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In Einheit mit der Natur

„Ich gehe,
mit dem Wolf,
der nicht mehr ist“

Inschrift an einem Denkmal für den Shamanu

 

Teil 1 des Beitrages erschien am 08.10.2024

 

Verlassen schlängelt sich die der warme Asphalt durch die hügelige Landschaft. Reisfelder und Wassergräben zäumen das grüne Panorama, das sich auf beiden Seiten des Weges auftut. Ein klein wenig hat diese geordnete Idylle etwas von den Weinbergen am badischen Kaiserstuhl. Doch der zum Gruß nickende Bauer, in stoischer Ruhe zwischen seinen Gewächsen stehend, erinnert daran, dass man nicht im vertrauten Deutschland ist, sondern am anderen Ende der Welt.

 

Immer wieder Japans Berglandschaft, ist sie heute noch Heim für Canis lupus hodophilax?
Berglandschaft in der Präfektur Nara

 

Die Präfektur von Nara befindet sich auf der Honshū-Insel in Japan. Ihr Hinterland eröffnet eine romantische Hügellandschaft, bei der sich Reisfelder mit großen Wäldern und wilden Bächen abwechseln. Die Einwohner sind stolz auf das “Ihrige”. Sie bieten dem Reisenden Sushi an, damit man es probiere, “denn es sei von hier”. Tafeln mit Erklärungen und Verhaltensregeln an den Wanderwegen mahnen zum Respekt der Natur. Was die eigene Umwelt betrifft, so entsteht der Eindruck schnell, nimmt man es hier sehr genau.

 

Erinnerungskultur statt Rotkäppchen-Komplex

Dabei wurde dieses heilige Band zwischen Mensch und Natur in jüngster Vergangenheit mehrmals angerissen. Heute schämt man sich dieser Vergehen an Mutter Natur. Das buddhistische Bon Festival soll die Lebenden mit ihren Vorfahren verbinden. Im Rahmen der Festlichkeiten wird in einem lokalen Tempel der Stadt Yoshino jährlich eine kleine Zeremonie abgehalten (Knight, 1997: 139 – 140). Die Menschen gedenken keinem menschlichen Vorfahren, sondern einem Tier, dessen Verlust wohl nie wieder gut zu machen ist und das es auch im Rest der Welt nicht leicht hat.

Der letzte japanische Wolf wurde 1905 von lokalen Jägern erlegt und für einen Spottpreis an einen amerikanischen Reisenden verhökert (Shuker, 1997: 46). Mit diesem letzten Schuss waren die Wölfe auf Japan offiziell ausgerottet. Doch die lokale Erinnerungskultur erhebt den Wolf zu einem kulturellen Statussubjekt, das so gar nicht zu Europas “bösem Wolf” zu passen scheint. Die Zeremonie mahnt uns, dass der Wolf in Japan ein Tier ist, das nicht getötet werden sollte (Knight, 1997: 139 – 140), oder besser: nicht hätte ausgerottet werden sollen.

 

Statue des Canis lupus hodophilax
Statue des Honshu-Wolfes in der Präfektur Nara. Foto by Katuuya CC 1.2

 

Der nächtliche “Wächter des Weges”

Die japanische Bergwelt, die yama no sekai, gefürchtet für ihre Unermesslichkeit und Unberechenbarkeit, kontrastiert in der japanischen Folklore mit der gerordneten sato no sekai, der “Dorfwelt” (Knight, 1997: 133, 134). Man sollte meinen, dass der Wolf als Teil der Natur die Bedrohung der Bergwelt verkörpert. Doch dem ist nicht so. Tatsächlich neutralisiert die Präsenz des Wolf die Gefahr des Berges:

 

“Wenn man nachts alleine auf Bergstraßen wandert, dann folgt einem ein Wolf, ohne dass er etwas tut. Sobald man sich dem Haus annähert, verschwindet er” (Knight, 1997: 136).

