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Die Ostsee hat seltener Seeschlangenbesuch als die Nordsee. Obwohl das früher anders war, als man noch von der Skandinavischen Seeschlange sprach, weil man dachte, sie lebte nur dort.

 

Sebrücke Sellin in der Ostsee ohne Seeschlange
Die Seebrücke Sellin als Symbol für den aufkommenden Bädertourismus

 

 

Im 20. Jahrhundert sind Meldungen selten geworden, aber dennoch aufspürbar. Beginen wir aber mit einer Erzählung aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Sie erzählt die vom frisch erwachenden Badewesen, aber auch von der Grausamkeit der Menschen. Sie kann durchaus für soziologische Studien über die Einstellung des Menschen zum Tier interessant sein. Auch für Menschen, die sich mit Walen in der Ostsee befassen, könnte es ein interessanter Fund sein. Einige Stellen (in eckigen Klammern) waren unleserlich.

 

Die Berliner Börsenzeitung meldet von der Ostsee

Es meldete die „Berliner Börsen-Zeitung“ in ihrer Morgen-Ausgabe vom Freitag, dem 28. Juli 1899 auf Seite 6:

 

 

Die neulich Scherzes halber auch von uns wiedergegebene Meldung von einer in einem Ostseebade aufgetauchten Seeschlange soll nach der „Volks-Zeitung“ einen ernsthaften Hintergrund haben. Dem Blatt wird nämlich von einem zur Zeit im Seebad Devin weilenden Freunde geschrieben:

 

„Es handelt sich diesmal wirklich nicht um die sonst in den Hundstagen unvermeidlich auftauchende Seeschlange, sondern um einen echten, rechten Walfisch von mehr als 40 Fuß Länge [12 m], den viele hundert Personen gesehen haben. Der Fisch ist vor mehr als drei Wochen zuerst an der Rügenschen Küste, gegenüber dem kleinen Badeort Devin, aufgetaucht und hat sich, einige Unterbrechungen abgerechnet, sonst ausschließlich in der Deviner Bucht aufgehalten. Es scheint ein von einer größeren Herde abgekommenes Exemplar mittlerer Größe eines Grundwales zu sein, der sich in dem warmen Küstenwasser recht wohl fühlt und auch reichlich Nahrung an den gerade im seichten Wasser so zahlreich vorkommenden Fischen findet. Daß der Fisch den Weg in die offene See nicht wiederfinden kann, ist nicht anzunehmen, denn während seiner mehrtägigen Abwesenheit von Devin ist er bei Cröslin und Göhren mehrfach gesehen worden, von wo seiner Abreise in die weite Ostsee nichts mehr im Wege stand.

Anlaß zu diesem größeren Abstecher scheint das Verhalten des Deviner Curhaus-Besitzers Gleß gewesen zu sein, der den Meer-Riesen mehrfach mit Flintenschüssen zugesetzt, ohne ihm anscheinend geschadet zu haben. Das Thier ist bisher durchaus harmlos aufgetreten, streicht mit Vorliebe an der Landungsbrücke und den Badeanstalten so dicht vorbei, daß man Rücken und Schwanzflosse, oftmals auch den Kopf deutlich sehen, sich also ein ziemlich sicheres Bild von seiner Länge machen kann.

„She blows!“

Ab und zu stößt der Wal das Spritzwasser in hohem Bogen heraus, was ein weithin hörbares Geräusch giebt, wie wenn mehrere Menschen gleichzeitig ins Wasser springen. Manchmal hebt er sich, wenn er in tiefem Wasser schwimmt, mit dem Vorderkörper mehrere Meter über die Wasseroberfläche empor, in der Regel kollert er, gemüthlich sich von einer Seite auf die andere wälzend, lang im Wasser herum, wobei man sein Kielwasser oftmals weit verfolgen kann. Auch schwimmt er streckenweise neben dem Stralsunder Tourendampfer und neben Segelbooten einher.

In bestem Einvernehmen mit der „Seeschlange“

So leben Badegäste und [Wal?] eigentlich im besten Einvernehmen, da keiner sich vor dem anderen fürchtet, wenn nicht böse Menschen versuchen würden, sich der seltenen Beute (man schätzt den Werth des Fisches auf 4- bis 6000 Mk.) zu bemächtigen. Tagelang kreuzen nun Ruder-und Segelboote in der Bucht umher, an ihrem Borde die um sich spähende Mannschaft mit Schießgewehren aller Arten und mit meterlangen Harpunen. Dutzende von Gewehrschüssen sind dem Fisch bereits beigebracht, darunter solche mit Explosionsgeschossen. Alles bisher ohne [wie??liche] Wirkung auf das Gebahren des Ungethüms.

