Lesedauer: etwa 12 Minuten

 

 

Hochliteratur

 

Hochliteratur und Kryptozoologie – geht das denn zusammen? Ja, und zwar sogar sehr gut, denn viele bedeutende Schriftsteller haben auch Geschichten geschrieben, die man als kryptozoologisch bezeichnen kann.

 

Bruce Chatwin

Bruce Chatwin ist den meisten wohl bekannt durch sein Buch „The Songlines“, das den Australien- und Traumpfadeboom auslöste, aber er ist (unter anderem) ein sprachgewaltiger Reiseschriftsteller der Hochliteratur gewesen.

 

In „In Patagonien“ („In Patagonia“, 1977) beschreibt er seine Reise nach Feuerland auf der Suche nach den Ursprüngen eines Stücks Riesenfaultierfells, das in der Familie vererbt wurde – und damit auch die Suche nach seinen Ursprüngen.

 

Szene aus Patagonien, sehr abgelegen für Weltliteratur
Patagonien: Lake of the Desert

 

Das Buch beginnt mit der Mär eines im Eis tiefgefrorenen Brontosaurus (ein Thema, das Markus Hemmler und ich im „Jahrbuch für Kryptozoologie“ 2021 besprochen haben), es geht aber auch um Fabeltiere, die die spanischen Entdecker gesichtet haben (das Su) und um überlebende Plesiosaurier.

 

Dorf El Chalten in Argentinien
Dorf El Chaltén in Argentinien

 

Bruce Chatwin (* 13. Mai 1940 in Sheffield; † 18. Januar 1989 in Nizza) war ein britischer Schriftsteller. Reisen führte ihn unter anderem in den Sudan, nach Patagonien und Australien. Er erkrankte 1986 an AIDS, woran er 1989 auch starb. In der Darstellung der Kulturen werfen ihm Kritiker mangelndes Verständnis und Ungenauigkeit, in Australien auch Rücksichtslosigkeit vor. 
Bei der Leserschaft wurde Chatwin durch seine plastischen Beschreibungen fremd wirkender Umgebungen populär.


 

Herman Melville

Herman Melville ist bekannt als Autor von „Moby Dick“ (1851), einem Werk, das so monumental und schwierig zu lesen ist wie der „Ulysses“ von James Joyce und das seiner Zeit um mindestens 80 Jahre voraus war. Es ist keine einfache Lektüre, weil es nicht wirklich eine Geschichte erzählt, aber ganze Kapitel widmen sich Walen, die zwar gesehen, nie aber gefangen wurden. Das Lesen – wenn es sich nicht um verstümmelte Kinderbuchausgaben handelt – fordert heraus, ist den Versuch aber wert.

 

Pottwal bei den Kanarischen Inseln
Lebender Pottwal

 

In seinem eher autobiografischen Roman „Typee“ (1846, deutsch „Taipi“) schildert er wilde Katzen auf Südseeinseln – ein wahrer kryptozoologischer Fakt, weil es in Ozeanien keine heimischen Katzen gibt.

 

Nantucket

 

Das Leben Melvilles

Herman Melville, Autor der Weltliteratur
Herman Melville

Herman Melville (* 1. August 1819 in New York; † 28. September 1891 ebenda) war ein amerikanischer Schriftsteller der Hochliteratur. Melville fuhr bereits in jungen Jahren zur See, versuchte sich als Grundschullehrer und heuerte 1841 auf einem Walfänger an. In Ostpolynesien entfernte er sich von Bord, Eingeborene nahmen ihn bald gefangen. Über zahlreiche Stationen im tropischen Pazifik kam er 1844 nach Boston zurück. Dort veröffentlichte er in kurzer Folge die Romane Typee und Omoo erfolgreich. Weitere Reisen führten ihn nach Europa, ans Mittelmeer und ins heilige Land. Ab 1866 arbeitete Melville als Zollinspektor, weil die Tantiemen seiner Bücher nicht mehr zum Leben reichten.  