 

Viele der Dorfbewohner behaupteten noch vor nicht allzu langer Zeit, in ihrer Jugend das selbst erlebt zu haben. Dieses Verhalten, ob real oder nicht, sei dahingestellt, wird mit einer Schutzfunktion des Wolfes assoziiert. Er möchte den nächtlichen Wanderer sicher nach Hause bringen (Knight, 1997: 136).

In diesem Sinne leitet sich der lateinische Name der Unterart des japanischen Wolfs, Canis lupus hodophilax von den griechischen Wörtern Hodos (“Weg, Pfad”) und Phylax (“Wächter, Beschützer”) ab. Das macht den japanischen Wolf zum “Wächter des Weges” (Knight, 1997: 136).

 

Beschützer der Dörfer

Bei aller kulturellen Offenheit kommt man nicht um ein überraschtes Staunen hinweg, wenn man liest, dass der Wolf auf Honshū als Beschützer der Felder und Dorfgemeinschaft angesehen wurde. Und zwar gerade aufgrund seiner Natur als Spitzenprädator. Er hielt nämlich Wildschweinbestände kurz, kontrollierte die Hirsch- und Hasenpopulation und erleichterte den Bauern somit den Schutz ihrer Felder. Nicht der Wolf, sondern die Wildschweine wurden als Bedrohung für die Gemeinschaft gesehen – da ihre Fressgewohnheiten verheerende Folgen für die Ernte hatten. Der Wolf konterte den zerstörerischen Eingriff dieser Tiere (Knight, 1997: 140).

 

Honshu-Wolf im Ueno Zoo
Der kleine Honshu-Wolf, ein Schutzgeist der Bauern? Im Prinzip des Ying und Yang mehr als verständlich (Foto; Katuuya CC 1.2)

 

Zusammen mit dem Fuchs, nach einer gewissen Yin- und Yang-Logik, verkörperte der Wolf in der japanischen Mythologie zuweilen sogar eine “Reisfeld-Gottheit”. In Gifu wurde beispielsweise ein Wolfsschädel in einem Schrein ausgestellt. Talismane mit Wolfs-Trittsiegeln an Haustüren (in einem Fall sogar ein ganzes Wolfsbein, das an einen Pfosten genagelt war) sollten Schutz vor Feuer, Diebstahl und bösen Geistern gewähren (Knight, 1997: 140, Siehe auch: Japan Times vom 25. Mai 2019).

Wölfe wurden vergöttert, ihnen zu Ehre Schreine und Statuen errichtet (Japan Times vom 25. Mai 2019). Man sagte den Wölfen nach, dass sie Teile ihrer Beute für die Dorfbewohner zurücklassen würden – und man solle sich bei ihnen revanchieren. Sie revanchierten sich seinerseits, wenn man sie aus einer Wildschwein-Falle befreite (Knight, 1997: 142).

 

Der Wolf ist somit zutiefst in die lokale Folklore eingeflochten, und weit mehr als das: die Symbiose von Wolf und Mensch formt de facto die Basis für eine positive religiöse Identität des Tieres (Knight, 1997: 141)

 

Romulus und Remus auf Japanisch

Und von religiöser Identität ist es nur ein kleiner Schritt zur nationalen Identität.

In erstaunlicher Analogie zur römischen Romulus- und Remus-Sage erzählt eine lokale Sage von einem Prinz des adeligen Fujiwara Hidehira, der in den Kii-Bergen im Stich gelassen wird. Wölfe ziehen ihn auf und beschützen ihn (Knight, 1997: 138).

