Lesedauer: etwa 9 Minuten

In ihrem Buch „Phenomena“ (verlegt bei Rough Guide, eine frühere Version erschien auf Deutsch bei Econ als „Das rechnende Pferd von Elberfeld“) beschreiben Bob Rickard und John Michell die traditionell überlieferte Methode, mit der Ratten Eier stehlen: Eine Ratte legt sich auf den Rücken und umklammert das Ei, die andere Ratte zieht sie wie einen Schlitten oder eine Karre am Schwanz hinter sich her. Man kann sich leicht vorstellen, dass das der gezogenen Ratte sehr wehtun muss, aber es gibt tatsächlich einige Augenzeugenberichte (und schöne alte Stiche), die diesen Eierdiebstahl illustrieren.

 

Wanderratte
Die Wanderratte ist ein weltweiter Kulturfolger

 

Rickard und Michell führen natürlich vor allem britische Berichte an, deshalb stellte ich mir die Frage: Gibt es auch deutsche Zeugen, die so etwas gesehen haben wollten? Leider stieß ich nur auf allgemeine Abhandlungen, dafür aber auf eine weitere einfallsreiche Methode des Eiertransports sowie eine Methode, mit der Ratten süßen Saft stehlen sollen. Sind all das bloße Märchen oder ist etwas dran? Früher waren Ratten selbst in wohlhabenderen Häusern ein vertrauterer Anblick als heute, die Menschen hatten mehr Kontakt mit ihnen.

 

Der erste, allgemeine Bericht stand in der „Westfälische Zeitung“ aus Bielefeld und stammt vom Samstag, dem 6. Januar 1940, Seite 13:

 

 

Tiere, die Schlitten fahren

Wenn die Ratten Eier stehlen…

Wenn sich unsere Jungen und Mädel mit ihren Schlitten tummeln wollen, dann ist die Voraussetzung dazu ein guter, nicht zu feuchter Schnee. Daß man aber auch ohne Schnee das Prinzip des Schlittens anwenden kann, ist bekannt, das zeigen uns auch einzelne Tiere, von denen Sachverständige allen Ernstes behaupten, daß sie sich von ihren Artgenossen als Schlitten zum Transport bestimmter Lasten benutzen lassen.

 

Zu diesen Tieren sollen vor allem die Ratten gehören. Und zwar fahren die Ratten Schlitten, wenn sie – Eier stehlen! Ratten fressen bekanntlich Hühnereier sehr gerne, verzehren sie jedoch nicht an Ort und Stelle, sondern schleppen sie, soviel sie davon nur erreichen können, in ihr Nest. Da sich nun das Hühnerei wegen seiner Form nicht geradeaus rollen läßt, ist der Abtransport nicht so einfach, wie man es annehmen sollte. Die Ratten sind gezwungen, das gestohlene Ei zu tragen. Wie aber tun sie das? Einzelne Beobachter wollen gesehen haben, daß die Ratte das Ei mit der einen Vorderpfote hochhebt, fest an die Brust preßt und dann auf drei Beinen zurück ins Nest humpelt. An diesem Transportverfahren wäre nichts sonderlich Beachtliches.

Doch die Mehrzahl der Beobachter erklärt, in Wirklichkeit werde das Ei von den Ratten auf ganz andere Weise ins Nest gebracht. Es gehen mehrere Ratten auf den Eierraub aus, zumeist aber ein Pärchen. Von diesem Pärchen hockt sich das Weibchen über das fortzuschaffende Hühnerei und umfaßt es fest mit allen vier Beinen. Von dem Männchen wird darauf das Weibchen auf den Rücken gewälzt, so daß es nunmehr das Ei über sich auf dem Bauch hält. Jetzt ergreift das Männchen den Schanz des Weibchens vorsichtig mit den Zähnen und zieht nun seine Gemahlin wie einen Schlitten hinter sich her ins Nest. Alles geht so schnell vor sich, als seien die Rollen bei diesem Eierdiebstahl vorher genau einstudiert worden.

Holzstich zwei Ratten
Holzstich, gezeichnet von Gustave Doré nach der Fabel „Die zwei Ratten, der Fuchs und das Ei“, gezeichnet 1868

Doch wenn auch schon die Naturwissenschaftler des Altertums diesen „lebenden Schlitten“ der Ratten und anderer Tiere eingehend beschrieben haben und wenn sich auch die Fabeldichtung dieses Themas wiederholt angenommen hat, so ist es doch bis heute noch nicht endgültig erwiesen, ob die Ratten dies Transportverfahren tatsächlich anwenden. Man erkennt an diesem Beispiel wieder einmal, daß die Lebensgewohnheiten selbst so verbreiteter Tiere wie der Ratten noch nicht endgültig erforscht sind.

