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Die deutsche Nord- und Ostseeküste ist eigentlich nicht als Seeschlangenrevier bekannt, obwohl es in Dänemark und den Niederlanden durchaus zur Ungeheuersichtungen kam – und kommt. Einer der Gründe könnte einerseits sein, dass große Strecken der deutschen Nordsee Wattenmeerküsten sind, also flache Becken – andererseits sind die Sand- und Dünenstrände der ostfriesischen Inseln genau das Habitat, das die Seeschlange in den Niederlanden besucht (u. a. in Zandfoord und Katwijk).

 

Kein Seeungeheuer in Sicht: Sonnenuntergang im Watt bei Cuxhaven
Kein Seeungeheuer in Sicht. Friedlicher Sonnenuntergang im Watt bei Cuxhaven

 

Einmal kurz, in den 1930er Jahren, als das Ungeheuer von Loch Ness fast täglich in den Zeitungen spukte, da wurden auch an deutschen Stränden tote Seemonster entdeckt. Und in den Meldungen klingt bereits mit, dass das (tages)touristische Potenzial solcher Strandfunde durchaus gesehen wurde.

 

En Anfang machte im September 1935 das „Seeungeheuer von Berensch“. Am 23. September 1935 schrieb das „Jeversches Wochenblatt“ auf Seite 3:

 

„* Cuxhaven. Ein ‚Seeungeheuer‘ angetrieben.

Am Strand von Berensch, etwa zehn Kilometer von Cuxhaven entfernt, wurde ein ‚Seeungeheuer‘ angetrieben, das die Gemüter der Anwohner in helle Aufregung versetzte. Es ist etwa 7 Meter lang und mißt 1.50 Meter im Durchmesser. Das Geheimnisvolle an dem undefinierbaren Tier ist, daß es weder Kopf noch Schwanz hat. Es lebt wieder einmal das Märchen von ‚Loch Neß‘ auf; aber hier handelt es sich nicht etwa um einen Baumstamm, de von Zeit zu Zeit flüchtig auftaucht, um gleich darauf wieder zu verschwinden, sondern um den Rumpf eines Tieres aus Fleisch und Knochen.

Nach den Aussagen sachverständiger hat man es hier wahrscheinlich mit einem Walfisch zu tun, dem – wahrscheinlich durch Schiffsschrauben – Kopf und Schwanz vom Rumpf getrennt worden waren. Nach Bekanntwerden des seltenen Fundes setzte eine wahre Völkerwanderung nach der Strandungsstelle ein.“

 

 

 

Historische Walstrandung
Historische Strandung mehrerer Schnabelwale, 1925. Postkarte aus Santa Cruz, California

Ganz sicher ein Wal war der „Riesenfisch von St. Joostergroden“, den örtliche Wirte rasch zur Eigenwerbung nutzten. Am 21. August 1939 meldete das „Jeversches Wochenblatt“ in der ersten Spalte auf seiner Seite 3:

 

 

„Seltenes Strandgut in St. Joostergroden

Ein Riesenfisch von acht Meter Länge.

Am Sonnabend nachmittag [das war der 20. August 1939] trieb mit dem Hochwasser ein seltenes Tier an den Strand von St. Joostergroden. Es handelt sich hier um einen Fisch von 8 bis 9 Meter Länge und einem Gewicht von 700 bis 800 Kilogramm. Die Fischart hat man noch nicht einwandfrei festgestellt Der plumpe Körper und auch noch mehrere andere Anzeichen sprechen für eine Walart. Sehr eigentümlich ist jedoch der schnabelartige Mund. Vielleicht handelt es sich um den noch nicht ausgewachsenen Entenwal. Aber gerade durch die Eigenart des Schnabels kann man auch auf eine Störart kommen, jedoch fehlen bei diesem Fisch die Knochenplatten. So gehen also die Meinungen auseinander und eine endgültige Aufklärung ist noch nicht gegeben.

Dieser seltsame Fund an unsere [sic] Nordseeküste hat viele Besucher herangelockt. Am Sonntag waren sogar viele Autos und Motorräder aus Jever und Wilhelmshaven erschienen. Sehr interessant ist der Fisch für unsere Schulen, und die Lehrer sind auch bemüht, ihren Schulkindern diesen seltenen Fund zu zeigen. Solche großen Sehenswürdigkeiten treiben sehr wenig an den Strand.“

 

 

 

Am Folgetag kam noch eine Art Reiseerzählung des anonymen Berichterstatters „n.“ („Jeversches Wochenblatt“, 22. August 1939, S. 3):

 

„Ein enthülltes Nordmeergeheimnis

Schnabelwal am Hooksieler Strand.

