In den sozialen Medien wurde in den letzten Wochen immer wieder die Erstbeschreibung einer sehr ungewöhnlichen Fischart, Sinocyclocheilus longicornus gepostet. Diese Fischart ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich, wie schon das Bild erkennen lässt.
Systematisches
Doch die Gattung Sinocyclocheilus ist über diese eine Fischart hinaus sehr ungewöhnlich. Die Tiere gehören zu den Karpfenfischen (Cyprinidae), darin stehen sie in der Unterfamilie Cyprininae, „die Karpfen im weiteren Sinn“. Die Typusart ist Sinocyclocheilus tingi. Fishbase listet 91 beschriebene Arten in der Gattung. Etwa 70 Taxa gelten heute als gültig.
Alle Sinocyclocheilus-Arten sind endemisch in China, genauer in den Provinzen Guanxi, Suizhou und Yunnan im Südosten des Landes. Unter den 70 Taxa sind zahlreiche Synonyme, die genaue Artenzahl ist also wesentlich geringer. Die meisten dieser Taxa sind in den letzten 30 bis 40 Jahren beschrieben worden.
Derzeit findet eine Art „Bestandsaufnahme“ statt, so dass regelmäßig Arten neu beschrieben werden. Üblicherweise folgt einer solchen Phase dann eine Phase der genaueren Untersuchung, bei der häufig festgestellt wird, dass zahlreiche Arten mehrfach erstbeschrieben wurden, also Synonyme sind. Aktuell werden 68 Arten als gültig betrachtet, wie viele es in 10 oder 15 Jahren sind, ist heute noch nicht absehbar.
Nahezu alle Arten der Gattung Sinocyclocheilus leben höhlengebunden. Ihr Verbreitungsraum bietet eine große Zahl an Karsthöhlen, deren Wasserkörper teilweise, aber nicht zwingend miteinander verbunden sind. Dies erklärt die hohe Artenzahl.
Bemerkenswert ist, dass eine Sinocyclocheilus-Art, S. hyalinus, bereits 1540 in einem Reisebericht von Yingjing Xie, einem lokalen Gouverneur, erwähnt wurde. Das scheint die älteste Erwähnung eines Höhlenfisches überhaupt zu sein.
Auf dem Weg zum Höhlenbewohner
Die Gattung zeigt nahezu perfekt die Evolution vom reinen Oberflächenfisch zum spezialisierten Höhlenbewohner. Es gibt Oberflächenfische mit voller Pigmentierung, funktionsfähigen Augen und kompletter Beschuppung. Es gibt fleischfarbene Höhlenfische, mit rudimentären Augen und extrem reduzierter Beschuppung und es gibt nahezu jede Zwischenstufe.
Dabei ist typisch, dass nicht alle Oberflächenfisch- Merkmale gleichzeitig „immer ein wenig mehr“ rückgebildet werden, sondern dass bestimmte Merkmale zuerst, andere später reduziert werden. Doch das ist nicht das einzige, was die Gattung interessant macht.
Die wichtigste Arbeit über chinesische Höhlenfische stammt von Romero, Zhao und Chen aus dem Jahr 2009. Sie haben alle damals bekannten Arten aufgelistet und zahlreiche Merkmale aufgeführt. Ein besonderes Augenmerk legten sie auf Anpassungen an Höhlen. Interessanterweise führen sie die Tendenz, mehr oder weniger hochrückig zu bleiben, aber flache und lange, entenschnabelartige Köpfe auszubilden auch als Anpassung an das Höhlenleben. Einige Sinocyclocheilus-Arten bilden zudem im Bereich des Nackens, zwischen Kopf und erster Rückenflosse einen fleischigen Buckel aus. Der Buckel kann zu einer Art Haken auswachsen, der im Extremfall sogar weit über den Hirnschädel nach vorne reicht. Bei mindestens einer Art ist der Buckel stark hakenförmig ausgebildet und gespalten (S. bicornutus). Die Funktion dieser Struktur ist nicht bekannt. Romero, Zhai und Chen führen auch dieses Merkmal als Anpassung an das Höhlenleben auf und mutmaßen, dass es sich um eine Struktur handelt, die das Tier auf irgend eine Weise schützt.
Ein nicht ganz passender Vergleich
In der nicht näher verwandten Familie der Kurter (eine barschverwandte Gruppe) gibt es eine auf den ersten Blick ähnliche Struktur. Sie wird jedoch von einem Schädelknochen und modifizierten Rückenflossenstrahlen getragen. Bei Sinocyclocheilus ist nur im mittleren Bereich ein Knochen vorhanden, weiter vorne ist sie mit Keratin besetzt. Bei Kurtern tritt der Haken nur bei Männchen auf, die einen großen Eiballen daran bis zum Schlupf der Larven herumtragen. Eine solche Funktion ist bisher bei Sinocyclocheilus nicht publiziert worden. Soweit bekannt, tritt der Haken bei beiden Geschlechtern gleich auf.