 

Ein ähnliches Verfahren sollen die Biber beim Abtransport von Holzlasten anwenden. Diese Tiere wälzen, nach den Beobachtungen verschiedener Forscher, einen älteren, nicht mehr voll arbeitsfähigen Artgenossen auf den Rücken und beladen ihn mit Holz, soviel das Lasttier, das zum Halten der Ladung auch noch seinen kräftigen Schwanz benutzt, nur tragen kann. Danach ziehen sie das Tier mit vereinten Kräften wie einen Schlitten über den Erdboden zum Wasser, wo dann das Holz schwimmend weiter transportiert wird.

 

Der Dachs soll den „lebenden Schlitten“ beim Graben der Gänge seines Baues anwenden, und zwar zum Abtransport der Erdmassen. Auch bei ihm ist es das Weibchen, das sich zu dieser, sicherlich nicht sehr angenehmen Prozedur hergeben muß. Es legt sich auf den Rücken und breitet seine Beine so aus, daß eine bedeutende Menge Erde auf Bauch und Brust von dem Männchen aufgeschichtet werden kann. Ist der „Schlitten“ voll beladen, dann packt das Dachsmännchen das Weibchen und schleift es durch die Gänge des Baues hinaus an die Erdoberfläche, wo die Entladung sehr einfach in der Weise bewerkstelligt wird, daß die Dachsfrau aufspringt und sich kräftig schüttelt.

 

Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch das Murmeltier zu nennen, dessen Weibchen im Sommer beim Einbringen der Heuernte als „lebender Schlitten“ dienen soll. Aber auch bei ihm ist dies Transportverfahren, so oft es auch beobachtet worden sein soll, noch nicht einwandfrei und endgültig erwiesen. H. J. Fr

 

Kürzer macht es das „Illustrierte Tageblatt“ aus dem sächsische Stolle-Verlag am Samstag, den 2. April 1938 auf Seite 12:

 

Ratten stehlen Hühnereier.

Es ist bekannt, daß Ratten oft Hühnereier stehlen und manchmal auf ziemlich weite Entfernungen wegschleppen, bevor sie sie aufbrechen und trinken. Wie die Beförderung solcher gestohlener Eier vor sich geht, wurde schon im Jahre 1291 von einem altpersischen Schreiber berichtet. Hiernach haben die Ratten ein eigenartiges Verfahren, ein Ei wegzuschleppen. Eine Ratte legt sich auf den Rücken und hält das Ei mit Armen und Beinen auf ihrem Bauche, während die andere Ratte sie am Schwanz packt und zum Loch hinzieht.

 

Ratte in einer Speisekammer
Eine Ratte ruht in einer Speisekammer. Wird sie so entdeckt, steht Ärger ins Haus.

Von drei anderen Intelligenzleistungen der Ratten erzählt ein Zeitungsbericht von 1904, offenbar nach amerikanischen Quellen. Ratten reichen sich Eier weiter – als Kette und über eine Treppe – und entkorken Flaschen, um an Nahrung zu kommen. Ich entnehme ihn der „Rheinischen Volksstimme“ vom Freitag, den 5. August 1904, Seite 2:

 

Die Schlauheit der Ratten.

Von Henry Coupin

Autorisierte Uebersetzung von Wilhelm Thal. (Nachdruck verboten.)

 

Der Kampf ums Dasein hat die Ratten äußerst pfiffig gemacht, und sie benutzen ihren ganzen Geist – wenn man so sagen darf – um ihrem Feinde, dem Menschen, zu entfliehen und ihm einen Teil seines Eigentums zu stehlen. Wenn man sich bemühen wollte, hierüber Beobachtungen anzustellen, würde man gewiß eine Fülle von Dokumenten und Tatsachen zu Tage fördern. Schon jetzt sind die Anekdoten, die man von der Schlauheit der Ratten zu erzählen weiß, recht interessant So erzählt Rodwell, wie die Ratten eine ziemlich große Anzahl von Eiern in einem Hause von oben nach unten brachten, in dem sich zwei auf jedes Ei stellten und es sich auf jeder Treppenstufe langsam herunterreichten.

