Die zweitgrößte Marderart Eurasiens und Nordamerikas trägt viele Namen. Vielfraß ist der Geläufigste, Gulo gulo der Wissenschaftliche. Aber auch Bärenmarder, Gierling, Giermagen, Gierschlund, Järv oder Jerv waren oder sind in Gebrauch. Woher der Name Vielfraß stammt, ob etwa aus dem mittelniederdeutschen velevras oder vēlvratze, das als fälschliche Umbildung des altnorwegischen fjeldfross für Bergkater oder des schwedischen Fjäl-Fräs für Bergkatze gedeutet wird, darüber herrscht keine Einigkeit[1]. Fest steht, dass bereits Conrad Gessner (1516-1565) über den Vielfraß schreibt:
„Ein so mercklich frässig thier ist dises /
daß es nit zu glouben ist /
hat ein sonderlich groß begird und lust ab dem menschenfleisch /
von welchem es sich so vol frißt /
daß jm sein leyb davon gespannen wirdt:zu welcher zeyt es sich zwüsched zwen enge boum durchstreifft sein gefür oder kadt auß zutrucken /
nach welchem es sich widerumb vol frißt /
und wider auß truckt so lang biß es nicht mer hat /
andere menschen cörper zu suchen gezwungen wirdt“[2] .
Mit diesen Worten begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Vielfraß, um für lange Zeit nur wenig weitere Erkenntnisse hinzuzufügen.
Verbreitung und Lebensraum
Überhaupt bestehen hinsichtlich des Vielfraßes bis heute viele Unsicherheiten, was mit der relativ späten wissenschaftlichen Beschreibung dieses Raubtieres zu tun haben mag. Noch 1960 ist der Vielfraß für Krott ein „Tier, das bisher zu den wissenschaftlich am wenigsten bearbeiteten Säugetieren zählt“[3]. So verwundert es nicht, dass selbst in aktuellen Quellen zur Frage nach dem rezenten Verbreitungsgebiet und Lebensraum des Vielfraßes durchaus recht unterschiedliche Angaben zu finden sind. Mehr oder weniger Einigkeit besteht noch hinsichtlich der „groben“ geografischen Verbreitung, die nach Pulliainen holarktisch ist[4], nach Rudloff zirkumpolar von Nord-Skandinavien bis Nord-Sibirien, sowie nach China, in die Mongolei und weite Teile Nordamerikas reicht[5]. Doch schon wenn es um den Lebensraum des Vielfraßes geht, erfährt der Rechercheur unterschiedliches.
Im borealen Nadelwald?
So schreibt etwa der Quartär-Paläontologe Wighart von Koenigswald, dass das Areal des Vielfraßes „weder die Tundra im Norden noch den Laubwald im Süden“ einschließe, sondern er „ein wichtiges Raubtier des borealen Nadelwaldes“ sei[6]. Dagegen gibt der Biologe Klaus Rudloff als Lebensraum des Vielfraßes explizit die „arktische und subarktische Tundra und nördliche Taiga“ an[7]. Peter Krott, der in Schweden viele Jahre mit Vielfraßen zusammenlebte, sieht die Art an das Moor gebunden („Moormarder“), worauf u.a. die morphologischen Besonderheiten des Vielfraßes hinwiesen[8]. Dem widerspricht der Zoologe V.G. Heptner ausdrücklich und nennt als Hauptlebensraum die Nadelholz-Taiga und Waldtundra, nur selten die offene Tundra und noch seltener den Mischwaldgürtel und die westsibirische Waldsteppe[9].
Für den Zoologen Erkki Pulliainen sind die Moore der Nadelwaldzone Fennoskandiens lediglich der ursprüngliche Lebensraum des Vielfraßes. Heute sei hingegen die Bergtundra (Fjäll) oberhalb der Nadelwaldgrenze das Stammhabitat, „wo sie sowohl in der alpinen und subalpinen als auch in der Nadelwaldzone umherwandern“[10]. Dies stimmt mit den Informationen überein, die Alfred E. Brehm von seinem Gewährsmann Erik Swenson, einem naturkundigen Jäger, erhielt, nach dem der Vielfraß „die gebirgigen Gegenden des Nordens [bewohnt] und […] die nackten Höhen der skandinavischen Alpen den ungeheuren Wäldern des niedern Gebirges vor[zieht], obwohl er auch in diesen zu finden ist. Die ödeste Wildniß ist sein Aufenthalt“[11] (Abb. 2).
