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Hier steht der 2. Teil dieses Artikels

Der Vielfraß im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert soll nach Grinberg noch in den 1920er Jahren ein Überwechseln von Vielfraßen in die Gebiete Iwanowo (57° 00’ N, 40° 59‘ O) und Moskau (N 55° 45‘ N, 30° 37‘ O) beobachtet worden sein, was Heptner aber als „äußerst zweifelhaft“ ansieht und auf eingeführte Felle zurückführt[62]. Abelentsev führt für die Ukraine die letzten Nachweise aus den 1930er Jahren in den westukrainischen Regionen Podolie und Rovne an[63]. Um 1970, als die schwedischen, norwegischen und finnischen Bestände sehr zusammengeschrumpft waren und Schutzmaßnahmen erst begonnen wurden, reichte die südliche Grenze des ständigen Verbreitungsgebiets immer noch deutlich südlich des 60. Breitengrades[64], etwa auf der Höhe von Jaroslawl, Nowogrod und Jekaterinburg.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die sehr weit westlich gelegenen Vielfraß-Nachweise, die aus den 1960er und 70er Jahren aus Estland vorliegen[65].

Vielfraß
Der Vielfraß ist ein sehr kräftig gebauter Marder

Eher als Fußnote spielt der Vielfraß auch im Fall des sogenannten Würgers vom Lichtenmoor eine Rolle: Nachdem bereits im Februar 1948 Gerüchte von wildernden Hunden im südwestlichen Teil des Kreises Fallingbostel (heute Landkreis Heidekreis, Niedersachsen) umgehen und im Mai dieses Jahres erste Viehverluste bekannt werden, wird umfassende Jagd auf den „Würger“ gemacht. Am 27. August wird dann ein Wolfsrüde von dem Bauern Hermann Gaatz aus Eilte (heute zu Ahlden an der Aller) erlegt[66]. Zuvor wurde jedoch auch über ganz andere Raubtiere als Verursacher spekuliert. So kam ein Dr. F. G., nach Gaatz „ein Zoologe von Ruf“, zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Vielfraß handeln müsse[67].

 

Situation heute

Heutzutage sind europäische Vielfraß-Populationen nach weit verbreiteter Ansicht nur noch in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland zu finden, wo Landa, Lindén und Kojola zufolge rund 2025 bis 2035 Individuen leben (Stand 2000).

heutige Verbreitung des Vielfrass
Heutige Verbreitung des Vielfraß

Neuere Schätzungen für die Jahre 2010, 2011 und 2012 gehen allein für Norwegen, Schweden und Finnland von 1084 bis 1386 Individuen in zwei voneinander getrennten Populationen aus, was im Vergleich zu den 1950er bis 70er Jahren mehr als eine Verdoppelung bedeuten würde[68]. Trotz dieser deutlichen Zunahme des Vielfraßes in den vergangenen rund 35 Jahren, erstreckt sich das paläarktische Verbreitungsgebiet nach weit verbreiteter Meinung nur noch nördlich des 60. Breitengrades und ist mit dem des Rentiers sympatrisch[69].

Die Südgrenze verläuft nach Landa et al. etwa auf der Höhe von Wytegra am Südostufer des Onegasees, Konoscha in der Oblast Archangelsk und Weliki Ustjug in der Oblast Wologda (Abb. 4). Als Ausreißer müsste demnach ein Nachweis aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zählen, den Pulliainen als den südwestlichsten Randpunkt Kontinentaleuropas angibt und der bei Wolchow in der Oblast Leningrad, Russland, südlich des Ladogasees gelungen ist[70], womit der 60. Breitengrad unterschritten wurde (→ 59° 54‘ n. Br.).

 

Rentiere in Lappland
Die natürliche Verbreitung von Vielfraß und Rentier decken sich weitgehend. Was mag der Grund sein?