Mitsumine-Schrein
Der Mitsumine-Schrein (Foto: traveljapan.co)

Doch die berühmteste Kultstätte für Wölfe sind zweifelsohne die zahlreichen Wolfsschreine in den Chichibu-Bergen (Japan Times vom 25. Mai 2019). Einer von ihnen, der MitsumineSchrein, ist den göttlichen Gründervätern Japans, Izanami und Izanagi, gewidmet. Der Legende nach wurde er von dem Kriegsheld Tamato Takeru errichtet. Er verlor sich dereinst im Nebel des Gebirges. Da erschien ein großer weißer Wolf und führte den Krieger zurück auf einen Pfad (Japan Times vom 25. Mai 2019).

Wolf Statue am Mitsumine Schrein
Zwei Wolfsstatuen bewachen eines der Tore des Schreins (traveljapan.co)

 

Allem Anschein nach hat man diese Legende als Vorlage für einen Klassiker der japanischen Anime-Kultur verwendet: Prinzessin Mononoke (BBC.com). Bei diesem Meisterwerk der japanischen Filmkunst wächst ein Menschenkind namens San in der Obhut eines großen weißen Wolfs auf und muss sich zwischen den Fronten im Krieg zwischen Natur und Mensch durchschlagen, und vor allem: die Vergehen der Menschen an der Natur wieder gutmachen.

Screenshot Prinzessin Mononoke
Screenshot aus Prinzessin Mononoke: große, weiße Wölfe beschützen die Protagonistin

 

Tatsächlich ist dieser „sanfte Nationalismus“ der Studios Ghibli, der in seinen Filmen auf Umweltzerstörung und „kapitalistische (amerikanische?) Sittenverwahrlosung“ anspielt, Teil der kritischen Auseinandersetzung der japanischen Nation mit ihrer eigenen Vergangenheit.

 

Der Wolf als Symbol für nationales Selbstverständnis

Besonders der kleinwüchsige Honshū-Wolf hat in diesem Diskurs eine besondere Rolle. Der „Bonsai-Wolf“ unterscheidet sich stark von seinen kontinentalen Vettern, aber auch von dem viel größeren Hokkaido-Wolf, der auf der nördlichen Insel Japans vorkam. Er ist ein Emblem, dessen Bedeutung über die biologische Realität des Tieres weit hinausgeht: er steht nämlich für die kritische Geschichte des modernen Japans (Knight, 1997: 147) und die Opfer, die sein Weg in die Moderne mit sich gebracht hat.

 

Das Verschwinden der japanischen Wölfe steht Pate für die Urbanisierung. Vor allem jene der Nachkriegszeit, in der große Baumbestände im Rahmen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus fallen mussten (Knight, 1997: 146). Dadurch verwandelten sich große Teile der Bergregionen in industrielle Holzplantagen. Um es in der Sprache der japanischen Mythologie auszudrücken: Das Gleichgewicht zwischen Bergwelt und Dorfwelt war nun gestört. Viele (und vor allem junge) Bewohner mussten ihre dereinst idyllischen Dörfer verlassen und ihr Glück im Chaos der Großstädte suchen. Dieser drastische Wandel in den traditionellen Lebensformen und ihrer Umwelt – tragisch wird er veranschaulicht durch das Verschwinden des Wolfs, eines so wichtigen Tieres für die Identität der Bergwelt (Knight, 1997: 146).

 

Mount Fuji, der Wolf ist heute auch Schutzgeist der Natur
Die japanische Bergwelt, insbesondere Mount Fuji, ist ein wichtiger Teil der nationalen Identität. Hier fehlt der traditionell als „gut“ eingeschätzte Wolf und hinterlässt eine offene Wunde.

 

Vom Schützling zum Schädling

Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass die Wölfe schon vor dem Zweiten Weltkrieg ausgerottet worden waren, nämlich im Zuge der Modernisierung, welche in Japan ab dem 16. Jahrhundert begann und die Nachfrage nach Holz in die Höhe schnellen ließ. Dadurch wurde den natürlichen Beutetieren des Wolfs der Lebensraum abgeschnitten – und das Raubtier in die Abhängigkeit von Weidevieh gedrängt (Knight, 1997: 143).

