Fake Sichtung eines BeutelwolfMan stelle sich vor, in so einer Szene trabt ein Beutelwolf über die Straße. Dramatischer geht es kaum. (Leider eine Fotomontage)

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Lesedauer: etwa 17 Minuten

Der erste Teil dieses Beitrages steht hier

Wirklich die Letzten ihrer Art? Was geschah nach 1936

Benjamin und das Weibchen waren zweifelsohne die letzten greifbaren Vertreter ihrer Art. So viel ist sicher. Doch was ist mit der Zeit danach? So klar ist die Sache da keineswegs. Das ist sie nie bei einer aussterbenden Art. Doch wie kann man sich diesem Problem von wissenschaftlicher Seite her nähern?

Das Aussterben des Beutelwolfs – eine Angelegenheit für die Wissenschaft

Das war die Aufgabe von den Beutelwolf-Experten Stephen Sleightholme und Cameron Campbell. Zusammen mit Barry Brook und zwei weiteren Autoren versuchten die Forscher, mögliche Szenarien für den Verlauf des Aussterbens von dem Beutelwolf auf Tasmanien nachzuzeichnen. Um dieses Problem anzugehen, entwickelten sie eine Datenbank, in der sie sämtliche Indizien auf den Beutelwolf von den Jahren 1910 bis 2019 zusammentrugen. Zu wenig Daten hätten die vorangegangenen Studien für ihre Schlussfolgerung zum Aussterben des Beutelwolfs verarbeitet, so die Kritik, bei der die neue Studie ansetzt (Brook et. al., 2023, S. 8).

 

Tasmanische Landschaft
Die Wildnis Tasmaniens ist ohne Beutelwolf unvollständig.

 

Das Endresultat ist die Thylacine Sighting Records Database (TTSRD). Sie kann mit 1237 Einträgen aufwarten. Gespeist wurde sie mit allen möglichen Quellen, seien sie aus Regierungsarchiven, veröffentlichte Sichtungen, Museumssammlungen, Zeitungsartikel, Mikrofilme, Korrespondenzen, privaten Sammlungen sowie allen weiteren möglichen Hinweisen und Zeugenaussagen. In einem zweiten Schritt wurden die Einträge dann in Bezug auf ihre Qualität bewertet. Verantwortlich dafür waren Steven Sleightholme und Cameron Campbell. Die verschiedenen Einträge unterteilten sie in folgende Kriterien: physische Beweisen, Sichtungen von Experten (Trapper, “Buschmänner”, Ranger, etc.), Beobachtungen von Laien, indirekte Hinweise wie Spuren. Auf dieser Basis wurden dann verschiedene Szenarien für das Aussterben entwickelt. Je nach Zuverlässigkeit der verschiedenen Datasets (eine Experten-Sichtung wird in der Regel als verlässlicher eingestuft als eine Laien-Beobachtung) ergaben sich daraufhin die jeweiligen Szenarien (Brook et. al., 2023, S. 2 – 3).

 

Eine neue Methode zur Bewältigung von unsicheren Sichtungsdaten

Die verschiedenen Aussterbe-Szenarien wurden mit spatio-temporalen (räumlich-zeitlichen) Parametern visualisiert. Ich habe leider nur zwei Einführungsvorlesungen zur statistischen Methode belegt, so dass ich hier nicht zu tief einsteigen kann. Ich habe es versucht, aber es tun sich mir einfach zu viele Fragen auf. Trotzdem werde ich einen Aspekt bei der Methode hervorheben: Die Autoren sind sich der problematischen Zuverlässigkeit des Datenmaterials bewusst. Deswegen haben sie die Verarbeitung einer speziellen, neu entwickelten Vor-verarbeitungs-Methode unterzogen. Mit dem wiederholten Sampling wollen sie der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit, die den einzelnen Sichtungsberichten notwendigerweise unterliegt, Rechnung tragen. Trotzdem, auch das wiederholen sie mehrmals, bleibt die anfängliche Einordnung der Glaubwürdigkeit dem subjektiven Kriterium der Verantwortlichen unterworfen, ganz egal was danach mit den Daten im Sampling passierte. (Zur Methode im Speziellen: Brook et. al., 2023, S. 3)

 

Eine geografische Komponente – wie entwickelte sich die Beutelwolf-Population auf Tasmanien zurück?

