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Die Vorstellung, große Greifvögel, allen voran die majestätischen Adler, würden kleine Kinder und größere Tiere verschleppen, ist im Volksglauben weit verbreitet (Bächtold-Stäubli; Hoffmann-Krayer 2000, S. 188)  und besonders die Zeitungen des 19. und früheren 20. Jahrhundert berichteten immer wieder von derartigen Vorkommnissen.

Im 19. Jahrhundert

1838 soll sich ein Adler in Bünden in der Schweiz sogar ein ganzes Schaf gekrallt und auf einen Felsen verschleppt haben, um es dort zu fressen (o. A. 1838).

1886 in Kleinwalsertal in Österreich: Ein Arbeiter nimmt sein vierjähriges Mädchen mit zum Heuen. Sie befindet sich etwa 150 Schritte von ihm entfernt. Plötzlich vernimmt er einen lauten Schrei und rennt zum Ort, an dem seine Tochter sich befindet. Dort findet er sie nicht vor und ruft nach ihr. Abermals vernimmt er einen Schrei in der Ferne. Hirten in der Umgebung vernehmen um diese Zeit Schreie aus höheren Lagen. Es wird vermutet, ein Geier habe das Kind verschleppt (o. A. 1886).

Im 20. Jahrhundert

1901 verschwindet in Sutherlandshire in Schottland ein einjähriges Kind vor dem Elternhaus, so berichtet das Czernowitzer Tagblatt am 14.05.1904. Ein ausgeschwärmter Suchtrupp findet später nahe einem Adlerhorst den Leichnam des Kindes in einer Felsspalte. Auf dem Körper sind deutliche Spuren von Adlerkrallen zu sehen (o. A. 1904).

Eine Bauersfrau schafft es 1905 in Genf in der Schweiz zunächst, einen Adler abzuwehren, der ihr zweijähriges Kind attackiert, das sie bei sich trägt, doch dann schafft er es, ihr dieses zu entreißen und schleppt es davon.

Auch eine 75-köpfige Suchmannschaft kann das Kind nicht mehr auffinden (o. A. 1905).

 

Aus der Wiege gegriffen

Eine dramatische Geschichte wird auch 1910 aus den USA berichtet. Zwei Adler sollen in Gibson, Luisiana ein Kind direkt aus der vor dem Haus stehenden Wiege auf eine nahegelegene Baumkrone verschleppt haben. Die Arbeiter, die sich um die Rettung des Tieres bemühen, werden allerdings massiv von den aggressiven Vögeln daran gehindert und als es nach zwei Stunden gelingt, die Adler zu schießen, kann das Kind danach nur noch tot geborgen werden (o. A. 1910).

Im Balkan hatte 1927 eine Bäuerin den Nachrichten nach ein geradezu zauberhaftes Glück. Sie nimmt ihr zehn Monate altes Kind mit zu Feldarbeiten und lässt es im Schatten eines Baumes zurück. Ein herbei geeilter Adler packt schon bald das Kind und trägt es in die Luft. In etwa 25 Meter Höhe entgleitet dem Adler das Kind allerdings, wir aber wie durch ein Wunder von dem zufällig gerade vorbeigekommenen Postboten aufgefangen und bleibt unverletzt (o. A. 1927).

Ein fast ebenso großes Wunder soll sich 1932 in Schweden ereignet haben. Anlässlich einer Kindstaufe auf einem Gutshof ist auch ein junges Paar anwesend, das sein Kind für einen Zeitraum von etwa 10 Minuten alleine im Garten spielen lässt. Als sie nach dem Kind sehen, ist es verschwunden. Nach mehreren Stunden der erfolglosen Suche erinnert sich die Gesellschaft daran, am Nachmittag einen großen Adler über dem Gut kreisen gesehen zu haben. Man ersteigt den Fels, auf dem der Horst des Adlers ist und entdeckt das Kind wohlbehalten etwa vierzig Meter unterhalb des Horsts in einer Felsspalte. Das Kind weiß zu berichten, von einem großen Vogel verschleppt worden zu sein. Man vermutet, dass der Vogel nicht die Kraft gehabt habe, das etwa 18 Kilogramm schwere Kind bis ganz nach oben zu tragen (o. A. 1932).

