Wesen auf Sumatra geben. Allerdings stellt sich die Frage: Wie menschähnlich muss dieses Wesen tatsächlich sein, um menschlich zu wirken? Der Verfasser ist jedenfalls der Meinung, dass es einen tierischen Kandidaten gibt, durch den sich einige, wenn auch bei weitem nicht alle Sichtungen erklären lassen: Den Siamang.
Eine Frage des Aussehens
Vom Orang-Utan abgesehen, sind die nächsten lebenden Verwandten des modernen Menschen auf Sumatra Gibbons. Zu dieser Familie von kleinen Menschenaffen zählt auch der Siamang. Insofern verfügt er am ehesten über die menschenähnlichen Eigenschaften, die auch dem Orang Pendek zugeschrieben werden.
Ein wichtiges Merkmal wäre etwa das Fehlen eines Schwanzes. Kein einziger Augenzeuge kann sich – von der vagen Beschreibung Marco Polos abgesehen – erinnern, dass „sein“ Orang Pendek einen Schwanz trug. Dementsprechend kann man eine Verwechslung mit etlichen anderen Affenarten ausschließen. Die Größenangaben des Orang Pendek schwanken meist zwischen 1 m und 1,2 m. Nur selten werden größere Maße genannt. Der Siamang wird zwar kaum größer als 90 cm, ist aber trotzdem ein geeigneter Kandidat, da Größenschätzungen oftmals ungenau sind. Dass seine Größe in Anbetracht der Aufregung der Zeugen oftmals überschätzt wird, ist durchaus glaubwürdig. Dazu kommt noch, dass zumindest die Männchen kräftig wirken, was diesen Eindruck weiter verstärkt.
Als Fellfarbe des Orang Pendeks werden vielfach dunkle Braun- oder Rottöne bis hin zu völligem Schwarz angegeben. Schwarz ist auch das glatte Fell des Siamangs. Glatt und verhältnismäßig kurz soll wiederum auch das Fell des Orang Pendek sein – im Gegensatz zum langen zotteligen Fell des Orang-Utans. Beim weiblichen Siamang ist das Fell an der Brust etwas lichter – so wie den Kryptozoologen des CFZ 2004 auch ein Orang Pendek beschrieben wurde. Was sich bei Siamang – gleich welchem Geschlechts – allerdings nicht finden lässt, ist die Mähne, die manche Orang-Pendeks tragen sollen.
Auch sei dazu erwähnt, dass den verschiedenen Augenzeugen zufolge bei Weitem nicht alle Orang Pendeks sehr dunkles bis schwarzes Fell aufweisen. Schon alleine deswegen lassen sich nicht sämtliche Sichtungen durch Verwechslungen mit Siamangs – deren Fell grundsätzlich schwarz ist – erklären.
Ein Siamang auf zwei Beinen?
Das auffälligste Verhaltensmerkmal des Orang-Pendek ist natürlich sein dauerhaft aufrechter Gang. Die einzige Affenart, die damit dienen kann, wird meistens nicht als solche beschrieben: der Mensch. Allerdings können auch Siamangs kürzere Strecken auf zwei Beinen zurücklegen. Es lässt sich problemlos Bild- und Video-Material finden, auf denen Siamangs einige Meter weit auf den Hinterbeinen laufen. Noch lieber bewegen sie sich allerdings auf dem Boden, indem sie zugleich mit den Händen nach Gegenständen in der Umgebung greifen.
Für den Vergleich zum Orang Pendek ist in dieser Hinsicht eine Beobachtung interessant, die Pak En, ein Guide des CFZ (2. Expedition, 2004) gemacht hatte. Er berichtete von einem Orang Pendek, welcher auf zwei Beinen lief, zugleich aber immer wieder nach der umliegenden Vegetation griff. Andere Zeugen erwähnen diese Eigenschaft zwar nicht, berichten aber auch nichts Gegenteiliges. Vielleicht erschien ihnen diese Art der Fortbewegung im dichten Dschungel ja als viel zu selbstverständlich, um erwähnt zu werden?
Laut ist er: ein kleiner Schreihals
Eine weitere Eigenschaft hat der Orang Pendek mit dem Siamang gemeinsam: sein extrem ungewöhnliches und lautes Geschrei. Der von Deborah Martyr interviewte Wilderer wollte deswegen sogar ohnmächtig geworden sein. Der erste Ton der Lautäußerungen eines Orang-Pendeks wird dabei immer als langezogen beschrieben. Je nach Augen- oder besser gesagt: Ohrenzeugen folgt darauf entweder ein weiterer, langgezogener Ton (vgl. „Wenig scheu mit schriller Stimme“) oder mehrere kurze Töne. Letzteres ist auch beim Siamang – wie bei anderen Gibbons auch – der Fall.