 

Nach Mistreß Lee können die Ratten auch das Gegenteil bewerkstelligen, nämlich Eier auf eine Treppe hinaufbringen. Zu diesem Zweck richtet sich das Männchen auf seinen Vorderpfoten mit dem Kopf nach unten und stößt das Ei, das es zwischen den Hinterbeinen hält, zu dem Weibchen. Diese fängt es auf der folgenden Stufe auf und hält es mit seinen Vorderpfoten, während ihr Gefährte sich zu ihr gesellt. Dieses Verfahren wird von Stufe zu Stufe fortgesetzt, bis die Tiere den oberen Treppenabsatz erreicht haben.

 

Jesse erzählt, daß ein ihm bekannter Kapitän eines Kauffahrteischiffes, das im Hafen von Boston lag, die Beobachtung machte, daß ihm fortwährend Eier abhanden kamen. Er hatte seine Mannschaft im Verdacht, wußte aber nicht recht, wen er anklagen sollte, und beschloß, auf die Vorratskammer ganz genau acht zu geben. Als er neue Eiervorräte eingekauft, ließ er sich in der Nacht in der Nähe der Vorratskammer nieder, so daß er den Raum genau übersehen konnte. Wie groß aber war seine Verwunderung, als er eine Schar von Ratten erscheinen sah, die zwischen dem Eierkorb und ihrem Loch eine Kette bildeten und sich die Eier mit ihren Vorderpfoten zureichten.

 

Ratte
Eine Ratte am Wasser

 

Derselbe Beobachter erzählt, daß man eine offene Kiste mit Flaschen Provenceoel in einen Raum gestellt hatte, den nur selten jemand betrat. Eines Tages, als der Besitzer sich eine Flasche holte, bemerkte er, daß Stücke Baumwolle und Werg, die als Korken gedient, verschwunden waren, und daß das Oel sich in den Flaschen stark verringert hatte. Da er der Sache auf den Grund kommen wollte, so füllte er von neuem einige Flaschen und verkorkte sie wieder sorgfältig wie das erste Mal. Am nächsten Morgen waren die Korken verschwunden und ebenfalls auch ein Teil des Oels. Nun beobachtete er durch eine Luke, sah Ratten in den Keller schleichen, die in die Kiste kletterten, ihre Schwänze in den Flaschenhals steckten und sie herauszogen und die daran klebenden Oeltropfen ableckten.

 

Rodwell erzählt einen ähnlichen Fall, nur mit dem Unterschiede, daß jede Ratte den Schwanz ihres Nachbarn ableckte, anstatt ihren eigenen.

 

Romanes wollte aus eigener Erfahrung sich überzeugen, ob diese merkwürdigen Fälle echt wären. Er verschaffte sich zwei Flaschen mit ziemlich engem und kurzem Hals, füllte diese mit halbflüssigem Himbeergelee, etwa 3 Zoll vom Rand, verstopfte die Flaschen mit einem Stück Werg und stellte sie in einen Keller, der von Ratten heimgesucht wurde. Am nächsten Morgen war jeder Korken mit einem kleinen Loch im Mittelpunkte versehen, und ein Teil des Gelees war verschwunden. Da nun die Entfernungen der Oberfläche des Gelees bis zum Flaschenrande ungefähr mit der Länge eines Rattenschwanzes übereinstimmte, und die Löcher überhaupt nicht größer als dieses Glied waren, so war der ziemlich deutliche Beweis geführt, daß die Ratten sich das Gelee verschafft hatten, indem sie ihren Schwanz hineinsteckten und nachher ableckten.Um der Sache aber noch klarer auf den Grund zu kommen, füllte Romanes die Flaschen von Neuem, erhöhte das Niveau des Gelees um einen halben Zoll und bedeckte die Oberfläche mit einem runden, feuchten Stück Papier. Dann verstopfte er den Hals mit Wergstücken wie vorher und legte die Flaschen an einen Ort, wo weder Ratten noch Mäuse waren. Als er in einer der Flaschen an der Oberfläche des Papiers, das das Gelee bedeckte, eine dichte Schimmelschicht bemerkte, legte er die Flasche wieder in die Nähe der Ratten und konnte am nächsten Tage beobachten, das das Werg am Halse abgenagt war, und daß die Schimmelschicht zahlreiche von Rattenschwänzen stammende Eindrücke trug. Offenbar hatten sie in runden Stück Papier ein Loch hergestellt und ihre Schwänze hindurchgesteckt. Das alles deutet auf viel Schlauheit.


Dieser Artikel erschien zuerst am 22.09.2023 und jetzt erneut im Rahmen des Relaunches.

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.