Das mysteriöse Keltentier und andere Tierdarstellungen der Eisenzeit
Nahe der Stadt Glauburg in Hessen befindet sich der Glauberg, wo in den 1990er Jahren eine reiche Fürstenbestattung aus der Keltenzeit (5. Jh. v. Chr.) ausgegraben wurde. Heute beherbergt der Ort das kleine, aber sehenswerte Lokalmuseum Keltenwelt am Glauberg mit den Originalfunden und einer Rekonstruktion des Grabhügels. Im Rahmen des „Keltenjahrs“ 2022 wurde die Keltenwelt zum Schauplatz der Sonderausstellung „Keltenland Hessen – Eine neue Zeit beginnt“, die aufgrund der guten Rezeption bis zum 31. Oktober 2023 verlängert wurde.
Neben den Funden aus dem lokalen Fürstengrab – darunter die lebensgroße Statue eines keltischen Anführers – zeigt die Ausstellung beeindruckende Funde aus weiteren Gräbern der eisenzeitlichen Elite, aber auch archäologische Relikte des Alltagslebens im 1. Jahrtausend v. Chr. Weit unscheinbarer als die prunkvollen Grabschätze ist jedoch ein anderes Stück, das als geheimes Highlight der Ausstellung gelten kann.[1]
Es handelt sich um eine einfache Keramikscherbe, die einst zu einem Gebrauchsgefäß gehörte. Diese wurde bei Ausgrabungen an einer keltischen Saline in der Kurstraße von Bad Nauheim (Wetteraukreis) gefunden und dürfte etwa in die Zeit von 450–260 v. Chr. datieren. In die Scherbe eingeritzt ist die unvollständige Abbildung eines Tieres: Dieses besitzt offenbar einen langen Hals und einen Kopf mit zwei nach hinten gerichteten Ohren oder Hörnern. Der Schwanz knickt kurz hinter dem Hinterleib ab und ist wahrscheinlich kurz. Von den vermutlich vier Beinen des Tieres scheint nur der Ansatz der vorderen erhalten zu sein. Der Körper ist vom Kopfansatz bis zum Schwanz gestreift.
Das klassische „Whodunit“ der Kryptozoologie?
Doch um welche Art Tier handelt es sich bei der einfachen Darstellung? Die Identifikation fällt auch bei näherer Betrachtung nicht leicht. Das gestreifte Profil erinnert an ein Zebra, während der lange Hals und die nach hinten gerichteten Ohren/Hörner an eine Giraffe denken lassen – beides keine Tiere, die in der keltischen Eisenzeit nördlich der Alpen heimisch gewesen wären.
Auch die Archäologie selbst weiß keine Antwort auf die Frage nach der Identität des Tieres, obgleich man sich des Mysteriums sehr wohl bewusst ist. Anlässlich der Präsentation in der Sonderausstellung postete die Keltenwelt am Glauberg am 25. Januar 2022 bei Facebook sogar einen Aufruf zur Identifikation:
„Keltische Zebras? Wohl eher nicht … aber welches Tier kann es sein, das jemand vor 2200 Jahren auf ein Keramikgefäß eingeritzt hat? Wir könnten uns ein Pferd vorstellen, nur warum ist es gestreift? Was meint ihr? Und wie könnte man die fehlenden Bereiche ergänzen? […]“[2]
In der Kommentarspalte wurden – neben einigen eher weniger ernst gemeinten Antworten – unter anderem folgende Vorschläge zur Identifikation genannt:
- Eine Giraffe – mit einem Elefanten im Hintergrund
- Ein Zebra
- Ein Hund an der Leine
- Ein Reh oder eine Hirschkuh
- Eine Gottesanbeterin – hierfür könnten die weit oben ansetzenden Vordergliedmaßen sprechen
- Das Skelett eines Widders
- Eine Pferderasse mit Streifenzeichnung, wie sie bei manchen altertümlichen Rassen bezeugt ist – darunter das Zebro genannte Wildpferd der Iberischen Halbinsel, von dem das bekannte Wort Zebra abgeleitet ist, und manche Exemplare der davon abstammenden Sorraia-Pferde[3]
- Die Streifen könnten eine Art Schraffur darstellen, die das Fell, aber keine bestimmte Fellzeichnung darstellte.
Ist das Keltentier eine exotische Tierart?