Eine teilweise Auflösung dieser z.T. widersprüchlichen Angaben liefert u.a. die Paläontologin Doris Döppes, die darauf hinweist, dass der Vielfraß saisonal verschiedene Biotope aufsucht: „Im Sommer bevorzugt der Vielfraß die Wälder und im Winter die Tundren. Die jährlichen Züge der Rentiere können auch bewirken, dass der Vielfraß von einem Biotop in ein anderes überwechselt“[12].
War der Vielfraß in Zentraleuropa heimisch?
Unabhängig von der Frage nach dem Stammlebensraum, lässt ein genauer Blick auf Europa – unter Berücksichtigung der faunengeschichtlichen Grenzverschiebungen – auch bei der Verbreitung des Vielfraßes Unsicherheiten zu Tage treten. War der Vielfraß auch im Gebiet des heutigen Deutschlands heimisch? Wann verschwand er aus Zentraleuropa? Gibt es auch gegenwärtig Hinweise auf weiter südlich und westlich gelegene Vorkommen? Und wie wahrscheinlich ist eigentlich heutzutage das Auftreten eines Vielfraßes in Zentraleuropa? Diese Fragen sollen im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.
In vorgeschichtlicher Zeit
Die Wahrscheinlichkeit, in einem mitteleuropäischen Mischwald einem Vielfraß zu begegnen, ist sehr gering. Aus einer konservativ-geozoologischen Perspektive würde diese Möglichkeit sicher ausgeschlossen werden. Die Naturgeschichte des Vielfraßes, sowie einzelne, nicht leicht einzuordnende Funde dieses Tieres, lassen das ehemalige und rezente Verbreitungsgebiet allerdings verschwimmen.
Unzweifelhaft ist, dass der Vielfraß in prähistorischen Zeiten im Gebiet des heutigen Deutschlands lebte. Nach von Koenigswald sei es auf das Stammhabitat des Vielfraßes – den borealen Nadelwald – zurückzuführen, dass sich dieser nur in den Kaltzeiten nach Mitteleuropa ausdehnen konnte. Doch wie von Koenigswald einschränkt, sind die in zahlreichen Höhlen gefundenen Vielfraß-Schädel und -Kiefer oft nicht stratigrafisch zuzuordnen[13] und damit auch die Zuordnung zu einer Faunengesellschaft, einem Habitat sowie eine relative Datierung der Funde nicht möglich. Die wenigen stratifizierten Funde stammen z.B. aus dem mittleren Weichsel-Glazial. Hierhin gehört auch eine aus Ton geknetete Figur, die einen Vielfraß darstellen soll und im Pavlovien der jungpaläolithischen Freilandstation Předmostí bei Přerov, Mähren, gefunden wurde[14].
Spätglaziale Funde
Spätglaziale Funde, wie etwa aus dem Grubenloch bei Oberklausen in der nördlichen Frankenalb (Bayern)[15], sowie Funde aus der Zeit des Magdalénien, etwa aus den Perick-Höhlen im Sauerland (Pleniglazial des Magdalénien V-VI)[16], erstrecken sich von den Pyrenäen über die Schweiz bis nach Dänemark (Abb. 3). Damit ergibt sich nach von Koenigswald ein Widerspruch zum rezenten borealen Lebensraum des Vielfraßes, „weil der Baumbestand in der Mammutsteppe und erst recht in der sehr kontinentalen Steppe des Magdalénien minimal war“[17]. Zurückhaltender sind Diedrich und Copeland, welche kurz und knapp feststellen: „the ecology of Pleistocene wolverines is unclear“[18].