Darüber hinaus hat man die Sichtungen (und ihre Wahrscheinlichkeit) auch noch in ein geographisches Raster unterteilt. Denn das Ziel der Studie ist ja, nicht nur den temporären, sondern auch den geografischen Verlauf des Aussterbens nachzuzeichnen (Brook et. al., 2023, S. 4).

 

Fake Sichtung eines Beutelwolf
Man stelle sich vor, in so einer Szene trabt ein Beutelwolf über die Straße. Dramatischer geht es kaum. (Leider eine Fotomontage)

 

Eine “konservative” und “liberale” Version an den zwei Enden des Spektrums

Das Ziel der Studie war es explizit nicht, nur diese eine bestimmte Zeitlinie für das Aussterben des Beutelwolfs zu erarbeiten, sondern verschiedene, alternative Szenarien, in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Glaubwürdigkeit der Sichtungen, zu präsentieren. Und an den zwei Enden des Spektrums findet sich eine “konservative” Sicht (die alle nicht-verifizierten Hinweise ausschließt) und eine “liberale” Version (die alle Sichtungen mit einschließt, aber sie trotzdem nach ihrer Qualität gewichtet)  (Brook et. al., 2023, S. 2).

 

Beutelwolf
Ein Beutelwolf aus der Nähe fotografiert

 

Physische Beweise und Sichtungen vom Beutelwolf nach 1937 – was hat die Datenbank zu bieten?

Kommen wir nun aber endlich zur Datenbank. Was sagen die Ergebnisse? Die Datenbank hat wie gesagt 1237 Einträge, die sich auf die Zeitspanne von 1919 bis 2019 beziehen. Davon sind 99 physische Beweise, 429 Expertensichtungen und 709 andere Sichtungen. Nach 1937, also nach dem Tod des letzten greifbaren Beutelwolfs im Hobart Zoo, wurde von 26 Kadavern und 16 (nicht verifizierten) Fängen berichtet, zusammen mit 271 Sichtungen von qualifiziertem Personal, also wie gesagt von Trappern, Wissenschaftlern, Regierungsbeamten oder “Buschmännern”. Die weiteren 698 Sichtungen kommen aus den Reihen der “allgemeinen Öffentlichkeit”. (Brook et. al., 2023, S. 4)

Szenario Nummer Eins – Fänge und Tötungen

Hält man es ganz streng und akzeptiert nur die harten physischen Beweise, also Fänge und Kadaver, dann gibt es keinen Grund zur Diskussion. In diesem Zeitraum fielen auch zwei Berichte von Fängen und Freilassungen in den Jahren 1935 und 1937. Die Autoren sehen keinen Grund, diese Berichte anzuzweifeln. Wenn man die unbestätigten Fänge und Tötungen auch noch einbezieht, verschiebt sich das Datum jedoch in die 1950er Jahre, mit einem statistischen Median, der von den 1970ern bis in die 1980er Jahre reicht. (Brook et. al., 2023, S. 4)

 

Szenario Nummer Zwei – qualitativ hochwertige Sichtungen

Wenn man jetzt noch die unbestätigten, aber qualitativ hochwertigen Experten-Sichtungen mit einbezieht, so verschiebt sich die untere Hälfte der Zeitlinie noch weiter nach hinten, nämlich in die späten 1950er- oder gar in die frühen 1960er Jahre. Der Median verschiebt sich dann ebenfalls in die 1980er und die 1990er Jahre. (Brook et. al., 2023, S. 4)

 

Szenario Nummer Drei – nicht verifizierte Expertensichtungen

Für das dritte Szenario nahm man nun alle nicht verifizierten Expertenmeinungen hinzu. Und gewichtete sie nach ihrer Qualität. Und dann haben wir plötzlich eine Zeitlinie, die von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart reicht! …auch wenn, so heißt es, die Wahrscheinlichkeit für ein Bestehen der Art im Jahre 2020 gering ist.  (Brook et. al., 2023, S. 4)

 

