Von Exoten in der Kanalisation

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Haben Sie gehört? Im Döner-Laden um die Ecke wurde Rattenfleisch verarbeitet. Und dann ist da noch die alte Dame ein paar Straßen weiter. Sie wollte ihre nasse Katze trocknen und steckte sie hierfür in die Mikrowelle, was zum unweigerlichen Tod des armen Tieres führte. Wer kennt sie nicht, die Geschichten von unfassbaren Erlebnissen oder Geschehnissen, die der Freund der Tante eines Kollegen erlebt hat? So oder so ähnlich bauen sich Erzählungen auf, die Kulturanthropologen heute als Urbane Legenden bezeichnen. Frühere Sagen waren eher ländlich geprägt und finden sich in der Moderne häufig im städtischen Milieu (Petzoldt 2002, S. 147). Tradiert werden diese Erzählungen oft mündlich wie im obigen Stile oder im Internet.

Kinderwurst?
Ob solche Schilder zur der Verbreitung der Mythen beigetragen haben?

In den USA erzählt man sich hierbei die klassische Urbane Legende von Alligatoren, die von ihren Besitzern als Jungtiere ausgesetzt, jetzt in den Kanalisationen der großen Städte leben und dort richtiggehende Populationen begründet haben.

 

Während derartigen Erzählungen oft keine Realität zugrunde liegt, so wird doch auch von den Zeitungen immer wieder von Fällen berichtet, in denen es tatsächlich zum Auffinden von Krokodilen im Untergrund amerikanischer Städte gekommen ist.

 

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Die Spinne in der Yucca-Palme und andere Urban Legends

Sie waren in aller Munde und ein echter Hit Anfang der 1990er Jahre: „absolut wahre“ Geschichten, von Mund zu Mund weitererzählt im letzten Jahrzehnt ohne Internet. Alle sind sie selbst erlebt von dem Freund eines Freundes oder der Schwägerin eines guten Bekannten oder der Nichte der Schwester einer Arbeitskollegin. Sie erzählen von der todbringenden Spinne in der Yucca-Palme, der blonden Freundin, die in einem Harem landet, oder dem Pudel in der Mikrowelle. Eigenartig nur, das diese Geschichten sich fast genauso nicht nur in Göttingen oder Hamburg, sondern auch in Sydney oder Rio de Janeiro zugetragen haben.

 

Die Spinne in der Yucca-Palme: Sagenhafte Geschichten von heute hat als Paperback 157 Seiten und ist 2016 bei C.H. Beck erschienen.

 

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Eine der bekanntesten Urban Legends: Das Krokodil im Kanal

In dem Wikipedia-Beitrag zu „Krokodil im Kanal“ wird die These vertreten, dass dieses Erzählmotiv auf der tatsächlichen Entdeckung eines Krokodils in einem Gully in den USA der 1930er Jahre zurückzuführen sein könnte.

 

Das Krokodil in HarlemDieser Fall ereignete sich 1935 in New York. Als zwei Jugendliche beim Schneeschaufeln einen Gullyschacht öffneten, entdeckten sie dort ein, offensichtlich bereits geschwächtes Krokodil, das sie sogleich erschlugen (Oberg 2015, S. 16).

 

 

Nicht nur aus den USA, auch aus Europa wird hin und wieder davon berichtet, Krokodile in der Kanalisation vorgefunden zu haben. So fing die Feuerwehr von Paris 1984 ein Krokodil in den Abwasserkanälen der Stadt ein, nachdem es von Kanalarbeitern entdeckt wurde (o. A. 1984) und im Jahr 2000 kam es erneut zu einer Krokodilsichtung in der Pariser Kanalisation durch Kanalarbeiter (o. A. 2000).

 

 

Heidrun Oberg (2015, S. 17) weist hierbei zu Recht darauf hin, dass nicht davon auszugehen ist, dass die Tiere hier ein erquickliches und langes Leben gehabt haben dürften. Als Kaltblüter benötigen Reptilien Sonnenlicht, um ihr Blut auf Temperatur zu bringen und an Agilität zu gewinnen. In den lichtleeren Röhrensystemen dürfte es ihnen schwerfallen, auch nur zufällig eine Ratte zu fangen, um sich zu nähren.

 

 

Dies dürfte auch für andere Reptilien gelten, die zuweilen aus dem Kanalisationssystem auftauchen. Besonders exotische Schlangen tauchen hier ab und an in der Presse auf. So wurde 2011 eine 1,20 Meter lange Boa constrictor in Hannover aus dem Abwassersystem eines Mehrfamilienhauses gerettet, nachdem das Tier zunächst bei einer Familie in der Toilette auftauchte (Drews 2011) und 2015 verstopfte eine exotische Schlange die Toilette in einem Mehrfamilienhaus in Krefeld (Peters 2015).