Eine Variante davon imitierte ein Guide der CFZ-Expedition 2003: Ein langgezogener Schrei, gefolgt von einem zweifachen Grunzen. Allerdings muss erwähnt werden, dass der Siamang nicht grunzt und der Schrei Richard Freeman, einen ehemaligen Tierpfleger, an keine bekannte Art erinnerte. Demnach stammte er entweder von einem anderen Tier – oder der Guide war kein so begnadeter Tierstimmen-Imitator, wie er behauptete. Die übrigen angeblichen Orang Pendek-Rufe sind noch schwerer zu überprüfen, da sie lediglich in einer schriftlichen Form vorliegen.
Von Orang Pendeks und Orang-Utans
Der menschenähnlichste, wissenschaftlich anerkannte Bewohner Sumatras ist aber naheliegender Weise der Orang-Utan. Deswegen soll an dieser Stelle untersucht werden, inwieweit er als Ursache für Orang-Pendek-Sichtungen infrage kommt.
Verbreitungsgebiete
Zunächst wäre es interessant, zu wissen, ob sich das Verbreitungsgebiet des Orang-Utans sich überhaupt mit dem „Sichtungsgebiet“ des Orang-Pendek überschneidet. Je näher die Orte von Orang-Pendek-Sichtungen mit bestätigten Orang-Utan-Populationen zusammenliegen, desto wahrscheinlicher könnten Verwechslungen vorkommen.
Orang-Utan-Populationen finden sich eher im Norden der Insel. Am stärksten von Orang-Utans besiedelt sind dabei die Regionen nördlich des Vulkans Toba. Dessen Ausbruch vor 75.000 Jahren trennte den äußersten Norden der Insel insofern vom Rest, als dass er für ein Niederbrennen des umliegenden Regenwaldes sorgte. Dadurch konnten waldbewohnende Tiere – wie etwa der Orang-Utan – nicht mehr zwischen den beiden Teilen der Insel hin- und herwandern.
Die südlichste Orang-Utan-Population Sumatras ist wiederum im Wald Batang Toru anzutreffen. Diese ist eine Kuriosität für sich, da sie nicht aus Sumatra-Orang-Utans besteht. Stattdessen macht sie eine eigene Art, den Tapanuli-Orang-Utan aus. Diese Art ist näher mit dem Borneo-Orang-Utan verwandt. Die beiden Arten sind Abspaltungen einer einzelnen, auf Sumatra beheimateten Art. Etliche Exemplare wanderten während der letzten Eiszeit vor 600.000 Jahren auf dem damaligen Landweg nach Borneo. Als diese Landbrücke abbrach, differenzierten sich die Arten heraus.
Wo lebt der Orang Pendek?
Das „Verbreitungsgebiet“ des Orang Pendek lässt sich wiederum auch gut eingrenzen. Viele der Berichte aus jüngerer Zeit stammen aus dem Kerinci-Nationalpark (Karte oben: rote Markierung). Dieser ist im mittleren Westen der Insel gelegen. Wenn der Orang Pendek als physische Art existieren sollte und die Sichtungen nicht ausschließlich auf Verwechslungen mit bekannten Arten beruhen, müsste man hier eine größere Population verorten. Andere Populationen festzulegen, erweist sich dagegen als schwierig. Laut Debbie Martyr waren ursprünglich Sichtungen der Orang Pendeks auf ganz Sumatra keine Seltenheit. Die Anzahl der Sichtungen nahm aber im Lauf der Zeit kontinuierlich ab. Wenn man nun wieder davon ausgeht, dass der Orang Pendek tatsächlich eine Tierart darstellt, müsste demnach auch die Populationsdichte stetig abgenommen haben.
Auffällig ist jedenfalls, dass sich ausgerechnet der Ort, an dem am häufigsten Orang Pendeks gesichtet werden, nicht mit dem Ort überschneidet, an dem die nächstgelegene Orang-Utan-Population zu finden ist. Der Kerinci-Nationalpark und der Batang Toru sind mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt. Auch beschränkt sich das Verbreitungsgebiet des Tapanuli-Orang-Utans ausdrücklich auf den Batang Toru. Ohnehin wird die Population insgesamt nur auf etwa 800 Individuen geschätzt. Selbst wenn einzelne Exemplare tatsächlich aus ihrem angestammten Verbreitungsgebiet weiter nach Süden wandern würden, könnte man so kaum die häufigen Sichtungen von Orang-Pendeks erklären. Schließlich liegen Berichte aus mehreren Jahrzehnten vor, was nur durch eine komplette Population von Tapanuli-Orang-Utans im Kerinci-Nationalpark erklären ließe. Dafür gibt es in diesem Gebiet allerdings keinerlei Anhaltspunkte.