Ursachen der Regression

Gerade für die Gebiete des ehemaligen südlichen Verbreitungsgebiets stellt Heptner bedeutende Veränderungen fest. Neben der direkten Verdrängung und Ausrottung des Vielfraßes durch den Menschen (insbesondere in den osteuropäischen Ländern), sieht er vorwiegend im Einschlag und der Auflichtung der Wälder den Grund für sein Zurückweichen nach Norden[71]. Die Folge ist eine Regression von mehr als 1000 Kilometern im äußersten Westen seines Verbreitungsgebiets. Damit hat sich zwangsläufig auch das Spektrum der bewohnten Lebensräume reduziert. Während der Vielfraß heute hauptsächlich auf den Bereich der Tundra und Taiga-Nadelwälder beschränkt zu sein scheint, zählten in früheren Zeiten auch die breitblättrigen Eichen- und dunklen Nadelwälder Osteuropas zu seinem Lebensraum[72].

Hinzu kommt, dass der Vielfraß ein Kulturflüchter ist. Pulliainen stellt fest: „Die Art passt sich nicht an eine Kulturlandschaft an, was teilweise ein Grund für die Verkleinerung ihres Verbreitungsgebietes und für die Konzentration auf die Tundren ist“[73]. Das superexponentielle Bevölkerungswachstum seit Beginn des 19. Jahrhunderts infolge der Industrialisierung, sowie die damit einhergehenden landschaftlichen Veränderungen waren also auch für den Vielfraß mit hoher Wahrscheinlichkeit die wesentlichen Faktoren für sein Zurückweichen. Artenschutz, Biotopvernetzung, Bevölkerungsrückgang infolge von Land-Stadt-Migration sowie der Abbau von Migrationsbarrieren (wie z.B. Grenzbefestigungen) machen heutzutage aber Rückeroberungen ehemaliger Lebensräume wieder möglich und wahrscheinlich (vgl. die Ausbreitung des Wolfes in Europa).

 

Vielfraß im Zoo
Passt der Vielfraß wirklich nicht in eine Kulturlandschaft? Viele andere Marder haben die Anpassung schon geschafft.

Lebensweise und Nachweis

Trotz seiner sehr großen täglichen Wanderwege ist der Vielfraß nach Jürgenson kein nomadisches, „sondern ein absolut seßhaftes Tier“[74]. Auch Krott bezeichnet die von älteren Autoren, Jägern und Lappen geäußerte Ansicht, der Vielfraß sei ein „umherwandernder Zigeuner“, als unrichtig[75]. Der Braunschweiger Zoologe Johann Heinrich Blasius (1809-1870) stellte 1857 hingegen fest: „Er hält sich am Tage in Wäldern und Felsklüften verborgen, und schweift des Nachts, meist weit entfernt von menschlichen Wohnungen, weit umher auf Raub aus. Nur wenn er Junge hat, bindet er sich mehr an einen beschränkten Wohnsitz; den größten Theil des Jahres führt er eine unstete Lebensweise“[76].

Ebenso stellt auch Pulliainen fest, dass „beim Vielfraß […] in bezug auf die Ausnutzung des Raumes und der Ressourcen nicht von einem Revier gesprochen werden [kann]“[77].

 

Das der Vielfraß weite bis sehr weite Wege zurücklegen kann, daran bestehen kaum Zweifel. Heptner zitiert einen Fall, bei dem ein Vielfraß innerhalb von zwei Wochen 250 Kilometer im Bereich der Waldtundra und des Gebirges zurückgelegt hatte[78]. Krott, der die Territorialität des Vielfraßes nicht infrage stellt[79], führt die Jungvielfraße an, die kurz vor oder bei Erreichen ihrer Geschlechtsreife aus ihrem Heimatterritorium abwandern und dabei hunderte von Kilometern zurücklegen können[80]. Dies hat zur Folge, dass sie bisweilen auch in Gegenden angetroffen werden, „wo man sie niemals vermutet“[81].

 

Vielfraß
Der Vielfraß kann weite Wege zurücklegen, wieso nicht auch in Gegenden, wo man ihn sonst nicht kennt?

 

Weitere Verhaltenseigenschaften begünstigen zudem die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein Vielfraß außerhalb seines bekannten Verbreitungsgebiets wahrgenommen wird: Er meidet menschliche Siedlungen, ist hauptsächlich in der Dämmerung oder Dunkelheit aktiv und ist ein ausgesprochener Einzelgänger, so dass, wenn überhaupt, überwiegend nur einzelne Individuen angetroffen werden[82].