 


Jonathan Swift

Ebenfalls kein Kinderbuch ist „Gullivers Reisen“ (1726) von Jonathan Swift. Es ist eine bitterböse Satire über die englisch-irischen Beziehungen in vier Büchern, wovon die ersten beiden (die Reise nach Liliput und die Reise nach Brobdingnag, dem Land der Riesen) zu Kinderbüchern verflacht worden sind. Tatsächlich schreibt Swift ziemlich derb, oft obszön, aber auch scharf wie ein Skalpell, und sein Held Gulliver, ein Dummkopf und Großmaul, wird beständig zur Zielscheibe seines Spottes.

 

Modell Gullivers
Ein Modell von Gulliver in Lilliput

 

Die dritte Reise geht in die Gelehrtenrepublik Laputa (la puta ist Spanisch für Prostituierte; die Wissenschaftler haben sich eine Art fliegende Untertasse gebaut) und die vierte Reise führt Gulliver ins Land der intelligenten Pferde, die sich dreckige Menschen als Haustiere halten. Für diese wilden Menschen haben die Pferde das Wort Yahoo, und so nannten die australischen Zeitungen im 19. Jahrhundert auch ihren Yeti, den heutigen Yowie. Aber generell machte Swifts Kunstwort so viel Eindruck, dass die Suche nach Yahoo so manchen frühen Bericht über Hominiden zu Tage fördert (Karl May benutzte den Begriff eingedeutscht als Yahu).

 

Eine mögliche Insel Gullivers
Gullivers Inseln erscheinen immer am Horizont, wenn er fast ertrinkt

 

„Gullivers Reisen“ gilt als eines der 50 bedeutendsten Werke der Weltliteratur überhaupt, und es liest sich – im Gegensatz zu Melville – ziemlich flott und einfach, auch für den, der keine tiefergehendes Wissen über die englische Politik des 18. Jahrhunderts hat.

 

Das Leben Swifts

Jonathan Swift
Jonathan Swift, 1710

Jonathan Swift (* 30. November 1667 in Dublin; † 19. Oktober 1745 ebenda) war ein irischer Schriftsteller der frühen Aufklärung. Er wuchs in England auf und Irland auf und studierte zunächst Theologie in Dublin, später zum Master of Arts. Zurück in Irland ordinierte er als Priester der Church of Ireland. Ein entfernter Verwandter, Sir William Temple förderte ihn und stellte ihn nach dem Studium als Sekretär ein. Nach dessen Tod engagierte sich Swift politisch und als Herausgeber, zudem machte er in der Kirche Karriere. Seine Satiren erregten Aufsehen. Swift erkrankte im Alter mehrfach, einige Symptome deuten auf das Alzheimer-Syndrom hin. 

 


Edgar Allan Poe

Edgar Allan Poe beschriebt in seinem einzigen Roman „The narrative of A. Gordon Pym of Nantucket“ einen Reise an den Rand des Wahnsinns, bei dem unter anderem die Antarktis erreicht wird, und der leidende Held des Buchs, Arthur Gordon Pym, sieht dort mehrere sehr glaubhafte, aber komplett imaginäre Lebewesen wie das weiße Tier mit roten Zähnen, das Pym am Strande der Insel Tsalal entdeckt und das die Ureinwohner der Insel mit grausigem Schrecken erfüllt.

 

Great Moon Hoax
1835 wurde eine Serie von Bildern veröffentlicht, die das Leben auf dem Mond zeigen sollten. Der Great Moon Hoax stammt vom Benjamin Henry Day

 

Mehr Kryptozoologie gibt es in der Kurzgeschichte „The Sphinx“ (in der der Erzähler eine Riesenmotte im Hudsontal entdeckt, ein Vorläufer des Mottenmanns von West Virginia) und in „The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaal“, in der Menschen und Tiere auf dem Mond entdeckt werden.