Hokkaido-Wolf
Der Ezo Wolf von Hokkaido. Eine der seltenen Dermoplastiken zeigt ihn als geiferndes Raubtier. (Foto: William Harris CC 3.0)

 

Die Modernisierung induzierte auch eine Verlagerung der Landwirtschaft auf die Flusstäler – Wildschweine und Hirsche hatten es schwerer, sich als Schädlinge bemerkbar zu machen. Der Wolf wurde als Beschützer der Felder nun nicht mehr gebraucht, im Gegenteil: er wurde jetzt selbst zum Problem. Die jahrhundertelange Allianz zwischen Wolf und Mensch war gebrochen. Der Wolf wurde gejagt, und schließlich ausgerottet (Knight, 1997: 144)

 

Die Wiedergeburt der yama – durch den kryptiden Wolf

Doch die Kluft zwischen Stadt und Land sind nicht nur ein Problem des Okzidents. Die drastischen Eingriffe (um nicht zu sagen: Zerstörung) der traditionellen Berglandschaft wird von ihren Bewohnern nicht bedingungslos hingenommen. Man ist unzufrieden mit Folgen der Urbanisierung, fühlt sich marginalisiert. Die Ablehnung dieses Prozesses und ihre kulturelle Verarbeitung – sie erklären, warum das Verschwinden des Honshū-Wolfs, dem Schutzpatron der Bergwelt, nicht akzeptiert wird (Knight, 1997: 132).

Es ist dieser kulturelle Hintergrund, vor dem der Honshū-Wolf noch heute gesichtet wird und der den Impetus und den Ehrgeiz erklärt, mit dem sich Enthusiasten auf die Suche nach einem noch lebenden Vertreter dieser Art begeben.

Modernes Dorf in Japan
In kaum einem Land findet sich so ein großer Kontrast zwischen Land- und Stadtbevölkerung, wie in Japan

 

Der Wolf steht als Symbol für die Opferung der Landgemeinschaft für die industriellen Interessen der Stadt. Sein Fortbestehen ist Ausdruck des Widerstands gegen Urbanisierung – Widerstand gegen die Erodierung der eigenen Lebensformen, und die Wahrung der eigenen lokalen Identität.

Nicht nur der Wolf, auch andere Tiere drücken mit ihrem kryptiden Fortbestehen, die (berechtigte) Weigerung der Landbevölkerung aus, die industrielle Ausbeutung ihrer Umwelt hinzunehmen. Auch die Sichtungen des japanischen Fischotters auf der Shikoku-Insel (BBC.com), einem Tier, das offiziell seit 1979 für ausgestorben gilt, mögen in diesem Kontext zu interpretieren sein.

 

Postmoderne Folklore?

Der Chichibu-Region kommt dabei als Kultstätte japanischer Nationalhelden- und Götter unweigerlich eine besondere Bedeutung zu. Und immer wieder stößt man dabei auch auf die Präsenz des Wolfs.

Direkt am Chichibu-Schrein befindet sich ein Museum, das die Fotos vermeintlicher überlebender Honshū-Wölfe ausstellt. Der unermüdliche Hiroshi Yagi, dem 1996 eines dieser Fotos gelang, ist als „Gastforscher“ am Museum tätig, und gibt dort Veranstaltungen zu den japanischen Wölfen. (Japan Times vom 25. Mai 2019)

Ist es dann ein Wunder, dass der Journalist Mitsuru Munakata auf dem Heimweg von einer Wolfs-Konferenz im Museum um 6 Uhr morgens einem grauen Tier begegnet, das die „Charakteristiken eines japanischen Wolfes“ aufweist? (Japan Times vom 25. Mai 2019).