Das Fehlen des Vielfraßes, „einem nahezu allesfressenden Tier, dessen Umweltansprüche […] fast überall erfüllt erscheinen“, in Gegenden, wo man sein Vorkommen erwarten dürfte, ist somit nicht nur „sehr merkwürdig“[83], sondern vielleicht auch ein vermeintliches.

 

 

Fazit

259 Jahre nach seiner wissenschaftlichen Beschreibung ist der Vielfraß immer noch mit vielen Fragezeichen behaftet, obwohl er auch ein Tier der europäischen Fauna ist. Grund dafür ist zweifellos seine verborgene und menschenscheue Lebensweise, die Nachweise und systematische Beobachtungen in freier Wildbahn sehr erschwert. Mit entsprechender Vorsicht sind daher Aussagen über Faunistik und Naturgeschichte des Vielfraßes zu bewerten.

 

Vielfraß

 

In pleistozänen Zeiten war der Vielfraß über weite Teile Europas verbreitet, und es gibt Hinweise, dass er auch im Holozän ein Bestandteil der zentraleuropäischen Fauna war. Die Quellen des Altertums und des Mittelalters liefern nur sehr wenige konkrete Hinweise auf seine Verbreitung. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ist eine rasche Regression von über 1000 Kilometer nach Osten und Norden festzustellen, was ein zentraleuropäisches Vorkommen in den Jahrhunderten zuvor durchaus wahrscheinlich sein lässt. Zahlreiche Einzelnachweise in den Randgebieten des jeweils aktuellen, anerkannten Verbreitungsgebiets sowie weiter davon entfernte Nachweise sind vor dem Hintergrund der Lebensweise, insbesondere Reviergröße und sporadische Wanderung, stets mit Wildtieren erklärbar.

Ein Vergleich mit der Situation auf dem nordamerikanischen Kontinent unterstreicht die extreme Flexibilität und Vagilität des Vielfraßes bei der Besiedelung unterschiedlicher Lebensräume und Klimaregionen. Die verborgene und einzelgängerische Lebensweise, die Schwierigkeit eines Nachweises sowie die seit mehreren Jahrzehnten günstigeren Umweltbedingungen machen den Vielfraß für Zentraleuropa zu einem potentiellen Kryptozoon, dessen Auftreten jederzeit zu erwarten ist.


Dank

Ich danke Herrn Hans-Joachim Kriegler, Bonn, und Herrn Stefan Haufer, Bonn, für die Hilfe bei der Übersetzung des lateinischen Textes aus Zimmermann 1777.


Download: Literaturverzeichnis für Vielfrass in Mitteleuropa

 

Von Natale Guido Cincinnati

Kryptozoologie ist romantische Naturkunde. Die „Jagd“ nach den devianten Geheimnissen der Tierwelt führt in den Fragen herausfordernden Schattenbereich unserer Welt. Und diese beginnt gleich vor unserer eigenen Haustür. Natale G. Cincinnati befindet sich auf dieser „Pirsch“ seit seiner Jugendzeit. Seine Besessenheit führte ihn dabei durch eine Ausbildung zum staatl. gepr. Biologisch-technischen Assistenten sowie ein Studium der Kulturanthropologie/Volkskunde, Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie und Geologie/Paläontologie in Bonn und Köln; Zu seinen Schwerpunkten in der Kryptozoologie zählen die Weiterentwicklung kryptozoologischer Methoden und Feldforschung, die Kryptozoologie im deutschsprachigen Raum sowie Kryptozoologie in der Schnittmenge von Natur- und Kulturwissenschaft; die Ergebnisse seiner geistigen Eskapaden schlagen sich in Veröffentlichungen, Vorträgen und Projekten im weiten Feld der Anomalistik nieder, immer mit einem Schwerpunkt auf forteanische Zoologie; ganz grundständig ist er tätig als Internatspädagoge an einem Bonner Internat. Natale G. Cincinnati ist wohnhaft in Pulheim, am südlichen Rand des Niederrheins. Kontakt: Sichtungen@netzwerk-kryptozoologie.de