Szenario Nummer Vier – alle verifizierten und unverifizierten Sichtungen

Die “liberalste” Handhabung der Daten, die alle Sichtungen, auch die von Laien mit einschließt, führt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Selbst wenn man jeder Kategorie von Beobachtungen allesamt eine geringe Wahrscheinlichkeit zugesteht, so spannt sich das Zeitfenster trotzdem von 1969 bis 2017 als das Datum der letzten authentischen Beobachtung. Und der Median befände sich dann im Jahre 1993. (Brook et. al., 2023, S. 4)

 

Mathematische Berechnung der Beutelwolf-Population und Aussterbedatum
Mathematische Darstellung aus der Arbeit. Die Grafik links zeigt die Wahrscheinlichkeit, wann der Beutelwolf ausgestorben ist, die Grafik links die Wahrscheinlichkeit für sein Überleben (nicht die Zahl der Tiere).

 

Weitere Besonderheiten

Die Szenarien des Aussterbens ergeben sich also in Abhängigkeit von der Qualität des Datenmaterials. Wie zu erwarten, verschiebt sich die Zeitlinie für das Aussterben mit der abnehmenden Qualität der Indizien immer weiter nach hinten. Das sollte nicht weiter verwundern. Doch brachten die Resultate noch weitere Besonderheiten zutage, die meiner Meinung nach das eigentlich Interessante sind.

Zwei Sichtungswellen

Der “Kurs” der Sichtungen zeigt zwei Höhepunkte. Einen für das Jahr 1937 und einen weiteren 1970. Den ersten erklären die Autoren mit dem damals neuen gesetzlichen Schutz des Beutelwolfs, der eine Anhäufung der Meldungen induzierte. Hingegen hat die zweite Sichtungswelle die größere Medienaufmerksamkeit in der Zeit als Ursache. So geht hier die große Zahl an Berichten wohl auf mediales Framing zurück.

 

Empirische Erhebung bringt Cluster von übereinstimmenden Sichtungen zutage

Interessant bleibt jedoch die Existenz von zeitlich-räumlichen Clustern (grob gesagt: Klumpen) von Sichtungen, die in der Beschreibung große visuelle Übereinstimmungen aufweisen. Das Wichtige hierbei ist, dass diese Korrelationen erst durch die empirische Erhebung sichtbar wurden. Sie konnten im Moment der Meldung der Sichtungen an die Behörden so nicht auffallen. (Brook et. al., 2023, S. 4) Das bedeutet: viele Personen haben ähnliche Tiere gemeldet, ohne dass sie sich untereinander beeinflusst haben könnten. Und diese Cluster waren in der Gemengelage aller Daten lange versteckt.

 

Zwei Beutelwölfe
Die Zahl und vor allem die Qualität von Beutelwolfsichtungen ging in den 2000ern massiv herunter

 

Qualitativer break-down der Beutelwolf-Sichtungen in den 2000er Jahren

Die Auswertung brachte noch ein weiteres relevantes Detail ans Licht. Denn im Großen und Ganzen blieb die Anzahl der Sichtungen von 1940 bis 1999 nämlich relativ konstant. Erst ab 2000 macht sich ein substanzieller Abfall der Sichtungskurve bemerkbar, vor allem in der Qualität der Sichtungen. Nur eine Expertensichtung liegt für die 2000er Jahre vor. Die Anzahl der Sichtungen minderer Qualität fiel zwar auch, blieb dann aber auch auf einem niedrigen Niveau konstant. Brook et. al. interpretieren diese Zahlen dahingehend, dass das Aussterben wohl irgendwann nach 1985 erfolgt sein muss. (Brook et. al., 2023, S. 4)

Mir stellt sich da die Frage, ob man die konstant bleibende Rate der Laiensichtungen als das Ergebnis einer “kulturellen Vorbelastung” sehen könnte, da sie sich von den Schilderungen des qualifizierten Personals abgrenzt und deswegen auch heute noch anhält, obwohl de facto kein Beutelwolf mehr “da draußen” zu finden ist. Wie gesagt: es ist eine Interpretation, nicht mehr. Es wäre aber eine logische Konsequenz aus der Interpretation dieser Daten.

 

Da müssen wir aber erst noch eine weitere Dimension betrachten.

