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Über das „unbekannte Thier“, das Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Stadt am Dnepr aufbewahrt wurde, wurde ab 1851 berichtet, die Meldung geisterte aber fast ein Jahrzehnt lang durch die Gazetten. Damals sprach man von einem Rätsel in Russland, die Stadt Krementschuk liegt heute aber mitten in der Ukraine.

 

Postkarte von Kremenchuk
Eine alte Postkarte von Krementschuk, Ukraine, ca. 1900

 

Zum ersten Mal abgedruckt wurde der Augenzeugenbericht in der „Breslauer Zeitung“, diesen Artikel habe ich nicht auffinden können. Einer der ersten Nachdrucke war im „Gummersbacher Kreisblatt“, am Mittwoch, den 31. Dezember 1851.

 

Ein unbekanntes Thier.

Aus der Breslauer Zeitung.

 

 

Ich bin, so erzählt ein Russe, in Krementschug, einem Städtchen am Dnieper, geboren, welches unter andern auch ein kleines naturhistorisches Museum besitzt, das heißt einige Wölfe von seltener Größe, versteht sich ausgestopfte, ein Elenthier, einige Mamuthknochen, einheimische Vögel, ein paar Zobel und einige Erzstufen. Hinter den halb verblichenen Scheiben eines Wandschrankes bewundert man, in Spiritus gesetzt, in einem Glasgefäß ein scorpionartiges Thier von ungewöhnlicher Größe, dessen Hintertheil stachelartig zuläuft; auf dem Glas liest man die Aufschrift: ein unbekanntes Thier!

 

 

Pfeilschwanzkrebs
Pfeilschwanzkrebs in Rückenlage

 

Auf meine neugierige Frage, wie dieses Thier hierher komme, erzählte uns der Führer folgendes: Auf dem alten Rittersitz, welcher dort auf der Anhöhe am Dnieper liegt und jetzt herrenlos in Ruinen zerfällt, lebte vor langer, langer Frist ein ebenso liebenswürdiger als gastfreier Edelmann. Die weiten Räume seines Herrenschlosses reichten nicht hin zur Aufnahme derer, die der Ruf der Gutmüthigkeit des Eigenthümers herbeilockte. Da geschah es, daß eines Tages nach einer durchschwärmten Nacht beim Frühstück einer der Gäste fehlte.
Da dies sehr häufig sich ereignete, so zog die Gesellschaft, um den vermeintlichen Langschläfer nicht zu stören, ohne diesen zur Jagd hinaus. Als aber der Fehlende auch bei der Mittagstafel nicht erschien, da zogen die lustigen Kumpane, die Humpen in den Händen, vor dessen Kammerthür, um den Säumigen, sonst der Fröhlichen einen, zu wecken mit heiterem Trinkspruch. Doch vergebens war alles Pochen, alles Lärmen, die Thüre blieb veschlossen, und als man dieselbe erbrach, da lag der gestern noch so heitere Gast – todt im Bett.

 

Das bleiche Antlitz verzerrt von furchtbarem Todeskampf gab Zeugniß, daß der Tod, wenngleich unerwartet, doch nicht schmerzlos über ihn gekommen. Wie begreiflich, störte dies traurige Ereigniß die Lust der Geladenen, und nachdem man dem plötzlich Dahingeschiedenen die letzte Ehre erwiesen hatte, trennte man sich vor dem eigentlichen Schluß des Festes.

 

 

Himmelbett, lauerte her das Thier den Gästen auf?

 

 

Monate waren verflossen, wieder waren Gäste aus dem weitesten Umkreis auf dem gastlichen Schloß angelangt, dessen Besitzer die Vermälung seiner ältesten Tochter mit einem benachbarten Gutsbesitzer auf das glänzendste zu feiern beschlossen. Das Zimmer, in welchem vor längerer Zeit der junge Gast so unglücklich vom Leben abgerufen wurde, war seit jenem Tag nicht wieder bewohnt gewesen. Jetzt, da jeder Winkel des geräumigen Hauses benutzt werden mußte, erhielt dasselbe ein junger Offizier. Man denke sich den ahnungsvollen Schreck des Hauswirths, als derselbe am andern Morgen nicht beim Frühstück erschien und das grauenvolle Ereigniß sich bis ins kleinste Detail wiederholte wie damals. Die genaueste Durchsuchung des Gemachs, von welchem sogar die Tapeten gerissen wurden, führte jedoch eben so wenig zu einem Resultat wie sorgfältigste Durchforschung der Leiche des Unglücklichen. Nicht die leiseste Spur deutete auf irgend eine Gewaltthat hin; die Thüre, der einzige Eingang in das Gemach, hatte man von innen verschlossen und verriegelt gefunden und die Fenster waren mit starken eisernen Gittern versehen.