Eine sehr ausführliche Bestandsaufnahme fossiler Vielfraß-Funde nimmt Döppes vor[19]. Für Döppes ist der Vielfraß „ein typisches Tier des Nordens“[20], dessen Vorkommen in Mitteleuropa vom Mousterien bis ins Spätglazial vermutlich mit der Anwesenheit des Rentiers in Zusammenhang steht: „Erkennbar scheint eine gewisse Bindung des Vielfraß an das Ren. So ist dieser in einigen Gegenden mit dem Verschwinden des Rentieres ebenfalls verschwunden […] und so könnte sich das im Pleistozän auch zugetragen haben“[21].
Auch Döppes weist auf die vielfach nicht stratifizierten Funde hin, wobei dass Vielfraß-Material aus dem Katerloch bei Weiz, Steiermark, auffällt, welches nach Zapfe „einen Erhaltungszustand aufweist, den man fast als rezent ansprechen möchte“[22]. Auch Döppes bemerkt dazu: „Der Erhaltungszustand ist hell und ich nehme an, dass daher der Fund als subfossil/rezent bezeichnet wurde“[23].
Für die Teufelslucke bei Eggenburg, Niederösterreich, weist Zapfe Vielfraß-Material zweier Individuen nach, das auffallend geringe Dimensionen[24] aufweist, „die durchaus mit dem rezenten Vielfraß übereinstimmen“[25]. Beides, Erhaltungszustand und Entsprechung der Dimensionen mit dem rezenter Vielfraße, führt nach Zapfe zur interessanten „Frage, ob und in wieweit der Vielfraß in unseren Gegenden die Obergrenze des Pleistozäns überlebt haben könnte“[26].
Im 18. Jahrhundert
Die antiken und mittelalterlichen Berichte über das Vorkommen des Vielfraßes sind sehr spärlich. Wasmuth erwähnt, dass der Vielfraß im 13. Jahrhundert, „vielleicht noch später“, in Deutschland vorgekommen sei, führt aber bedauerlicherweise keine Quellen an[27].
Nachdem also vorerst ein großer Sprung über Altertum und Mittelalter hinweg gemacht werden muss, liefert die Neuzeit wieder einige interessante Hinweise auf das historische Verbreitungsgebiet des Vielfraßes. Dessen Grenze, so ist festzustellen, verlief noch im 18. Jahrhundert deutlich weiter westlich und südlich, als dies heute der Fall ist.
Wie weit südlich der Vielfraß noch Ende des 18. Jahrhunderts vorkommen konnte, zeigt Heptner auf und führt für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als südlichsten Nachweis den Fall eines überwechselnden Vielfraßes bei Dawydow Brod (heute Davydiv Brid) am Fluss Ingulez (heute Inhulez) in der heutigen südukrainischen Oblast Cherson an[28]. Dies entspricht immerhin einer nördlichen Breite von 47° 15‘ und liegt somit etwa auf der Höhe von Budapest (!).
Weiter nördlich berichtet August Wilhelm Hupel (1737-1819) 1777, dass der Vielfraß, wenn auch selten, noch in den „dicksten“ Wäldern Livlands vorkomme, im westlich gelegenen Kurland und südwestlich gelegenen Polen jedoch häufiger sei[29].
Zwei Nachweise in Deutschland
In das 18. Jahrhundert fallen auch zwei viel diskutierte Nachweise aus dem deutschsprachigen Raum, die einige Aufmerksamkeit erregt haben und eventuell als Hinweis auf das damalige westliche Randgebiet des Vielfraßes anzusehen sind. Einer dieser beiden Vielfraße wurde 1715 bei Frauenstein im heutigen Landkreis Mittelsachsen erlegt, das andere Exemplar wurde vermutlich auch im 18. Jahrhundert, mit Sicherheit aber vor 1777 bei Helmstedt, etwa 36 Kilometer östlich von Braunschweig, erlegt.