 

Man lasse sich auch folgende Analogie zwischen Mythos und Wolfs-Sichtung auf der Zunge zergehen:

 

Der Mythos unterscheidet den Wolf von anderen „Waldtieren“ dadurch, dass Ersterem keinerlei Furcht vor Menschen nachgesagt wird. (Knight, 1997: 143). Und in diesem Sinne interpretierte auch Hiroshi Yagi die Reaktion des vermeintlichen Honshū-Wolfs, nachdem er diesem einen Reiscracker angeboten hatte: “Und wie ein neugeborenes Baby hatte er kein Wissen und keinen Sinn für Gefahr.“ (BBC.com)

 

Hatte Yagi die lokale Folklore im Kopf, als er das Tier sah und interpretierte das Verhalten dementsprechend? – oder waren die Beiden in ihrer zufälligen Begegnung schon selbst zum Mythos avanciert und zu einer Art postmodernen Version der lokalen Wolfsfolklore geworden?

 

Yagis Chichibu-yaken (etwa: „wilder Hund von Chichibu“), wie Wissenschaftler Yoshinori Imaizumi ihn nach Analyse der Fotos nannte, gliedert sich jedenfalls nahtlos in die lokale Mythologie der „Wächter des Weges“ ein.

Website mit den fraglichen Fotos des Honshu-Wolf
Screenshot von einer Webseite mit einigen Bildern Yagis

 

Erstaunliche Parallelen

Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?

Die Inseln des Pazifiks kennen noch einen anderen Fall hundeähnlicher Kryptiden. Ebenfalls handelt es sich dabei um ein “spezielles” Tier, dessen Verbreitungsgebiet sich am Ende auf eine Insel beschränkte, – und ebenfalls wurde es im 20. Jahrhundert vom Menschen ausgerottet. Doch dieses Mal ist der gefragte “Hund” schwarz gestreift, hat etwas von einem Känguru – und die Insel ist Tasmanien. Der Tasmanische Wolf (Thylacinus cynocephalus) erlitt ein ähnliches Schicksal wie der Honshū-Wolf.

 

Präparat des tasmanischen Wolf
Auch der Beutelwolf ging einen ähnlichen Weg wie die japanischen Wölfe

Mal wieder: nationales Schuldgefühl

Doch noch viel erstaunlicher sind die Parallelen der kulturellen Verarbeitung seines Verschwindens, das mal wieder dem Menschen geschuldet ist. Wie der Honshū-Wolf war der Tasmanische Wolf schon zu Lebzeiten ein mythologisches Tier (Guinevere & Stark, 2015:16). Und wie der Honshū-Wolf drückt sein Verschwinden eine komplexere kulturelle Auseinandersetzung der tasmanischen Region mit ihrer eigenen Vergangenheit aus. Auch dem Tasmanischen Wolf zu Ehren werden „Schreine“ errichtet – das Tasmanian Museum and Art Gallery hat dem Beutelwolf zu Ehre einen eigenen abgedunkelten Raum eingerichtet, der von dem Rest der Ausstellung getrennt ist. Der Besucher kann darin die tragische Geschichte der Ausrottung anhand von anschaulichen Ausstellungsstücken nachvollziehen (Guinevere & Stark, 2015: 14).

 

Zwei Beutelwölfe
Zwei Beutelwölfe in einem Zoo, Sinnbild für „alles Tasmanische“?

Auf der Website macht das Museum klar, dass der Tasmanische Tiger „alles Tasmanische“ symbolisiert (Tasmanian Museum and Art Gallery). Mal wieder steht ein ausgerottetes Tier Pate für nationale Identität, und die darin enthaltenen Schuldgefühle und kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit (Waldron, 2014: 21.47 – 21.54). Und einmal mehr eröffnet das tragische Schicksal des „Tigers“ den Zugang zu den unangenehmeren Teilen der nationalen Geschichte – neben der Umweltzerstörung ist das in Australien die brutale Kolonialgeschichte (Guinevere & Stark, 2015: 19 -20).

