Hartlepool ist eine Hafenstadt im Nordosten Englands mit langer Tradition. Heute hat sie etwa 90.000 Einwohner, und leidet, wie viele britische Hafenstädte an der permanenten Wirtschaftskrise des Vereinigten Königreiches. Es gibt einen Hafen, der früher mal als Umschlagplatz für Kohle und Holz diente. Die Stadt ist ein untergeordneter Eisenbahnknoten, es gibt ein Kernkraftwerk, ein Fußballstadion und eine dazu gehörige Fußballmannschaft: Hartlepool United. Rund herum eine gewöhnliche, englische Mittelstadt – wäre da nicht der gehängte Affe.
Wie kommt ein Affe nach Hartlepool?
Man schreibt das Jahr 1805 oder auch 1808, so genau kann das niemand mehr sagen. Napoleon ist Kaiser von Frankreich und hat halb Europa mit blutigen Kriegen überzogen. Noch ist seine Marine stark genug, in den Gewässern rund um Großbritannien die Trikolore zu zeigen. Doch die britische Bevölkerung ist wachsam. Wo immer ein Schiff ungewöhnlicher Bauart am Horizont auftaucht, taucht bald ein Schiff der Royal Navy auf. Um den großen Linienschiffen der Gegner zu entgehen, requirieren beide Seiten kleinere Handelsschiffe und Fischerboote, mit denen junge, mutige Skipper wesentlich dichter am Ufer operieren können, als die schwer bewaffneten, aber auch schwerfälligen Flaggschiffe.
Kleine Korvetten zur Küstenbeobachtung
Oft sind diese Schiffe nur mit einem Dutzend Seeleuten und einer Handvoll Soldaten bemannt, aber sie sind lohnende Beute. Beide Seiten statten sie mit großzügigen Geldmitteln aus. Ein Ziel ihres Einsatzes ist Informationsgewinn. Sie konnten durch geringen Tiefgang sehr dicht an die Küsten heranfahren, um Häfen oder Land-Transportwege zu beobachten. Und sie kamen hinter dem Horizont schnell in Kontakt mit kleinen Handelsschiffen oder Fischerbooten. Kaum jemand kann mehr erzählen als ein Fischer, dem man den Fang für ein Mehrfaches des Marktpreises abkauft und sie in ein Gespräch über Alltägliches verwickelt. So waren kleine Korvetten sehr effektive Informationssammler und wurden von beiden Seiten intensiv genutzt.
Einen entscheidenden Nachteil gegenüber größeren Einheiten hatten sie allerdings: Bei rauem Wetter waren sie weniger seetüchtig. Insbesondere Stürme konnten ihnen schnell gefährlich werden.
Ein Sturm, eine Korvette, ein Affe: Zeug für eine Legende
So kam es, dass irgendwann in diesem Zeitraum, vermutlich während eines Herbststurmes, eine französische Korvette in den schwierigen Gewässern vor Hartlepool strandete. Die Besatzung überlebte die Strandung oder spätestens den Kontakt mit den Strandgut sammelnden Bewohnern nicht. Einzig ein Affe, so die Legende, wurde gerettet.
Der Affe trug die Uniform der französischen Marine, bzw. an sie angepasste Kleidung. Die Legende unterstellt der aufgebrachten Bevölkerung, den Affen für einen französischen Spion gehalten zu haben.
Heute ist unvorstellbar, dass ein Engländer nicht weiß, wie ein Franzose aussieht und der Affe tatsächlich mit einem solchen verwechselt wurde. Dennoch wurde er am Ende als französischer Spion gehängt.
Was hat der Affe mit der Bestie des Gevaudan zu tun?
Autor Karl-Hans Taake hat in seinem Artikel über Raubtierangriffe im historischen Frankreich nebenbei einen florierenden Handel mit exotischen Tieren zu Zeiten Ludwig XIV. und seiner Nachfolger beschrieben. Dieser Handel beschränkte sich bei Leibe nicht nur auf große (und teure) Raubtiere. Auch kleinere Exoten wie Papageien und Affen waren gern gesehene Handelsobjekte.