Der Orang-Utan – zu „affig“, um ein Orang Pendek zu sein?
Ungeachtet dessen soll nun noch kurz untersucht werden, ob zumindest das Aussehen von Orang-Utan und Orang Pendek ähnlich sind. Wenn schließlich irgendein Tier am ehesten einem Affenmenschen ähnelt, dann doch wohl der „Waldmensch“… Oder?
Der Körperbau wäre ansatzweise passend: Die Schultern sind breit und weibliche Exemplare dürften die Maximalgröße von etwa 1,5 m kaum erreichen. Eher bewegen sie sich in einem Bereich, der mit den Schilderungen über große Orang Pendeks übereinstimmt. Ganz genaue Angaben lassen sich zur Größe eines Kryptids ohnehin nicht machen. Auch sind Orang-Utans kräftig gebaut und haben dennoch einen nicht allzu flachen Bauch – womit sie wieder dem Orang Pendek ähneln. Ebenso fehlt ihnen – von einem „Bart“ der Männchen abgesehen – weitgehend die Gesichtsbehaarung.
Den „Kamm“ über den Augen könnten wiederum die Männchen mit ihrem charakteristischen Gesicht beisteuern: Durch die Backenwülste, die das Gesicht einrahmen, entsteht zugleich der Eindruck, dass prominent „Augenbrauen“ hervortreten. Nun ist hier aber schon fraglich, ob dieses Merkmal nicht schon ein wenig zu charakteristisch ist: Orang-Utans mögen kein alltäglicher Anblick in Sumatra sein. Zugleich ist der Orang-Utan unter denjenigen Arten, die durch die Zerstörung des Regenwaldes ihren Lebensraum verlieren, wohl die bekannteste. Daher wird er häufig auf Werbematerialen von Umweltschutzorganisationen abgebildet.
Derartiges ist westlichen Besuchern sowieso bekannt und auch die Bewohner indonesischer Städte dürften in der einen oder anderen Form damit in Berührung kommen. Nun bleiben noch die traditionell lebenden Jäger und Sammler, die sich mit der lokalen Fauna eigentlich auskennen müssten – und die beteuern, dass der Orang-Utan und der Orang Pendek zwei völlig verschiedene Lebewesen sind.
Das Fell ist völlig anders
Auch ein weiteres, sehr leicht erkennbares Merkmal macht es unwahrscheinlich, dass der Orang-Utan alleinverantwortlich für Orang Pendek-Sichtungen sein kann: sein Fell. Dieses ist lang, zottelig und immer in einem Rotton gehalten. Mit Fantasie könnte man bestimmte Farbvarianten vielleicht noch für ein rötliches Braun halten. Schwarz ist allerdings das Fell keines einzigen bekannten Orang-Utans. Es könnten theoretisch sehr vereinzelt melanistische Exemplare existieren, die der Wissenschaft bis jetzt noch unbekannt sind. Die Idee, jede einzelne Orang Pendek-Sichtung auf eine zufällige Mutation mit minimaler Auftretenswahrscheinlichkeit zurückzuführen, ist allerdings schon sehr weit hergeholt. Dies gilt umso mehr, da bis jetzt keinerlei melanistischen Affen bekannt sind.
Ein Orang-Utan, der eine bei Primaten völlig unbekannte Mutation aufweist, wäre sicher aufgefallen. Auch würde das nicht erklären, warum das Fell immer als kurz und glatt beschrieben wird – wobei manche Zeugen sogar explizit den Orang-Utan als Vergleich heranziehen.
Das größte Hindernis, den Orang-Utan mit dem Orang Pendek gleichzusetzen, besteht allerdings immer noch im aufrechten Gang des Kryptiden. Wie auch Gibbons können Orang-Utans kürzere Strecken auf zwei Beinen zurücklegen. Die Betonung liegt dabei aber auf „können“, denn erstens halten sie sich lieber auf Bäumen auf und zweitens bewegen sie sich auf dem Boden eher im Knöchelgang fort.
Selbst der nächste Verwandte des Menschen auf Sumatra ist also zumindest in diesem letzten Aspekt zu sehr Affe. Und die mangelnde Menschenähnlichkeit gilt bei Weitem nicht nur für den Orang-Utan. Selbst die menschähnlichste Menschenaffenart, der Bonobo, wäre noch zu tierisch, um ein Orang Pendek zu sein. Denn ganz abgesehen davon, dass diese Art in Afrika lebt, geht auch sie primär auf allen Vieren.
Teil 6: Die Ebu Gogo und die Hobbits?
Aufgrund ihres Umfanges bieten wir das Quellenverzeichnis mit dem letzten Artikel der Serie zum Download an.