 

Finnwal bläst
Finnwal der atlantischen Population (CC 2.0 by Aqqa Rosing-Asvid)

 

Einmal nur, am letzten Sonntag, kam es aus seiner olympischen Ruhe, als es der Bootsmannschaft eines Stralsunder Fischers gelang, ihm eine Harpune in den Speckleib zu jagen. Wüthend um sich schlagend schleppte der Wal das schwere Boot eine lange [Strecke?] im Zickzack hinter sich her und kam schließlich von der schlecht sitzenden Harpune wieder los.

 

So ist die Sachlage jetzt, und es scheint, daß der Riesen[körper?] des Wales im Stande ist, allen hier zur Hand befindlichen Angriffsmitteln zu trotzen, u so mehr, als das Thier durchaus nicht zu den jungen und unerfahrenen zu gehören scheint, da es sich noch nicht ein einziges Mal im flachen Wasser festgelaufen hat, eine Gefahr, in die man bekanntlich an der Nordschottischen Küste häufig systematisch ganze Walfischherden bringt, die jüngeren Exemplare bequem einfangen zu können.

Er erweist einen guten Dienst

Dem kleinen Seebad Devin hat der nordische [???] durch seinen Sommeraufenthalt bisher einen guten Dienst erwiesen, denn kein anderes,, noch so vornehm auftretendes Ost- oder Nordseebad kann sich eines gleichen Zugstücks erfreuen. In der ganzen Umg[ebung?] bildet der Wal das Tagesgespräch, die ungeheuerlichsten Dinge werden erzählt, und gar nicht selten kommt es vor, daß der in der Badeanstalt aus Uebermuth ausgestoßene Ruf: „Hilfe! Der Walfisch!“ urplötzlich seine Berechtigung erhält, wenn der Ap[??]ophirte in nächster Nähe „bläst“.

 

Einen identischen Bericht druckte die „Bürger-Zeitung für Düsseldorf und Umgebung“ am 30. Juli 1899 und das „Düsseldorfer Volksblatt“ am 13. August 1899.

 

Ostsee-Küste
Spätestens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es populär, die „Sommerfrische“ an der Ostsee zu verbringen. Bei einer solchen Stimmung kein Wunder.

Die Ostsee-Seeschlange in England?

1906 tauchte ein Exemplar der Seeschlange bei Schweden auf. Das „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“ berichtete am 28. Mai 1907 auf Seite 6:

 

 

Die Seeschlange lebt noch. Die Hundstage sind noch nicht erschienen, und schon taucht die Seeschlange aus dem Meere der Vergessenheit auf. Im vorigen Jahre waren es schwedische Hofleute, die sie in der Ostsee beobachtet haben wollten, diesmal kommt die Mär aus England. [Es folgt der Bericht der „Campania“]

 

 

Die verspätete Seeschlange

Die nächste Sichtung wurde 1927 gemeldet, von der „Berliner Börsen-Zeitung“ (Morgenausgabe, 11. Dezember 1927, Seite 4):

 

Die verspätete Seeschlange. Aus Riga schreibt man uns: Während die berüchtigte Seeschlange bisher stets in den heißen Sommermonaten aufzutauchen pflegte, hat sic ihre Taktik in diesem Jahre geändert. Sie hat sich plötzlich mitten im Winter an der lettländischen Küste bei Libau gezeigt.

Wie ein lettisches Blatt berichtet, erblickten kürzlich mehrere Fischer, die sich am Strande nördlich von Libau zum Fischfang rüsteten, urplötzlich im Wasser unweit vom Ufer ein fürchterliches sechs Fuß langes krokodilähnliches Ungeheuer. Die beherzteren unter den Fischern bewaffneten sich mit Beilen, Mistgabeln, Stricken, Schaufeln, Dolchen und anderen Waffen und wollten den Ansturm der dem Ungeheuer zu Leibe gehen [sic], das aber den Ansturm der bewaffneten Macht nicht abwartete, sondern in der Tiefe des Meeres verschwand.

Ein Fischerjunge, der an der aufregenden Jagd teilnahm und einmal in Libau ein lebendiges Krokodil gesehen hatte, gab das sachverständige Urteil ab, daß das Untier kein Krokodil gewesen sei. Es ist möglich, so bemerkt die „Rigasche Rundschau“, daß die Fischer einen Katzenhai gesehen haben, obwohl Haie in der Ostsee sonst nicht vorkommen.

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.