Geografische Aspekte

Eine klare Tendenz: Verschwinden von Ost nach West

Mögliche Aussterbensereignisse des Beutelwolfes nach Jahren
Die Abbildung stammt aus dem oben genannten Paper, sie zeigt eine potenzielle Relikt-Verbreitung des Beutelwolfs in zeitlicher Abfolge

Wie gesagt: Die Studie konzentrierte sich nicht nur auf den zeitlichen Verlauf. Daneben war auch das Ziel, den Verlauf des Aussterbens auch in seiner geographischen Dimension abzubilden. Will sagen: Man wollte aufzeigen, wann der Beutelwolf wo ausgestorben ist. Und hier zeigte sich eine ganz klare Tendenz: Zuerst verschwand der Beutelwolf im Südosten und in den midlands Tasmaniens. Diese Entwicklung wäre kohärent mit der dort stattfindenden Ausdehnung von Landwirtschaft und Siedlungsbau. Doch schließlich verschob sich diese Linie mit der Zeit auch in Richtung der entlegenen Regionen des Zentrums und des Südwestens der Insel. So muss sich die Art bereits 1937 auf der gesamten Insel stark im Rückgang befunden haben. (Brook et. al., 2023, S. 5)

 

 

Kein Zweifel für den Südosten und den Midlands

Doch möglicherweise hielt sich noch eine Population im südlichen zentralen Teil und in den nordwestlichen Regionen auch noch länger. Vielleicht gab es sogar noch zweitweise eine isolierte Population im Nordosten. Mit Sicherheit aber war der Beutelwolf jedoch aus dem Südosten und in den midlands 1920 schon verschwunden. Dort wurden die Beutelwölfe auch stark verfolgt. Die Daten, und vor allem die schlechte Qualität derselben, zeigen auf, dass der Beutelwolf dort 1960 wohl sicher nicht mehr präsent war.

Nicht so im Südwesten der Insel, allen voran entlang der Tasmanien Wilderness World Heritage Area, bis hinauf zum Regenwald in der Tarkine-Region. Dort, so die Autoren, könnte sich die Art trotz der Dezimierung noch länger gehalten haben. (Brook et. al., 2023, S. 5)

 

Rückzugsort in Tasmaniens abgelegenen Westen?

Und hierbei ist wieder ein Detail von Interesse. Zwei Datasets von “Aussterbe-Karten” weisen erstaunliche Kongruenzen in Bezug auf die Verortung potenzieller Rückzugsorte auf! Beide beinhalten “Hotspots” von Indizien. Das ist besonders erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass beide Karten auf zeitlich unterschiedlichen und sich nicht überschneidenden Daten beruhen (auch wenn das letzte Dataset keine verifizierten Berichte mehr enthält).

 

“Überleben bis in heutige Zeit”

Und dann kommt schließlich im Paper der magische Satz, der das Herz des kryptozoologischen Enthusiasten höher schlagen lässt:

 

“Das wahrscheinlichste Datum für das Aussterben in dieser Region liegt wohl irgendwann in den 1990er Jahren, obwohl die oberen Vertrauensbereiche des Modells auch den heutigen Tag in einigen Regionen der Tasmanischen Wildnis mit einbeziehen“. (Brook et. al., 2023, S. 5)

 

Was bleibt: verblüffende Übereinstimmungen

Dieser Satz hat in vielen Meldungen zum Ergebnis der Studie schon die Runde gemacht. Mein Ziel war, dem Leser aufzuzeigen, dass man diese Interpretation im Sinne der Autoren differenzierter betrachten muss. Die Resultate beruhen erstens auf einem großen Teil nicht verifizierter Daten. Und das zwang die Forscher zu einer subjektiven Vor-Kategorisierung ihrer Qualität, selbst wenn man durch spezielle statistische Methoden eine Objektivierung der Daten wiederherzustellen versuchte. Die Aussagekraft der Daten wird also zweimal relativiert. Dennoch, und das ist das Verblüffende, ergäbe sich dann trotzdem ein kohärenter zeitlicher und vor allem geografischer Ablauf für das Aussterben des Beutelwolfs. Die Szenarien könnten einander sogar ergänzen. So erklärt sich die Abwesenheit der harten physischen Beweise möglicherweise eben gerade durch den neuen Schutzstatus von 1936, der eine Tötung von nun an strafbar machte. Deswegen wurde diese dann auch nicht mehr gemeldet (Brook et. al., 2023, S. 6).