 

Mothman, solche Figuren sind in der Hochliteratur selten
Künstlerische Darstellung des „aktuellen“ Mothmans. Abb.: Tim Bertelink CC-SA 4.0

 

 

Das Leben Poes

Edgar Allen Poe
Edgar Allen Poe, 1849

Edgar Allan Poe (* 19. Januar 1809 in Boston, Massachusetts; † 7. Oktober 1849 in Baltimore, Maryland). Poe war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Er prägte die Gattung der Kurzgeschichte sowie die Genres der Kriminal-, der Horror- und der Schauerliteratur. Poe war der Sohn zweier Schauspieler, verwaiste aber in jungen Jahren. Als Mündel lebte danach in einer recht wohlhabenden Familie, die ihm eine gute Ausbildung ermöglichte 1827 erschien sein erster Gedichtband. In den Folgejahren zog Poe vielfach um und schlug sich vor allem mit Kurz- und Fortsetzungsgeschichten für Zeitungen durch. Obwohl Poe hoch intelligent war und in zahlreichen Bereichen brillierte, musste er sich sein Leben lang mit gering bezahlten Jobs durchschlagen. Gegen Ende seines Lebens verfiel seine Gesundheit, während sein Geist in höheren Sphären zu schweben schien. 

 


Franz Kafka

Franz Kafka gilt aus gutem Grunde als einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Neben Kleist hat er wohl das schönste Deutsch geschrieben, und im Gegensatz zu dem, was viele glauben, die ihn noch nicht gelesen haben, ist er leicht verständlich – wenn auch nicht leicht interpretierbar.

 

Um Kryptozoologie geht es recht häufig bei Kafka. Eines der Fabelwesen, das er erfindet, ist der Odradek in „Die Sorge des Hausvaters“, eine Mischung aus Gegenstand und Lebewesen:

 

 

„Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. […]

 

Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen.

 

Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. ‚Wie heißt du denn?‘ fragt man ihn. ‚Odradek‘, sagt er. ‚Und wo wohnst du?‘ ‚Unbestimmter Wohnsitz‘, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. […] Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu.“

 

 

In „Eine Kreuzung“ vom 1917 schildert der Erzähler ein Tier „halb Lamm und halb Katze“, das er geerbt hat und das mit niemand Gesellschaft pflegt – weder mit anderen Lämmern noch anderen Katzen – als mit dem Erzähler allein.

 

Lamm auf der Weide
Dieses Lamm spielt fast wie eine Katze

 

 

Die kryptozoologischste Erzählung aber ist ohne Zweifel „Der Riesenmaulwurf“ oder „Der Dorfschullehrer“ von 1914/1915. In der schönen knappen Zusammenfassung der Wikipedia: „Der Erzähler, ein Kaufmann, schildert den Fall eines Riesenmaulwurfs, der in einem Dorf auftaucht, von den Leuten der Umgebung bestaunt wird, und dessen Existenz ein Dorfschullehrer in einer kleinen Drucksache veröffentlicht. Der Dorfschullehrer kann aber kein Interesse bei den Wissenschaftlern erreichen. Ein Gelehrter fertigt ihn damit ab, dass wohl die schwarze, fette Erde schuld am Riesenwuchs sei. Der Dorfschullehrer hat darüber und über seine sonstigen schlechten Erfahrungen und seine Not einen Nachtrag zu seiner ursprünglichen Schrift gemacht.“

Natürlich ist das kein Thriller, sondern eine Erforschung menschlicher Versuche, sich irgendwie einen Platz im Leben zu erobern.

 

Weiße Katze
Eine weiße Katze mit langem Fell kann fast wie ein Lamm wirken. Natürlich war Kafka das bewusst.