Diese Tiere kamen meist auf Schiffen ins Land, die im „Atlantischen Dreieckshandel“ verwendet wurden: Stoffe, Feuerwaffen, Metalle, billige Spirituosen und einfache Schmuckwaren wie Glasperlen wurden von portugiesischen, französischen, niederländischen und englischen Handelskompanien nach Westafrika verschifft. Auf lokalen Märkten wurden diese Güter hauptsächlich gegen Sklaven eingetauscht. Diese verfrachteten die Händler nach Brasilien, in die Karibik oder die (späteren) Südstaaten der USA. Dort wurden sie verkauft oder gegen Baumwolle, Rum, Melasse oder Rohrzucker eingetauscht, die wiederum nach Europa gebracht wurden. Der Gewinn dieses menschenverachtenden Zyklus war enorm und das Leid, das er brachte, ebenfalls.[1]
Weltweite Handelsverbindungen
Ebenso gab es Handelsverbindungen über den indischen Ozean bis Madagaskar, Indien, Hinterindien und Neuguinea. Daher ist die Herkunft des Affen von Hartlepool nicht mehr nachvollziehbar. Belegt sind Importe zahlreicher Affenarten nach Frankreich: Grüne Meerkatzen, Kapuzineraffen, Mandrille und Schimpansen. Wahrscheinlich sind auch andere Arten, vor allem aus Westafrika, der Karibik, Indien und Indonesien. Ein bekannter Import 1670 brachte 260 Primaten aus Madagaskar nach Paris.
Der Handelsvertreter Barbot erhielt gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Paris für einen überlebenden Affen 480 Livres, etwa den Kaufpreis für fünf Pferde. In Folge der französischen Revolution und später der Herrschaft Napoleons sank zunächst der Bedarf an exotischen Heimtieren, da der – stark dezimierte und profanierte – Adel keinen Repräsentationsbedarf mehr hatte. So wurde auch dieses Privileg bürgerlich. Möglicherweise erstand einer der Seeleute des ungenannten Schiffes einen Affen und nahm ihn als Maskottchen mit.
Gedanken zum Erhängen
Die Tatsache, dass die Legende sagt, der Affe sei als Spion gehängt worden, lässt aufhorchen. Erhängen war eine häufig praktizierte Hinrichtungsmethode, die seit Jahrhunderten mehr oder weniger gleich ablief: An einem Galgen, über einem Ast, Türsturz etc. wurde ein Seil befestigt. In das freie Ende knüpfte man einen „Henkersknoten“, der sich bei Belastung von selbst zuzieht.
Üblicherweise wurde der Delinquent erhöht aufgestellt, dann legte man ihm das Seil um den Hals und ließ ihn fallen. Der plötzliche Ruck, wenn sich das Seil strafft, bewirkte bei ausreichender Fallhöhe einen Genickbruch, das Stammhirn riss, der Delinquent war sofort tot. Bricht das Genick nicht, weil die Fallhöhe zu gering war, drückt der Knoten die Blutzufuhr zum Gehirn ab, der Tod tritt langsamer, aber ebenso zuverlässig ein. Ist die Fallhöhe zu hoch, kommt es … sagen wir mal: zu einer nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Verletzung, viel Schweinerei und der Henker braucht einen Korb.
War es überhaupt ein Affe?
Ein kleiner Affe, z.B. ein Rhesus- oder Kapuzineraffe kann auf diese Weise nicht umgebracht werden, sein Körper ist zu leicht, das Genick zu stark. Möglicherweise reicht sein Gewicht nicht einmal, um die Blutzufuhr zum Gehirn abzudrücken. Eines ist aber sicher: Der Affe wird sehr deutlich machen, dass er damit nicht einverstanden ist.
Größere Affen, Paviane, Mandrills, Schimpansen kann man erhängen. Aber sie kommen aus anderen Gründen nicht in Frage: Zum einen dürften sie für einen Seemann auf einer Korvette, selbst den Kapitän, zu teuer gewesen sein. Zum anderen haben solche Affen das Potenzial, auf einer Korvette bedeutende Schäden anzurichten. Kein halbwegs erfahrener Kommandant hätte das auf seinem Schiff geduldet. Ein dritter Punkt ist in der Wehrhaftigkeit dieser Tiere zu suchen. Ein 8 kg schwerer Pavian nimmt es in Sachen Kampfkraft mit einem Menschen auf, gegen größere Affen hat ein einzelner, unbewaffneter Mensch keine Chance. Auch so eine Gefahr würde kein Kommandant auf seinem Schiff dulden.