 

Beutelwölfe
Beutelwölfe, von Stephen J. Gould gemalt

 

Ein Problem mit der kulturellen Komponente. Oder: Beutelwolf als sozialer Mythos

Jetzt bleibt aber noch ein Problem bestehen. Die nicht verifizierten Beutelwolf-Sichtungen als Ergebnis eines „kulturell induzierten” sozialen Mythos. Es gab auch zwischen 1910 und 1936, als der Beutelwolf offiziell noch existierte, viele unbestätigte Sichtungen. Doch ist hier nicht von einer kulturell induzierten Fehlinterpretation auszugehen, denn eine Beutelwolf-Sichtung war nichts Besonderes. Es interessiert keinen. So ist laut Brook et. al. von ihrer Authentizität auszugehen. Das änderte sich jedoch in der Zeit nach 1936. Das Interesse am Beutelwolf wuchs. Zoos gaben Prämien für ein neues gefangenes Exemplar heraus. Und als man sich nun der immer größer werdenden Kluft in der Qualität der Beweislage (fehlende physische Beweise gegenüber von anekdotischen Berichten) bewusst wurde, wuchs damit auch das Motiv für Fälschungen, oder eben auch der “unbewusste Wunsch, einen lebenden Beutelwolf sehen zu wollen” (Brook et. al., 2023, S. 8).

Und hier wären wir dann auch bei Fehlinterpretationen als Resultat eines kulturell induzierten Mythos. Hierbei bleibt es jedoch extrem schwierig, den Punkt zu bestimmen, an dem alle Sichtungen als wahr sich in das Gegenteil verkehren und auf Fehlinterpretationen zurückzuführen sind. Brook et. al. sprechen hier von einem “Nebel des Krieges”, mit der sich die Naturschutzbiologie unweigerlich konfrontiert sieht. Um durch den gordischen Knoten zu durchschneiden, gerät man zwangsweise in die Abhängigkeit der Glaubwürdigkeit der verschiedenen Zeugen und die mit der Sichtung assoziierten Details, ganz wie das bei “normalen” gerichtlichen Prozessen auch gehandhabt wird (Brook et. al., 2023, S. 8).

 

Beutelwolf in Wien
Das Wiener Exemplar des Beutelwolfes. Leider sind von der Art kaum mehr als einige Dermoplastiken und andere Museumsexemplare übrig

 

Rechtfertigung der Studie: Wissen um den Beutelwolf ist „intrinsischer Wert”

Wem das zu unsicher ist, der ist in seinem guten Recht, die Ergebnisse dieser Studie zu ignorieren. Augenzeugenberichte allein sind keine Basis, das offizielle Aussterbedatum einer Spezies wie dem Beutelwolf weiter hinten zu veranschlagen. Brook et. al. arbeiteten notwendigerweise mit einem Ansatz, der den konservativen Kriterien nicht gerecht wird. Doch warum machten sie die Studie überhaupt? Und wieso “notwendigerweise”?

Es gibt tatsächlich noch viel Klärungsbedarf in der Geschichte des Beutelwolfs, allen voran sein allmähliches Verschwinden. Wir haben darüber auf dieser Seite mehrmals berichtet. Daher besteht, wie die Forscher vollkommen richtig betonen, ein “intrinsischer Wert“ (Brook et. al., 2023, S. 8) in dem Erkenntnisgewinn zum Beutelwolf. Und außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Das bedeutet hier: man muss mit allem Material arbeiten, das man zur Verfügung hat, selbst wenn dieses den konservativen Kriterien nicht mehr gerecht wird. Und das sind eben diese unverifizierten Berichte.

 

Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum Studien dieser Art einen großen wissenschaftlichen Wert haben.

Der tasmanische Teufel nimmt einen ähnlichen Weg, wie der Beutelwolf, aus völlig anderen Gründen
Der Tasmanische Teufel ist der größte verbleibende Raubbeutler – und nimmt einen ähnlichen Weg, wie der Beutelwolf, wenn auch aus anderen Gründen. Wir sollten gegensteuern.