Die meisten Arten der Gattung Sinocyclocheilus sind relativ klein, 10 bis 25 cm sind typische Werte. Die größten Arten erreichen etwas mehr als 30 cm, insbesondere für Höhlenbewohner ist das recht groß.
Das rätselhafte Leben der Sinocyclocheilus
Die meisten Sinocyclocheilus-Arten sind in nur sehr kleinen Gebieten endemisch, oft nur eine einzelne Höhle, ein oder mehrere kleine Teiche und ein Flussabschnitt dazwischen. Gelegentlich kommen mehrere Arten in gemeinsamen Biotopen vor, offenbar ohne sich ausschließende Konkurrenz zu machen.
Auch über die in Oberflächengewässern lebenden und „normal“ wirkenden Sinocyclocheilus-Arten ist wenig bekannt. Der Körperbau aller Arten ist mehr oder weniger hoch und seitlich abgeflacht, es gibt eine eher schwache Tendenz zu einem abgeflachten Bauch. Die Schwimmblase ist ausgebildet, bei einigen höhlenlebenden Arten jedoch reduziert. Daher kann man annehmen, dass alle Arten üblicherweise im Freiwasser schwimmen und nicht ständig auf dem Boden sitzen.
Alle bis auf (mindestens?) drei höhlenbewohnende Arten zeigen Anpassungen an den Lebensraum Höhle.
Die wenigen, nichthöhlenlebenden Arten zeigen für den Verwandtschaftsbereich typische braune Färbung mit dunkleren Elementen.
Außer dem Entenschnabel und ein unterständiges Maul mit den karpfentypischen vier Barteln ist keine Spezialisierung zur Nahrungsaufnahme zu erkennen, die Ernährung dürfte also für Kleinfische typisch sein. Es gibt nur weniger Magen-Untersuchungen, die pflanzliche Bestandteile, Insektenteile, aquatische Insekten und Zooplankton zu Tage gebracht haben. Die wenigen im Aquarium gehaltenen Tiere ließen sich mit Wasserflöhen und handelsüblichem Zierfischfutter ernähren.
Auch über die Fortpflanzung ist sehr wenig bekannt. Bei drei untersuchten Arten gab es Angaben für einen Zeitraum von Mai bis Juli. Vermutlich betreiben die Tiere keine Brutpflege. Für Sinocyclocheilus grahami aus dem Dianchi-See gab es einen Versuch der künstlichen Reproduktion.
Yang, Pan und Li berichteten 2007 von zwei erfolgreichen Versuchen, bei denen sie insgesamt etwa 1600 Eier aus fünf Weibchen gewinnen konnten. Davon konnten sie mit dem Sperma von 6 Männchen 1320 Eier befruchten. 480 Larven schlüpften. Nach 10 Tagen lebten noch 95% der Jungfische mit einer Länge von 8 bis 12 mm. Die Experimente fanden im März statt.
Nahezu alle Sinocyclocheilus-Arten sind bedroht
Die kleinen, empfindlichen Lebensräume, die starke Umweltverschmutzung und auch die fehlenden Forschungsarbeiten führen dazu, dass nahezu jede Sinocyclocheilus-Art bedroht ist. Schon von Natur aus werden die meisten Arten keine großen Populationen ausbilden können, denn die Höhlengewässer sind oft sehr klein und bieten nur wenig Nahrung.
Dazu kommt, dass die südöstlichen Provinzen Chinas die Natur und die Karsthöhlen für den Tourismus vermarkten. Dabei werden die Karstquellen, in denen viele Sinocyclocheilus-Arten leben, zu Teichen umgebaut, die man schöner als die Natur empfindet. Fehlendes Umweltbewusstsein der Bevölkerung, wilde Müllkippen und fehlende Kläranlagen in den Einzugsgebieten der Karstflüsse, aber auch die starke Verwendung von Bioziden beeinträchtigen die Gewässer zudem.
Bis auf zu Sinocyclocheilus grahami, die im Dian-See endemisch ist, hat es noch keine wirklichen Forschungsarbeiten gegeben. Über die ganze Gattung ist trotz ihrer großen Artenzahl so gut wie nichts bekannt.
Literatur
Englische Wikipedia
Li W, Wu D, Chen A, Tao J (1997) Histological study on the horn-like projection of the head of Sinocyclocheilus rhinocerous. J Yunnan Univ 19:426–428
Romero, A., Zhao, Y. & Chen, X. The Hypogean fishes of China. Environ Biol Fish 86, 211–278 (2009). https://doi.org/10.1007/s10641-009-9441-3
Yang J, Pan X, Li Z (2007) Preliminary report on the successful breeding of the endangered fish Sinocyclocheilus grahami endemic to Dianchi Lake. Zool Res 28:329–331