Fazit

Es ist somit äußerst schwierig (wenn nicht gar unmöglich), die kryptozoologischen Aspekte von dem kulturellen Diskurs zu trennen, in dem die Saga über beide Arten eingebettet ist. Man muss akzeptieren, dass mit der Kryptozoologie die regionale Saga um den Tasmanischen und den Honshū-Wolf im postmodernen Zeitalter fortgeschrieben wird.

Daraus ergibt sich ein ernüchterndes, wenn auch aus folkloristischer Hinsicht spannendes Fazit:

Sowohl in Japan als auch in Tasmanien wird die Ausrottung eines großen Räubers nicht akzeptiert, aus Motiven von nationalem Schuldgefühl und kritischer Reflektion des eigenen Weges in die Moderne. Sowohl der Tasmanische Wolf als auch der Honshū-Wolf sind ein Sinnbild für die Verbrechen an Mensch und Natur. Aus diesem Grund fällt es schwer, zu akzeptieren, dass diese sonderbaren Geschöpfe wohl für immer von der Bildfläche verschwunden sind.

Hüben wie drüben machen sich Amateure mit Fotofallen auf die Jagd nach den Tieren (BBC.com). Sie installieren Lautsprecher mit Wolfsgeheul (Knight, 1997: 149) und werten Daten von aktuellen Sichtungen aus. Bis jetzt hat keine dieser Anstrengungen den ultimativen Beweis erbracht. Ökologische und biologische Faktoren stimmen nicht optimistisch, dass sich auf der geografisch begrenzten Wildnis der Inseln eine Population von Wölfen oder Tasmanischen Tigern mehr als ein halbes Jahrhundert unentdeckt gehalten hat.

 

Samuel Turvey vom Londoner Institut of Zoology bringt es auf den Punkt. Man darf die Sichtungen nicht a priori verwerfen. Aber es ist schlicht und ergreifend ein Problem der Qualität der Daten. Die Sichtungen sind nicht verifiziert und es nie klar, was letzten Endes gesehen wurde (BBC.com).

 

Kryptide im nationalen Diskurs

Und so lange ein nationaler Diskurs die kulturelle Wahrnehmung dieser Arten als Symboltiere für die Sünden der Vergangenheit speist, wird es unmöglich sein, biologische Realität von sozial konstruierter Realität zu trennen. Oder um es kurz zu machen: Jeder Fuchs oder verwilderte Hund wird zu einem potenziellen Honshū- oder Beutelwolf, wenn er vor den Augen eines Laien über die Straße huscht.

Dennoch sind die Ergebnisse der japanischen „Wolfsjäger“ bemerkenswert. Das Foto Hiroshi Yagis von dem Chichibu Yaken sucht innerhalb der kryptozoologischen Forschung ihresgleichen. Möge also der Ehrgeiz Yagis und seiner Mitstreiter den nervigen rationalen Skeptiker, dem die Misserfolge der Kryptozoologie unweigerlich Recht geben, wenigstens einmal eines Besseren belehren.

 

An dieser Stelle möchte ich Hiroshi Yagi bei seiner ambitionierten Suche nach dem Honshū-Wolf Alles Gute wünschen. Möge er Recht behalten und nicht wir Skeptiker.


Zum dritten und letzten Teil: Ein Botschafter der Eiszeit? – die (r)evolutionäre Rolle des Canis lupus hodophilax

 

Aufgrund des Umfanges stellen wir das Literaturverzeichnis mit dem letzten Teil des Artikels zum Download bereit.

Von Peter Ehret

Peter Ehret ist studierter Politikwissenschaftler und Rechtsphilosoph. Praktisch sein ganzes Leben ist Zoologie im Allgemeinen sein wichtigstes Hobby. Seit dem Jahr 2000 befasst er sich mit Kryptozoologie. Themenschwerpunkt seines kryptozoologischen Interesses sind die Rückwirkungen von konventionellen Tierbeobachtungen auf Legendenbildung. Seit 2012 lebt und arbeitet er als Deutschlehrer in Spanien.