In der Legende ist stets die Rede von einem „Monkey“, also einem Tieraffen mit Schwanz. Ein Gibbon, Schimpanse, Orang Utan oder Gorilla hingegen würde als „Ape“, Menschenaffe bezeichnet. In wie weit diese Trennung Anfang des 19. Jahrhunderts in der Arbeiterklasse eines Fischerei- und Kohlehafens bekannt war, kann nur vermutet werden. Danke an Ulrich für den Hinweis.
Pulveraffen?
Stattdessen gab es eine andere, vertraute Spezies, deren Vertreter gelegentlich als „Affe“ bezeichnet wurden: Den Homo sapiens. In der Royal Navy war es üblich, Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren anzuwerben. Ihr Job war es, im Gefecht Schwarzpulver aus der (tief im Bauch des Schiffes gelegenen) Pulverkammer zu den Geschützen zu bringen. Hierbei kam ihnen die geringe Größe zugute. Der Job war gefährlich, da sie im Gefecht mit dem hochexplosiven Schwarzpulver zu tun hatten. Da sie kaum eine Ausbildung hatten, waren sie leicht zu ersetzen. Diese Jungs wurden als Pulveraffen oder Powder Monkeys bezeichnet.
Aufgrund ähnlicher Struktur der Schiffsbesatzungen ist davon auszugehen, dass es auch auf französischen Kriegsschiffen dieser Zeit „Pulveraffen“ gab.
Ein Affe als einziger Überlebender?
Es ist gut möglich, dass die französische Korvette einen oder zwei solcher Jungen an Bord hatte. Aber wie kommt es, dass ausgerechnet ein Kind der einzige Überlebende eines havarierten Schiffes ist? Hier kommen wieder die Strandgutsammler und der Kriegszustand Englands zu diesem Zeitpunkt zum Tragen.
Strandgut galt auch im Vereinigten Königreich als herrenlos und konnte sich von jedem angeeignet werden, der es fand – falls es keinen Besitzer gab. Als möglicher Besitzer galt dann aber Frankreich, in Vertretung des ranghöchsten Überlebenden im Wrack oder an Land. Es kam damals noch recht häufig vor, dass Strandgutsammler dafür Sorge trugen, dass es keinen „ranghöchsten Überlebenden“ gab, der Ansprüche stellen konnte. Vor dem Erschlagen oder Ersäufen eines Kindes hat man dann aber wohl doch zurückgeschreckt und den Jungen an Land geholt. Dort hat sich dann ein Mob gebildet, der den unglücklichen Pulveraffen dann doch gelyncht hat.
Warum wurde der Affe gehängt?
Ein überlebender Affe, egal ob es sich um ein Tier oder einen Pulveraffen handelte, hätte durchaus eine Gefahr für einzelne Menschen in Hartlepool darstellen können. Wie oben beschrieben, kam es auf offener See mehr oder weniger regelmäßig zu Kontakten zwischen den Korvetten und britischen Zivilschiffen. Das war sehr lukrativ für die zivilen Kapitäne, aber es war mindestens Kollaboration mit dem Feind, wenn nicht sogar direkte Spionage.
Bei einem so kleinen Schiff wie einer Korvette wird keinem der Seeleute verborgen geblieben sein, wenn es einen entsprechenden Kontakt gab. Für die britischen Kapitäne bestand also die Gefahr, dass ein überlebender Franzose sie wieder erkennt und sie in einem möglichen Prozess als „Kontakt“ nennt. Auch ein (echter) Affe kann Menschen wiedererkennen, so dass diese Gefahr auch von ihm ausgeht.
Es war also im Sinne zahlreicher Fischer und Handelskapitänen, dass ein Überlebender der gestrandeten Korvette möglichst schnell und ohne viel reden zu können, verschwindet. Wie schnell sich eine feindselige, aber ruhige Menge in einen wütenden Mob verwandelt, hat sich in den letzten Monaten auch in Deutschland immer wieder gezeigt. Damit war dann das Ende des Affen oder des Franzosen besiegelt.
Ein Affenknochen als Beleg?
Ob die Geschichte stattgefunden hat, ist nicht belegt. Wenn es ein solches Ereignis gegeben hat, dann war die Zahl der Beteiligten nur gering, es hat nicht lange gedauert und es gab kaum Kollateralschäden. Sonst hätten die lokalen Behörden mindestens ein Protokoll verfasst. Stattdessen stammt die erste offizielle Erwähnung aus dem Jahre 1854 oder 1855 in Form eines Spottliedes. In dessen Folge wurde die Geschichte mit dem Affen zur Stadtlegende.