Die erste Erwähnung des Frauensteiner Exemplars findet sich in der gedruckten Serie Kurtzgefaßter Kern Dresdnischer Merkwürdigkeiten des Jahres 1715, worin es heißt: „Aprilis – den 4ten hujus [1715] ward ein Vielfraß, so von einem Jäger bey Frauenstein geschossen worden, eingebracht, und auf die Kunstkammer geliefert“[30].
Das sächsische Exemplar
1748 greift der Frauensteiner Diakon Christian August Bahn (1703-1755) den Vorfall auf und stellt für die königlichen und kurfürstlichen Wälder, Büsche und Hölzer im Amte Frauenstein fest:
„Auf allen diesen oberwehnten Refieren und Waldungen befindet sich Roth-Rehe und Schwartz-Wildpret, und was zu einem hohen Haupt-Jagen, auch kleinen Jagen nöthig, wie denn auch zu unterschiedenen mahlen auf denen Haupt-Wäldern Wölffe, Luxe, und sonderlich 1718. ein ungewöhnliches Raub-Thier, ein Vielfraß, gefangen und eingeliefert worden“[31].
An späterer Stelle präzisiert er in den Annales für das Jahr 1715:
„den 2. April. [1715] erschoß der Förster zu Hennersdorff, Herr Kannegiesser, auf dem Töpffer-Wald, bey dem Königs-Brunnen ein unbekanntes Raub-Thier; Als es nach Hofe geschicket wurde, so wurde es erkannt, daß es ein Vielfraß wäre, dergleichen Moscau und Persien anzutreffen sind“[32].
Es fällt die in der ersten Erwähnung genannte falsche Jahreszahl 1718 und der in der zweiten Erwähnung abweichende Tag (2. statt 4. April) auf.
1755 ist dieses „nach Hofe“ geschickte Exemplar noch in der Königlichen Naturalienkammer zu Dresden zu besichtigen, in deren Führer es heißt: „Die Gefräßigkeit der zuletzt genannten Thiere [Großkatzen & Bären, Anm. NGC] leitet meine Gedanken nunmehro auf den Vielfraß, den wir auf zweyerley Art aufweisen können. Der eine, welcher bey Frauenstein, in Sachsen, gefangen worden, ist weißröthlich“[33].
Das Helmstedter Exemplar
1777 erwähnt erstmalig der Geograph und Zoologe Eberhard August Wilhelm von Zimmermann (1743-1815) das Helmstedter Exemplar in seinem Specimen zoologiae geographicae. In dem in Latein verfassten Werk heißt es (teilw. frei übersetzt):
„Hier, nicht weit von Helmstedt entfernt, ist ein vierfüßiges Tier von einer bleiernen Kugel getroffen worden, dessen einbalsamierter Kadaver im herzoglichen Naturalienkabinett zu Braunschweig aufbewahrt wird, welcher dem Abbild, das allein Klein[34] als das beste abgegeben hat, genau entspricht“[35]. Und an späterer Stelle: „Manchmal begibt er [der Vielfraß] sich bis nach Deutschland. In Sachsen soll nämlich einmal ein gewisser gefangen worden sein, bezeugt Klein; ein anderer, über den schon früher am Rande berichtet worden ist, ist auf dem Acker von Braunschweig nahe Helmstedt erschossen worden; diese sind dennoch Außenposten ihrer frühesten und äußersten Verweildauer in Europa. Er hält sich nämlich nicht im südlichen Deutschland auf, der Norden allein ist sein Geburtsort, wo er gewöhnlich zur Zahl der üblichen und wohlbekannten Lebewesen gerechnet wird“[36].
Der verdiente Naturforscher und Forstwissenschaftler Johann Matthäus Bechstein (1757-1822) führt 1789 den Frauensteiner Vielfraß in seiner Gemeinnützigen Naturgeschichte unter den Säugetieren Deutschlands auf und erwähnt: „Man hat ein solches bey Frauenstein in Sachsen, und ein anderes bey Helmstädt geschossen, welches letztere noch im dasigen Naturaliencabinette aufbewahrt wird“[37].
Der zweite Teil des Artikels erscheint am Dienstag, 6.10. an der selben Stelle.