Eine Giraffe oder ein Zebra wäre im eisenzeitlichen Hessen buchstäblich weit hergeholt. Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass solche Tiere im 5. bis 3. Jh. v. Chr. nördlich der Alpen bekannt gewesen sein könnten?
Giraffen werden in antiken Quellen bisweilen erwähnt – als exotische Tiere gelangten sie vereinzelt auch nach Europa:
„In Ägypten jagte man sie seit Jahrtausenden, aber erst Agatharchides und Artemidoros (2./1. Jh. v. Chr.) erwähnen sie. Der Festzug von Ptolemaios II. zeigte zum erstenmal ein Exemplar (Athen. 5,201c). 46 v. Chr. war sie im röm. Triumphzug Caesars nach Hor. epist. 2,1,198 (vgl. Varro; Plinius und Cass. Dio 43,23,1–2) ein bes. Schaustück. 10 G. traten bei den Säkularspielen 247 n. Chr. auf. Die genauen Beschreibungen deuten auf mehrfache Schaustellungen hin. Ein Wandgemälde in Rom zeigt sie realistisch, mit einer Glocke am Hals, geführt von einem Schwarzen. Ein Sarkophag mit dem ind. Triumph des Dionysos bietet eine gelungene Darstellung.“[4]
Demnach sind jedoch keine Importe von Giraffen vor dem 1. Jh. v. Chr. belegt – also erst über zweihundert Jahre nach Anfertigung der Keramikzeichnung. Und jene wenigen Tiere, die durch Griechen oder Römer nach Europa gebracht wurden, erreichten auch nicht den keltischen Kulturraum nördlich der Alpen.
Selbiges gilt für das Zebra, das sogar erst noch später schriftlich erwähnt wird:
„Beschrieben wurde das schnelle Steppentier Afrikas mit seiner charakteristischen Streifung erst von Cassius [III 1] Dio unter dem treffenden Namen ἵππος τιγροειδης / híppos tigroeides (»getigertes Pferd«) (75,14,3) und als ίππóτιγρις / hippótigris (»Tigerpferd«; 77,6,2). Timotheos [14] von Gaza (10) [I. 25] hielt das Z. für einen wilden Esel und kannte es aus dem Circus als seltenes Zugtier, auch vor dem Wagen einer kaiserlichen Prinzessin (vielleicht der Fulvia [3] Plautilla). Die Mehrzahl der Bildzeugnisse, darunter auch ein Zebroid, findet sich auf spätant. bzw. frühchristl. polychromen Mosaik-Pavimenten v. a. im syro-palaestinensischen Raum“[5]
Auch dieses ist für die Zeit vor der Zeitenwende nicht in Europa bezeugt. Allenfalls ließe sich überlegen, ob Händler oder Soldaten nach der Rückkehr von einer weiten Reise von ihren Begegnungen mit seltsamen Tieren in fernen Ländern berichtet und diese zur Verdeutlichung für ihre Stammesgenossen in Ton geritzt haben könnten.
Die Kelten als Weltreisende der Antike
Dafür, dass gewisse Kenntnisse exotischer Tierarten in den Jahrhunderten um die Zeitenwende in der Tat bis in den keltisch-germanischen Raum vordrangen, gibt es allerdings durchaus Belege.
So zeigt etwa der eisenzeitliche Kessel von Gundestrup, der 1891 in Dänemark gefunden wurde, neben mythisch-religiösen Szenen auch Abbildungen von Löwen, Delfinen und Elefanten. Vermutet wird, dass der Kessel ursprünglich im thrakischen Raum angefertigt wurde und erst später in den Norden gelangte.
Ein anderes Beispiel ist ein bronzener Schild, der im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart ausgestellt wird und ganz offensichtlich eine Gazelle abbildet. Auch hier muss man davon ausgehen, dass Heimkehrer das Wissen um diese Tierart von einer Reise mitbrachten oder der Schild selbst einen Import darstellt.
Eine weitere seit jeher in der Kunst beliebte exotische Tierart ist der Löwe. Abbildungen von Löwen finden sich auf vielen figürlichen Darstellungen der Eisenzeit. Allerdings handelt es sich bei diesen Darstellungen exotischer Tiere meist um Importe aus dem griechischen oder italischen Raum, so etwa im Falle des großen Bronzekessels mit Löwenapplikationen aus dem Fürstengrab von Hochdorf.[6]
Das Keltentier: Fabelwesen oder Stilisierung?