So sehr sich die Vernunft gegen diese Auslegung sträubte, so mußte man doch annehmen, daß beide Todescandidaten über Nacht vom Schlag gerührt worden waren. Ein volles Jahr stand die verhängnißvolle Stube wieder unbewohnt; das unglückliche Ereigniß war beinahe, wenn auch nicht vergessen, doch aus der Erinnerung gekommen, da kehrte der einzige Sohn des Hausherrn von Petersburg heim, wo er im kaiserlichen Pagenhof eine glänzende Erziehung genossen hatte, um die Seinigen zu begrüßen, die er seit seinen Kinderjahren nicht gesehen. Nichts war vergleichbar mit der Freude des Vaters, der sich nicht satt sehen konnte an dem stattlichen wohlgebildeten Jüngling, in dessen ganzem Wesen sich jede ritterliche Tugend aufs deutlichste aussprach.
Unter den hunderten von Mittheilungen, die man sich im Lauf des Tages zu machen hatte, kam die Reihe auch an die geheimnißvolle Begebenheit mit den damit verbundenen plötzlichen Todesfällen, welche auf den jungen Wasily einen gewaltigen Eindruck machte. Er selbst durchsuchte aufs sorgfältigste die Stube, allein eben so wenig wie die früheren Nachforschungen hatte die seine irgend einen Erfolg.

Als sich die Familienglieder spät Abends nach einem fröhlichen Mahl getrennt hatten und der alte Herr bereits in süßem Schlummer lag, begab sich Wasily statt in die für ihn bereiteten Gemächer in das unheilbringende Zimmer. Dem Haushofmeister, als dem einzigen Mitwissenden, war das strengste Stillschweigen zur Pflicht gemacht worden; für Ivan, den erprobten-treuen Diener des jungen Herrn, wurde eine Lagerstätte auf dem großen Lehnstuhl bereitet, während sich Wasily angekleidet aufs Bett warf. Vor demselben lagen auf einem kleinen Tischchen zwei scharfgeladene Pistolen. Ein markerschütternder gellender Schrei weckte gegen Mitternacht die Bewohner des Hauses. Der Haushofmeister stürzte in die verhängnißvolle Kammer und fand den treuen Ivan schreckerstarrt am Bett seines Herrn, der sich in Todeszuckungen auf demselben wand. Das Licht, weit herabgebrannt, beleuchtete unsicher die grauenvolle Scene. Während der Zeit waren der unglückliche Vater und die übrigen Angehörigen des Sterbenden herbeigeeilt, der vor ihren Augen, die Hände krampfhaft auf den Kopf gepreßt, verschied. Aus den Aussagen des Dieners ergab sich, daß beide, nachdem sie sich möglichst lange des Schlafes erwehrt hatten, endlich einem leisen unruhigen Schlaf sich hingegeben hatten, als plötzlich der furchtbare Schrei Ivan erweckte und dieser seinen theuren Herrn schon besinnungslos im letzten Kampfe fand. Als der herbeigerufene Arzt die Leiche untersucht hatte und es endlich gelungen war, die wie mit Schrauben am Kopf fest eingekrampften Hände zu lösen, da entdeckte man unter denselben, halb zerquetscht, jenes unbekannte Thier, welches seinen Stachel in die Nähte des Hirnschädels eingebohrt und den jungen Mann eben so rasch getödtet hatte als dessen beide Vorgänger.

Ist der Skorpion das "unbekannte Thier"

 

Früher noch brachte der „Cochemer Anzeiger“ dieselbe Meldung (am Samstag, den 29. November 1851), das „Bergisches Volksblatt“ druckte die Notiz am Dienstag, den 10. Februar 1852, der letzte Abdruck, den ich aufstöberte, war im „Rheinischen Volksblatt: Kreisblatt für den Kreis Düsseldorf“ vom Mittwoch, dem 10. Juni 1863 (nach einem Abdruck im „deutschen Magazin“ von Roderberg).

 

Was war es? Ich dachte zuerst an das Alien im Film von Ridley Scott, aber da wäre der Augenzeuge seiner Zeit arg voraus gewesen. Ein Out-of-place-Skorpion? Das Tier soll groß gewesen sein, aber es werden keine Maße angegeben.

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.