 

Das Leben Kafkas

Franz Kafka
Franz Kafka, 1923

Franz Kafka (* 3. Juli 1883 in Prag, Österreich-Ungarn; † 3. Juni 1924 in Kierling, Österreich) war ein deutschsprachiger Schriftsteller. Er entstammte bürgerlich-jüdischen Kaufmannsfamilien und genoss eine entsprechende Ausbildung in Prag, jedoch in deutscher Sprache. Später studierte er mehrere Fächer und schloss mit einem Doktor in Jura ab. Im Anschluss arbeitete er in einem „Brotberuf“ bei Versicherungen, was ihn intellektuell nicht forderte. 
Persönlich litt er als Feingeist unter der oft poltrigen, zupackenden und zuweilen selbstgerechten Natur seines Vaters. Er pflegte enge Freundschaften mit anderen Schriftstellern und Künstlern. Sein Verhältnis zu Frauen war undurchsichtig, möglicherweise einfach durch eine gewisse Schüchternheit gehemmt. Ab 1917 erkrankte Kafka mehrfach ernsthaft, zunächst an Lungen-Tuberkulose, dann der spanischen Grippe und schließlich 1924 auch Kehlkopf-Tuberkulose. Er starb im Alter von nur 40 Jahren. 


 

Jorge Luis Borges

Bleibt noch Jorge Luis Borges, der argentinische Schriftsteller der kargen Worte und großen Schöpfungen. Er schrieb das einzige Kryptozoologiebuch der Literaturgeschichte „El libro de los seres imaginarios“ („Einhorn, Sphinx und Salamander“ in der doofen deutschen Betitelung).

 

Historische Einhorndarstellung
Das Einhorn von Conrad Gessner, 1551.

 

Unter „seres imaginarios“, den imaginären Wesen, so Borges im Vorwort, könne man mathematische Gebilde wie den Punkt oder philosophische Konstrukte wie die Unendlichkeit verstehen, er aber schildert Fabeltiere – solche, an die wirklich geglaubt wurde wie jene, die der Phantasie von Dichtern und Visionären entsprungen sind (Poe, Swedenborg, Kafka, Chesterton und mehr). Die Einträge sind gewohnt knapp und versammeln das Wichtigste, was Sagen, Legenden und Weltliteratur über Einhörner, Sphinxen und Meerjungfrauen zu vermelden haben, und dennoch schaffen sie es, in nur wenigen Sätzen mehr über den Gegenstand auszusagen als seitenlanges Geschreibe minderer Autoren:

 

„Wir kennen den Sinn des Drachen ebenso wenig wie den Sinn des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellung entspricht und so erscheint der Drache in verschiedenen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten.“

 

historischer Kupferstich einer Seeschlange, die ein Segelschiff angreift und einen Seemann im Maul trägt
Olaus Magnus‘ Seeschlange von 1555

 

Wer nur ein Buch der Hochliteratur zur Kryptozoologie austesten will, der wähle Borges.

 

Im Übrigen finden sich Hinweise auf legendäre Wesen auch in mehreren Essays des Dichters, und über Olaus Magnus, den Erstbeschreiber der Seeschlangen, hat er ein schönes Gedicht geschrieben.

 

Das Leben Borges‘

Jorge Luis Borges,1951 by Grete Stern, Schriftsteller der Hochliteratur
Jorge Luis Borges, 1951. Foto: Grete Stern

Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo (* 24. August 1899 in Buenos Aires; † 14. Juni 1986 in Genf). Borges war ein argentinischer Schriftsteller und Bibliothekar. Er verfasste eine Vielzahl phantastischer Erzählungen und Gedichte und gilt als Mitbegründer des Magischen Realismus. Borges stammt aus einer wohlhabenden argentinischen Familie und wuchs in Buenos Aires auf. Er lernte früh neben Spanisch auch Englisch, Deutsch, Latein und Französisch. Jorge Luis Borges ist einem größeren Publikum durch seine phantastischen Erzählungen bekannt geworden. Er verfasste außerdem zahlreiche Gedichte, Essays, gab Bücherkataloge und Zitatsammlungen heraus, arbeitete für Zeitschriften und war als Übersetzer tätig. Im Alter von 50 Jahren erblindete er, setzte jedoch seine schriftstellerische Tätigkeit fort. Kurze Zeit später nahm er zudem den Posten des Direktors der argentinischen Nationalbibliothek an. 


 

 

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und Magische Mosel. Besondere Beachtung finden auch seine Bücher "Die Burg des Zwergenkönigs" und "Der Mord an Clara Schlürmann".