Andererseits muss gar nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass auf der Scherbe von Bad Nauheim ein reales Tier in naturalistischer Form dargestellt ist. So finden sich in der keltischen Kunst auch häufig Mischwesen und andere Fabeltiere. Bei manchen von diesen – wie etwa den Sphingen aus dem Fürstengrab Grafenbühl – handelt es sich ebenfalls um mediterrane Importe, während andere Darstellungen mehr der einheimischen Kunsttradition entstammen.
Und auch mutmaßlich reale Tierarten werden in der eisenzeitlichen Kunst nicht immer realistisch dargestellt – insbesondere der lange Hals könnte durchaus eine Art der Stilisierung darstellen. Parallelen hierfür bieten etwa Pferdedarstellungen der Hallstattzeit, die mit ihren langgezogenen Hälsen eher an Dinosaurier erinnern und als „Giraffenpferde“ bezeichnet werden. Mehrere Tonfigurinen dieses Typs aus einem Grabhügel des 8.–7. Jh. v. Chr. lassen sich ebenfalls im Landesmuseum in Stuttgart bestaunen.[10]
Fazit
Was für ein Tier also ist auf der Scherbe von Bad Nauheim dargestellt?
Es könnte sich um die Darstellung einer exotischen Tierart handeln, auch wenn die Kenntnis etwa von Giraffen oder Zebras für die Entstehungszeit des Bildes eher unwahrscheinlich ist. Ebenso kommt jedoch eine heimische Tierart in Betracht, die in einer für uns ungewohnten Weise dargestellt wurde. So könnte es sich schlichtweg um ein Pferd handeln, das eine ungewöhnliche Fellzeichnung besaß oder schlicht mit schraffierter Oberfläche dargestellt wurde. Auch ein Reh, eine Hirschkuh – oder sogar ein Insekt wie etwa eine Gottesanbeterin – könnte in Betracht kommen. Zu guter Letzt könnte es sich auch um ein fiktives Fabelwesen handeln, das in der realen Tierwelt keine Entsprechung kennt.
Bis auf weiteres lässt sich das Keltentier auf der Scherbe also nicht eindeutig identifizieren – der fragmentarische Zustand tut hierzu sein Übriges.
Das Stück ist mindestens bis zum 31. Oktober 2023 in der Sonderausstellung „Keltenland Hessen – Eine neue Zeit beginnt“ in der Keltenwelt am Glauberg zu sehen.
Sonderausstellung „Keltenland Hessen – Eine neue Zeit beginnt.“
verlängert bis zum 31. Oktober 2023
Keltenwelt am Glauberg
Am Glauberg 1
63695 Glauburg
Geöffnet 1. März bis 31. Oktober 2023
Di bis So 10–18 Uhr
Website Keltenwelt am Glauberg
Weitere spektakuläre Funde aus der Keltenzeit finden sich unter anderem im
Landesmuseum Württemberg
Altes Schloss
Schillerplatz 6
70173 Stuttgart
geöffnet Di bis So 10 – 18 Uhr
Website Landesmuseum Württemberg
Alle Objektfotos: Leif Inselmann
Nachweise:
[1] Im zugehörigen Ausstellungskatalog wird das Objekt leider nicht abgebildet und thematisiert.
[2] https://www.facebook.com/photo.php?fbid=384522096810371&set=pb.100057577504819.-2207520000.&type=3
[3] sorraia.org: The Zebro, Iberia’s Wild Horse
sorraia.org: Das Sorraia Pferd
[4] Hünemörder, C. 1998: Giraffe. Der Neue Pauly 4, 1075.
[5] Hornig, K. / Hünemörder, C. 2002: Zebra. Der Neue Pauly 12-2, 704 f.
[6] Hoppe, T. / Ludwig, K. 2016 (22022): Wahre Schätze – Kelten, Stuttgart, 39.
[7] ebd., 51.
[8] vgl. Hanauska, P. (Hg.) 2022: Kelten Land Hessen. Archäologische Spuren im Herzen Europas. Glauberg-Schriften 3. Vonderau Museum Fulda – Kataloge 51. Archäologische Museum Frankfurt – Publikationen, Regensburg, 64, 66.
[9] ebd., 66 f.
[10] LM Stuttgart A 3493, 3 a-d.21
Dieser Artikel erschien erstmals am 21. September 2023 und nun erneut im Rahmen des Relaunches. Bitte prüft insbesondere die Daten der Museen, sie könnten sich seit dem verändert haben.