Zum ersten Mal beobachten Forscher einen wilden Primaten, der eine Wunde mit Hilfe einer Heilpflanze behandelt. Rakus ist ein männlicher, recht stattlicher Sumatra-Orang-Utan, der wild in Indonesien lebt. Er wird von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz (kurz MPIV) und der Universitas Nasioanl, Indonesien in einem Projekt beobachtet. Die beiden leitenden Forscherinnen Isabell Laumer und Caroline Schuppli schreiben dazu:
„Seit 1994 beobachten wir wilde Sumatra Orang-Utans am Forschungsstandort Suaq Balimbing, einem geschützten Regenwaldgebiet, das hauptsächlich aus Torfsumpfwald besteht und die Heimat von ca. 150 vom Aussterben bedrohten Sumatra Orang-Utans ist. Bei der täglichen Beobachtung der in der Gegend lebenden Orang-Utans fiel uns auf, dass der männliche Orang-Utan Rakus eine Gesichtswunde erlitten hatte, höchstwahrscheinlich während eines Kampfes mit einem benachbarten männlichen Artgenossen.“
Dies kommt sicher öfter vor und war für Rakus wahrscheinlich eher lästig, als bedrohlich. Trotzdem griff das Tier nahezu routiniert zur Selbsthilfe. Etwa drei Tage nach der Verletzung erntete Rakus gezielt Blätter einer Liane, die in Indonesien Akar Kuning heißt, wissenschaftlich Fibraurea tinctoria. Diese Blätter zerkaute er und trug den dabei entstehenden Saft immer wieder auf die Wunde auf. Am Schluss bedeckte er die verletzte Stelle mit den zerkauten Blättern.
Liane als Heilpflanze bekannt
Laut Laumer kennen die traditionellen Heiler Südostasiens diese und verwandte Lianenarten. Sie setzen fiebersenkend und schmerzlindernd bei zahlreichen Krankheiten ein. Analysen sekundärer Pflanzenstoffe zeigen in den Lianen unter anderem Furano-Diterpenoide und Protoberberin-Alkaloide, die für antibakterielle, entzündungshemmende, antimykotische, antioxidative und andere biologische Aktivitäten bekannt sind.
Bei Rakus traten in den folgenden Tagen tatsächlich keinerlei Anzeichen einer Infektion auf, nach nur fünf Tagen war die Wunde geschlossen. Zudem beobachteten die Wissenschaftlerinnen auch, dass Rakus in der Zeit mehr ruhte. Schlaf wirke sich ebenfalls positiv auf die Wundheilung aus, erklärte Lamer.
Wie kommt es zu dieser Form der Selbstmedikation?
Ganz klar: Dass Rakus sich auf diese Weise selbst behandelte, war kein Zufall.
„Das Verhalten von Rakus schien absichtlich zu sein, da er nur seine Gesichtswunde an seinem rechten Backenwulst mit dem Pflanzensaft behandelte und keine anderen Körperteile. Das Verhalten wurde mehrmals wiederholt, und dabei nicht nur der Pflanzensaft, sondern später auch das zerkaute Pflanzenmaterial aufgetragen, bis die Wunde vollständig bedeckt war und der gesamte Vorgang nahm eine beträchtliche Zeit in Anspruch“, so Laumer. „Es ist möglich, dass die Wundbehandlung mit Fibraurea tinctoria, die von den Orang-Utans in Suaq selten gefressen wird, eine individuelle Erfindung darstellt“, sagt Caroline Schuppli, Letztautorin der Studie.
„Einzelne Tiere können versehentlich ihre Wunden berühren, während sie von dieser Pflanze fressen, und so unbeabsichtigt den Saft der Pflanze auf ihre Wunden auftragen. Da Fibraurea tinctoria eine starke analgetische Wirkung hat, können die Tiere eine sofortige Schmerzlinderung verspüren, was dazu führt, dass sie das Verhalten mehrmals wiederholen.“
Nur weil das Verhalten bisher nicht beobachtet wurde, heißt das nicht, dass dieses Verhalten nicht im Verhaltensrepertoire der Suaq-Orang-Utan-Population enthalten ist. Wie alle Suaq-Männchen ist Rakus jedoch nicht in diesem Gebiet geboren, sondern zugewandert. Orang-Utan-Männchen verlassen ihr Geburtsgebiet während oder kurz nach der Pupertät und wandern oft große Strecken, bis sie ein neues Revier besetzen können oder zwischen den Revieren anderer Männchen geduldet werden. Es ist also durchaus möglich, dass Rakus die Nutzung der Akur Kuning bereits in seinem Geburtsrevier gelernt und nur in Suaq-Gebiet mitgebracht hat.
Die Autoren mutmaßen eine evolutionäre Umschließung: Wundbehandlung mit analgetisch wirkenden Pflanzen ist bei asiatischen und afrikanischen großen Menschenaffen ebenso bekannt, wie beim Menschen. Mehrfaches zufälliges Lernen und Übertagen einer Tradition erscheint mir dennoch glaubhafter, als die Weitergabe über mehrere Millionen Jahre. Aber wer weiß? Vielleicht nutzten bekannte Gattungen wie Ramapithecus, Ankarapithecus und sogar Gigantopithecus ebenfalls dieses Wissen – unwahrscheinlich ist es nicht.
Literatur
Laumer, I.B., Rahman, A., Rahmaeti, T. et al. Active self-treatment of a facial wound with a biologically active plant by a male Sumatran orangutan. Sci Rep 14, 8932 (2024). https://doi.org/10.1038/s41598-024-58988-7
Die Arbeit kann hier als pdf heruntergeladen werden
MPIV: Orang-Utan behandelt Wunde mit Heilpflanze. Web: https://www.mpg.de/21889002/0430-ornr-erster-nachweis-fuer-medizinische-wundbehandlung-bei-einem-wilden-tier-987453-x?c=2191
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