Ebenfalls in Schweden ereignete sich 1960 ein weiterer Vorfall. Dem Zeitungsbericht zufolge, stützt sich ein Steinadler auf einen 11jährigen Jungen. Als der 15jährige Bruder sich auf die Flügel wirft, lässt der Vogel ab und steigt wieder auf. Der Adler greift erneut an und die Jungen fliehen in nahegelegenen Wald. Die Verletzungen der Jungen müssen behandelt werden (o. A. 1960).

Im 21. Jahrhundert, ein Fake und ein Adler aus der Falknerei

Ein 2012 um die Welt gegangenes Video, das einen Steinadler zeigt, der in einem Park in Montreal ein kleines Kind für einige Meter mitschleppt, bevor er es fallen lässt, erwies sich als Semesterarbeit von Studenten (Mutter 2012).

 

 

2019 wurde ein vier Jahre altes Mädchen von einem jungen domestizierten Seeadler attackiert und konnte von ihren Eltern beschützt werden. Das Tier fügte dem Mädchen hierbei Verletzungen im Gesicht zu (Lublasser; Hummer; Möschl; Lehner 2019).

 

Der Realitäts-Check

Während die Vorfälle von 1960 und 2019, bei denen Kinder von Adlern attackiert worden sind, noch einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad besitzt, schließlich gibt es hierzu auch rezente Fälle, die sogar auf Video dokumentiert sind (Langener 2020). Doch können Adler tatsächlich Kleinkinder in die Luft heben und auf Bäume oder zu ihrem Horst verschleppen?

Tatsächlich schleppen einige Greifvögel die geschlagene Beute zu ihrem Horst, oder während der Paarungszeit zu einem anderen Fressplatz (um den Standort des Horsts nicht zu verraten). Doch schauen wir uns einige stattliche Greifvögel einmal näher an, um die Frage nach dem Verschleppen von Kindern durch diese zu beantworten:

 

Der Seeadler

Seeadler
Der Seeadler ist der größte Greifvogel Mitteleuropas – wenn man die Geier nicht zählt

Seeadler (Haliaeetus alibicilla) sind eigentlich keine „echten Adler“, sondern begründen mit ihrem Namen die Gattung der Seeadler. Bei Weibchen kann die beeindruckende Flügelspannweite bis zu 2,55 Metern erreichen. Das klingt auf dem ersten Blick schon gewaltig und bringt uns der Vorstellung näher, dass so ein Tier bestimmt auch größere Beute anfallen und verschleppen könnte.

Allerdings ernährt sich der Seeadler vorwiegend von Fischen und Wasservögeln.

Das Gewicht des Seeadlers liegt bei den großen Weibchen bei 4,3 bis 6,7 Kg (Grzimek 2000, S. 377 f.).

Der Steinadler

Steinadler sind mächtige Greifvögel
Steinadler sind an ihrer charakteristischen weißen Flügelzeichnung und dem runden Schwanz zu erkennen

 

Der Steinadler (Aquila chrysaetos) ist ein „echter“ Adler und kann eine Flügelspannweite von bis zu 2,15 Meter erreichen. Er attackiert auch vergleichsweise große Tiere und schlägt neben Murmeltieren auch Gams- und Rehkitze, sowie Schneehasen, Füchse und Marder. Er verkrallt sich sehr fest in seine Beute und lässt sich von dieser zuweilen noch hunderte von Metern mitschleifen (Grzimek 2000, S. 371 ff.). Steinadler im Balkangebiet verzehren häufig auch Landschildkröten. Um ihre Panzer zu knacken, schleppen sie sie in die Höhe und lassen sie dann aus 50 bis 70 Metern auf Felsen fallen, sodass der Panzer zerbricht (o. A. 2016, S. 48).