Dieses Lied soll nach anderen Quellen bereits um 1827 mit anderen Orten gesungen worden sein (Kevinhobbs 2012).
So blieb die ganze Sache unbelegbar, bis im Jahre 2005 am Strand von Hartlepool ein ungewöhnlicher, großer Knochen angespült wurde. Natürlich brachte man ihn sofort mit dem legendären Affen in Verbindung. Leider bestätigte sich der Verdacht nicht. Er stammt von einem Rothirsch, der vor etwa 6000 Jahren lebte. Der Knochen wird im Hartlepool Museum ausgestellt.
Oder ist die ganze Legende importiert?
Der „Comic Performer“[2] Ned Corvan machte etwa 1855 den „Monkey Song“ populär. Es gibt jedoch einen sehr ähnlichen Song aus Boddam, einem kleinen Ort in Aberdeenshire, etwa 300 km nördlich von Hartlepool.
Könnte es also sein, dass die Stadtlegende von Hartlepool ihr reales Vorbild im Aberdeenshire hat?
In former times, mid war an’ strife,
The French invasion threatened life,
An’ all was armed with the knife,
The Fishermen hung the Monkey O!
The Fishermen wi’ courage high,
Seized on the Monkey for a spy,
“Hang him” says yen, says another, ”He’ll die!”
They did, and they hung the Monkey O!.
They tried every move to make him speak,
Them tortor’d the Monkey till loud he did squeak
Says yen, “That’s French,” says another “it’s Greek”
For the Fishermen had got drunky, O!
“He’s all ower hair!” sum chap did cry,
E’en up te summic cute an’ sly
Wiv a cod’s head then they closed an eye,
Afore they hung the Monkey O!
Hartlepool und der Affe heute
Der gehängte Affe ist in Hartlepool heute allgegenwärtig. Es gibt eine Skulptur eines Schimpansen am Hafen, etwa dort, wo sich die Ereignisse abgespielt haben sollen. Sie sammelt für den britischen Seenotretter. Auf der Promenade ist ein Denkmal zeigt einen kleinen Affen mit langem Schwanz.
Der lokale Fußballverein Hartlepool United F.C. hat das Maskottchen „H’Angus the Monkey“ seit 1999 adoptiert. Bürgermeister-Kandidat Stuart Drummond hat das Kostüm 2002 im Wahlkampf getragen und damit die Wahl gewonnen. Bis 2013 war er im Amt, danach wurde er nicht gehängt.
Literatur:
Wikipedia zu Stuart Drummond: https://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Drummond
Tijana Radeska in The vintage News vom 13.01.2017: https://www.thevintagenews.com/2017/01/13/the-monkey-who-was-convicted-of-being-a-french-spy-and-was-hanged-by-the-citizens-of-hartlepool/
Sky News vom 08.06.2021 https://news.sky.com/story/hartlepools-monkey-statue-to-be-given-explanatory-sign-to-avoid-offending-visitors-12327668
Karl-Hans Taake: Carnivore Attacks on Humans in Historic France and Germany. 2020, S. 5ff.
Louise E. Robbins: Elephant Slaves and Pampered Parrots. 2002, S. 28f, 126.
Kevinhobbs: Update – Hanging the Monkes auf: http://ambrosemerton.org/?tag=hanging-the-monkey
[1] Der oben prototypisch beschriebene Dreieckshandel musste keineswegs immer so stattfinden. Die meisten Händler pendelten direkt zwischen Europa und der Karibik, ohne Sklaven aus Afrika an Bord zu nehmen. Ebenso konnten Händler an der Sklavenküste (etwa bei Benin bis Togo) Sklaven an Bord nehmen und bereits an der Goldküste im heutigen Ghana wieder verkaufen. Die Möglichkeiten waren vielseitig, an den Küsten des Atlantiks Handel zu betreiben. Der Menschenhandel brachte damals wie heute viel Elend und leider auch große Profite.
[2] Ein „Comic Performer“ war im weitesten Sinne ein Vorgänger eines heutigen Comedians. Er zog von Ort zu Ort und trat auf Märkten und Jahrmärkten auf. Zu seinen Fähigkeiten gehörten oft unterschiedliche Künste von Singen und Musizieren über Jonglieren, Erzählen bis hin zu Zaubertricks.