 

Ein wichtiger Beitrag für den zukünftigen Artenschutz

Wenn wir in der Lage sind, zeitliche und geographische Szenarien vom Verlauf des Aussterbens einer Art wie dem Beutelwolf zu entwickeln, so könnten wir diese Erkenntnisse auf andere Arten anwenden, für die es noch nicht zu spät ist. Auch Lokalitäten mit Rest-Populationen könnten so besser eruiert werden, und damit auch eine konzentriertere Ressourcenallokation bei Auswilderungs- und Schutzprogrammen ermöglichen. (Brook et. al., 2023, S. 8). Deswegen hat die Naturschutzbiologie gute Gründe, bei ihrer Suche nach Restpopulationen auch auf nicht verifizierte Sichtungsberichte und Indizien geringerer Qualität zurückzugreifen.

 

Mal wieder: Großes Potenzial für die Kryptozoologie als Hilfswissenschaft

Und hier hat die Kryptozoologie, ich kann es nicht oft genug betonen, ein großes Potenzial, sich als Hilfswissenschaft zu etablieren. Denn Kryptozoologie versteht sich heute als das Dechiffrieren von der komplexen Realität hinter Sichtungen von Kryptiden, seien diese nun eine reine mythologische Konstruktion, oder gar biologischer Natur, oder aber gar eine Realität zwischen Fakt und Fiktion, die sich als Fehlinterpretationen natürlicher Stimuli aufgrund kultureller Vorprägungen einstellt … in jedem Fall können wir mit unserer “Erfahrung” mit diesem “Nebel des Krieges” wichtige Ansätze zur Einordnung dieser nicht verifizierten Berichte beisteuern. Und um es noch einmal mit Nachdruck zu sagen.

Es geht uns schon lange nicht mehr darum, fiktive Kreaturen auf Basis von nicht verifizierten Sichtungsberichte mit der argumentativen Brechstange in die harte Realität der zoologischen Fakten hineinzuprojizieren.

Vielmehr stellt sich uns heute die Frage umgekehrt, nämlich, was befindet sich am “Ende der Fahnenstange” hinter den Berichten. Gibt es überhaupt eine zoologische Realität? Es wird nicht mehr, wie früher, das besagte Ende der Fahnenstange von vornherein mit einer spekulativen Aussage über die Existenz einer fiktiven Spezies (oder fiktiven Fortexistenz einer ehemals realen Spezies) festgelegt. Ich zumindest verstehe meine Herangehensweise in diesem, erstgenannten, Sinne.

 

Fell des letzten Beutelwolfes
Fell des letzten bekannten Beutelwolfes, präpariert 1936/37. Foto: TMAG

 

Schlusswort: 2023 war bis jetzt ein gutes Jahr für den Beutelwolf!

Doch kommen wir noch einmal zurück zum Beutelwolf.  Seit meinem letzten Resümee zur Lage des Beutelwolfs im September 2021 (Siehe hierzu meinen Beitrag “Im Westen Tasmaniens nichts Neues”) hat die Forschung neue Fakten ans Licht gebracht, die viele der offen Fragen, die sich mir beim Abfassen der früheren Beiträge stellte, endlich befriedigend klären.

Darüber hinaus haben wir tatsächlich jetzt eine wissenschaftliche Stellungnahme, die uns erlaubt, das Ableben der letzten Beutelwolf-Population auf Tasmanien nachzuzeichnen. Interessiert sind hier wie gesagt die Cluster und geographischen Besonderheiten, die die empirische Erhebung der immensen Datenmenge zutage gebracht haben. Natürlich sind die Ergebnisse Schätzungen, die auf einer subjektiven Vorbereitung beruhen. Man sollte sich also sehr gut überlegen, ob man sich einen Flug in Tasmaniens wilden Südwesten bucht und die unberührte Natur mit Fotofallen überzieht. Ein Überleben bis heute findet sich nur in den letzten, sehr liberalen Szenarien, bei denen man alle Schranken der Datenauswertung fallen gelassen hat.

Doch das Szenario einer Population, die sich weit nach den 1930er Jahren im Südwesten Tasmaniens gehalten hat (wenn auch nicht bis heute), hat sicherlich seine Daseinsberechtigung. Und das auch in einer ernsthaft geführten wissenschaftlichen Debatte.