 

Nicht unter den üblichen Verdächtigen: die Geier

Die Altweltgeier gehören zur Familie der Habichtartigen und ihr langer Hakenschnabel ist vor allem dafür geschaffen, den Bauch von Aas zu öffnen, um so an die Eingeweide zu gelangen (Grzimek 2000, S. 381). Der Gänsegeier (Gyps fulvus) erreicht so wie der Steinadler auch eine Flügelspannweite von bis zu 2,15 Metern (Grzimek 2000, S. 388).

Ein Gänsegeier spreizt im Abendlicht die Flügel.

Fazit

Betrachten wir das übliche Jagdverhalten dieser drei Beispiele, so käme eigentlich nur der Steinadler als potenzieller Kindesentführer in Frage.

Trotz der stattlichen Größe der beschriebenen Greifvögel, muss bedacht werden, dass sie aus sehr leichten Röhrenknochen gebaut sind. Durch die Verringerung des spezifischen Gewichts wird den Vögeln die grundsätzliche Möglichkeit, sich in die Lüfte zu erheben, überhaupt erst ermöglicht.

Seeadler erreichen ein Gewicht von maximal 4,3 bis 6,7 kg, Steinadler wiegen etwa 3,5 kg und Gänsegeier können sogar bis zu 8,2 kg wiegen.

 

Nehmen wir als Richtwert, dass ein Greifvogel nichts in die Lüfte heben kann, das schwer ist, als er selbst, dann werden Säuglinge spätestens ab dem dritten Monat bereits ein Ding der Unmöglichkeit.

Natürlich spielen hier auch physikalische Bedingungen eine Rolle. Der Schwung aus einem schnelleren Herabstürzen mag hier die Möglichkeit geben, schwere Lebewesen kurz anzuheben, ein davon fliegen erscheint jedoch ausgeschlossen.

Entsprechend erscheint der Fall aus Gibson USA, der sich 1910 ereignet haben soll, als zumindest potenziell möglich. Angriffe durch Greifvögel hingegen mag es zuweilen geben.

 


Quellen

 

Bächtold-Stäubli, Hanns; Hoffman-Krayer, Eduard: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 1 Aal – Butzemann. 3., unveränderte Auflage. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2000

Grizmek, Prof. Dr. Bernhard (Hrsg.): Grzimeks Tierleben. Band 7: Vögel 1. Augsburg: Weltbild 2000

Langener, Wes: Massiv Golden Eagle tries to fly off with 8-year-old girl. Auf: https://www.whiskeyriff.com/ 17.09.2020, gesichtet am 13.12.2020

Lublasser, Martina; Hummer, Georg; Möschl, Lukas; Lehner, Gerald: Adler attackiert Kind. Auf: https://salzburg.orf.at/v2/news/stories/2979644/ 04.05.2019, gesichtet am 13.12.2020

Mutter, Christian: Raubvogel-Attacke: Studenten erhalten Note 1,0 für Video-Fake. Auf: https://www.welt.de, gesichtet am 21.12.2020

o. A.: Greifvögel und Eulen. Arten kennenlernen und bestimmen. Fränkisch-Crumbach: Neuer Kaiser Verlag 2016

o. A.: Zweimal Tier gegen Mensch mit gutem Ausgang: 15jähriger kämpfte mit einem Adler – Neger wehrte Krokodil ab. In: Passauer Neue Presse 14.10.1960

o. A.: In die Lüfte entführt. In: Walliser Bote 03.09.1932

o. A.: Ein Adler als Kinderräuber. In: Briger Anzeiger 23.07.1927

o. A.: Von Adlern entführt. In: Briger Anzeiger 26.02.1910

o. A.: Genf: Von einem Adler entführt. In: Bote vom Untersee und Rhein 21.10.1905

 o. A.: Von einem Adler entführt. In: Czernowitzer Tagblatt 14.05.1904

o. A.: Ein Kind von einem Geier entführt. In: Die Ostschweiz 05.09.1886

o. A.: Neuigkeiten. In: Münchner Tagpost 22.05.1838

Von André Kramer

André Kramer ist Sozialpädadoge und leitet eine sozialpsychiatrische Einrichtung in Norddeutschland. Er beschäftigt sich bereits seit den 90er Jahren mit der Kryptozoologie und weiteren anomalistischen Themen.