Nicht nur bekannte Tiere, sogar Kryptide schaffen es in die Kanalisation

Aus Deutschland kennen wir zudem einen äußerst interessanten Fall der Meldung eines echten einheimischen Kryptiden in der Kanalisation. 1940 meldete ein Kanalarbeiter im bayrischen Mühlbach, bei Arbeiten in einem Rohr einen Tatzelwurm entdeckt zu haben! Der Tatzelwurm ist ein alpiner Kryptid, bei dem es sich in der idealtypischen Beschreibung um ein reptilienartiges Tier von 0,5 bis 1 Meter Länge handelt, das über ein sehr flaches, katzenartiges Gesicht verfügt und dessen markantestes Merkmal ist, dass es keine Hinterbeine hat, sondern nur zwei vordere „Tatzeln“. Ulrich Magin, Mitglied unseres Netzwerks hat zum Tatzelwurm 2020 eine lesenswerte Monographie veröffentlicht (Magin 2020).

 

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Heute kaum mehr als eine folkloristische Reminiszenz, war der Tatzelwurm früher eine echte Gefahr: Das Reptil stürzte sich auf Menschen und spie sie mit seinem giftigen Atem an. Für dieses Buch hat der Autor über 430 Augenzeugenberichte gesammelt und analysiert. Das Ergebnis ist eine aufregende zoologische Schnitzeljagd und zugleich eine spannende Traditionsgeschichte des gesamten Alpenraums. Bei der Lektüre der Berichte wird klar, dass der Tatzelwurm ein wandelbares Geschöpf ist mal hat er den Kopf einer Schlange, mal den einer Katze, mal zwei, dann mehr Füße, mal hat er Flügel, mal keine, mal ist die Haut glatt, dann wieder schuppig. Er kann scheu oder aggressiv und giftig sein; manche empfehlen sogar seinen Genuss.

 

Der Tatzelwurm: Porträt eines Alpenphantoms ist im Juli 2020 bei Edition Raetia erschienen und hat 232 Seiten

 

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Was der Kanalarbeiter in dem Rohr entdeckte, kam obigem Steckbrief schon recht nahe. Der Tatzelwurm sei einen halben Meter lang, habe einen großen und sehr glatten Kopf, einen langen Schwanz und vier Beine, so meldete er es dem Tierpark Hellabrunn in München (o. A. 1940).

oder doch nur aus dem Zoo entlaufen?

Bei dem vermeintlichen Kryptiden handelte es sich um einen nordamerikanischen Riesenmolch, den Schlammteufel (Cryptobranchus alleganiensis), der ganze zweieinhalb Jahre zuvor dem Hellabrunner Aquarium entlaufen war. Noch 24 Jahre später, an seinem 70. Geburtstag, war dieses Ereignis dem früheren Tierparkdirektor von Hellabrunn, Heinz Heck, lebhaft im Gedächtnis geblieben, wie er in einem Interview verriet (o. A. 1964).

 

Wir können also den Schluss ziehen, dass selbst die Legende von den Kanaligatoren nebst anderer Exoten in Einzelfällen tatsächlich auf reale Ereignisse zurückzuführen ist. Gleichzeitig erscheint das Vorhandensein einer Population exotischer Reptilien in den Kanalisationssystemen der großen amerikanischen und europäischen Städte aus genannten Gründen mehr als unwahrscheinlich. Die Tiere würden auf Dauer ein träges, futterarmes Leben führen und vermutlich an Krankheit und Hunger verenden.


Quellen

 

Drews, Vivien-Marie: Von Schlangen und Ratten in Hannovers Kanalisation. Auf: https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Von-Schlangen-und-Ratten-in-Hannovers-Kanalisation 29.03.2011, gesichtet am 04.12.2020

 

Magin, Ulrich: Der Tatzelwurm. Portrait eines Alpenphantoms. Bozen: Edition Raetia 2020

A. Krokodil lauert in Pariser Kanälen. In: Westfälische Nachrichten 11.02.2000

A.: Krokodil in Kanälen. In: Westfälische Nachrichten 09.03.1984

A.: 12000 Tiere gratulieren Tierparkdirektor Heck. „Vater“ Heinz Heck feiert seinen 70. Geburtstag – Ein Freund der Tiere. In: Passauer Neue Presse 21.01.1964

A.: Ein Tatzelwurm in bayrischen Mühlbach? Hamburger Neueste Zeitung 10.10.1940

 

Oberg, Heidrun: Was lebt in der Kanalisation? Ratten, Schlangen, Kanaligatoren. In: Umweltzeitung Mai/Juni 2015. PDF auf: https://www.umweltzentrum-braunschweig.de/fileadmin/_uwz-pdfs/2015-03/Ratten_Schlangen_Kanaligatoren.pdf

 

Peters, Sebastian: Familie entdeckt Schlange in Toilettenrohr. Auf: https://rp-online.de/nrw/staedte/krefeld/krefeld-schlange-in-toilette-entdeckt-familie-in-panik_aid-20555151 29.10.2015, gesichtet am 04.12.2020

 

Petzoldt, Leander: Einführung in die Sagenforschung. 3. Auflage. Konstanz: UVK 2002

 

Wikipedia: Krokodil im Kanal. Auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Krokodil_im_Kanal gesichtet am 04.12.2020

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