Post Skriptum. Mal wieder: der Adamsfield-Kadaver

Und für diejenigen, die es gerne noch etwas “klassisch kryptozoologischer” hätten und hier einsteigen wollen:

Es gab dieses Jahr auch Neuigkeiten zum “Adamsfield-Kadaver”, dem angeblich 1990 in Tasmanien geschossenen Beutelwolf. Tobias Möser hat hierzu schon in der Presseschau 5/23 etwas berichtet.

 

Aufnahmen um den Adamsfield-Kadaver
Die Aufnahmen um den Adamsfield-Kadaver mit Erklärungen von Chris, sicher einem der besten Kenner des Beutelwolfes.

 

Weitere Links findet ihr hier, auf der Facebook-Seite und Homepage von Chris Rehberg, der sich mit dem Fall eingehender beschäftigt. Die Artikel wurden am 1. Mai 2023 geupdatet:

https://www.facebook.com/photo/?fbid=672200581583181&set=a.477207447749163

http://www.wherelightmeetsdark.com.au/examining-the-evidence/tasmanian-tiger-(thylacine)/adamsfield-thylacine/adamsfield-thylacine-further-evidence/

http://www.wherelightmeetsdark.com.au/examining-the-evidence/tasmanian-tiger-(thylacine)/adamsfield-thylacine/adamsfield-thylacine-questions-and-answers/


Zum Weiterlesen

Brook et. al. (2023). Resolving when (and where) the thylacine went extinct. Science of the Total Environment. 877,

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048969723014948 (letzter Zugang am 03.06.2023)

LiveScience vom 14. Dezember 2022. Lost remains of last known Tasmanian tiger found hidden in museum cabinet. https://www.livescience.com/extinct-tasmanian-tiger-thylacine-australia-museum

(letzter Zugang am 02.06.2023)

LiveSicence vom 9. September 2021. Stunning colorized footage provides a glimpse of the last known Tasmanian tiger.

https://www.livescience.com/last-tasmanian-tiger-film-colorized.html (letzter Zugang am 02.06.2023)

Der Standard vom 10. Dezember 2022. Tasmanien: Letzter Beutelwolf in einem Schrank entdeckt. https://www.derstandard.de/story/2000141600817/tasmanien-letzter-beutelwolf-in-einem-schrank-entdeckt (letzter Zugang am 01.06.2023)

Tasmanian Museum & Art Gallery. Thylacine Mystery solved in TMAG Collections. https://www.tmag.tas.gov.au/whats_on/newsselect/2022articles/thylacine_mystery_solved_in_tmag_collections (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine Museum – a – The Churchill capture – The Churchull capture continued.

http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/Benjamin/Benjamin_3.htm

http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/Benjamin/Benjamin_4.htm (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine Museum – b – Benjamin´s Gender? 

http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/Benjamin/Benjamin_5.htm (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine Museum – c – The Fleay Film

http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/films/flv/film_5.htm (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine-Museum – d – The historical Thylacine films – Film 9 http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/films/flv/film_9.htm (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine Museum – e – The historical Thylacine films – Film 8 http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/films/flv/film_8.htm  (letzter Zugang am 01.06.2023)

Thylacine-Museum – f – The Mullins family group

http://www.naturalworlds.org/thylacine/captivity/Benjamin/Benjamin_2.htm (letzter Zugang am 01.06.2023)

Paddle, R. & Medlock, K. (2023). “The discovery of the remains of the last

Tasmanian tiger (Thylacinus cynocephalus)”. Australian Zoologist. 

https://meridian.allenpress.com/australian-zoologist/article/doi/10.7882/AZ.2023.017/492733/The-discovery-of-the-remains-of-the-last-Tasmanian (letzter Zugang am 01.06.2023)

Von Peter Ehret

Peter Ehret ist studierter Politikwissenschaftler und Rechtsphilosoph. Praktisch sein ganzes Leben ist Zoologie im Allgemeinen sein wichtigstes Hobby. Seit dem Jahr 2000 befasst er sich mit Kryptozoologie. Themenschwerpunkt seines kryptozoologischen Interesses sind die Rückwirkungen von konventionellen Tierbeobachtungen auf Legendenbildung. Seit 2012 lebt und arbeitet er als Deutschlehrer in Spanien.