Der heiße Sommertag, ein spätes, umso freudiger begrüßtes Vergnügen, verlockte viele zu einem erfrischenden Bade in der Jade oder im Wattenmeer. Auf dem Wege nach Horumersiel nahm man auch gleich die Gelegenheit wahr, sich den großen ‚Riesenfisch‘ anzusehen, der am Sonnabend nachmittag in St. Joostergroden an die Küste geschwemmt wurde. Wenn man von der Ulferschen Schmiede über den Deich steigt und quer über den Groden geht, hat man sehr bald den Punkt erreicht, wo das Tier liegt. Es muß schon ziemlich lange tot im Wasser gelegen haben, das spürt man bald auch daran, daß es viel von seiner ursprünglichen Gestalt verloren hat.

Mit seiner Länge von 7 bis 8 Meter und seinem offenstehenden Schnabel erinnert es an die großen Fabeltiere des Meeres, die Kupferstecher und Kartenzeichner des 17. Jahrhunderts, vor allem Merian, gern in ihre Kartenwerke und Seebilder übernahmen. Welche zoologische Geheimnisse mag das Meer auch jetzt noch für uns bergen. Ziemlich sicher ist, daß es sich um eine zwischen dem Tümmler bezw. Delphin und dem Walfisch stehende Gattung handelt.

 

 

Ziphius Olaus Magnus
Ein Schnabelwal auf der Weltkarte von Olaus Magnus. Er wird von einem nicht näher erkennbaren Seeungeheuer angegriffen

 

 

Für unsere Vermutung, daß wir es hier mit einem Schwertwal zu tun haben, fehlen allerdings einige Zeichen. Zwar die Länge stimmt genau; der Tümmler und Delphin erreichen nur zwei bis drei Meter. Aber von der Farbe des Schwertwales ist nicht mehr allzuviel [sic] zu erkennen. Der Schwertwal hat eine dunkle Oberseite und eine weiße Bauchseite. Die säbelförmige Rückenfinne, die dem ‚Fisch‘ seinen Namen gegeben hat, war gestern auch nicht zu erkennen, da er bei aufkommender Flut mit dem Rücken im Wasser lag.

Das Seeungeheuer ist kein Schwertwal

Der Schwertwal gehört den Nordmeeren an. Er schwärmt jedoch regelmäßig bis zu den Küsten Englands, Frankreichs und Deutschlands hinab. Auffallenderweise [sic] erscheint er nicht in den Winter-, sondern in den Sommermonaten in den südlicheren Gewässern, indem er im Mai anzukommen und im Spätherbst zu verschwinden pflegt. Die Schwertwale halten sich gewöhnlich sehr lange unter Wasser auf, verweilen ungefähr 5 Minuten an der Oberfläche und blasen drei bis zehn mal kurz und scharf einen dünnen und niedrigen Strahl aus dem über den Augen liegen den Atemloch, denn es sind, wie alle Wale und Tümmlerarten, nicht Fische, die durch Kiemen atmen, sondern Säugetiere mit Lungen wie wir sie besitzen.

Auch das Knochengerüst läßt deutlich das Säugetier erkennen. Die Schwertwale sind nicht nur die größten, sondern auch die raubsüchtigsten und gefräßigsten aller Delphine. In Rudeln stellen sie den großen Bartenwalen nach, die sich nicht wehren können, da sie kein bezahntes offenes Gebiß haben. Sie beißen sich in die Seiten der Walfische und reißen ihnen den Speck vom Leibe. An den Kiefern des angetriebenen Tieres, das in vielem an einen Tümmler erinnert, ist von Zähnen allerdings nichts zu erkennen. Der Körper ist länger und nicht walzenförmig wie beim Delphin. Im übrigen [sic] lassen sich zuverlässige Angaben über die Gestalt kaum mehr machen, da der Bauch, offenbar durch eine Schiffsschraube aufgeschlagen ist und das fette Vieh unter dem Werk der Verwesung sehr einschrumpft.

 

 

Entenwale
Zwei in Donegal (Irland) gestrandete Entenwale. Foto: Thomas & Louise Coleman

 

Leidvolle Erfahrungen

Man denkt an eine Exemplar, das Vor etlichen Jahren bei dem holländischen Dorfe Wyk op Zee strandete. Als man es zuerst sah, prangte es noch in eigentümlichem Farbenspiel. Der schwarze Glanz der Oberseite spielte noch in allen Farben des Regenbogens, und das Weiß glich an Glanz und Reinheit dem Porzellan. Aber schon nach wenigen Tagen war von dem Farbenschimmer nichts mehr zu sehen; die oberste Haut trennte sich nach und nach ab, und nach Verlauf einer Woche war das Tier durch die eingetretene Fäulnis völlig verstümmelt und entstellt. Dann wurde es versteigert. Es fanden sich viele Kauflustige und einer erstand es für die Summe von 140 Gulden.

Der gute Mann hatte sich verrechnet; denn er gewann bloß 40 Gulden aus dem Tran und nicht mehr aus dem Gerippe, welches dem Museum zu Leiden zur Zierde gereicht. Dieser Walkadaver hat ein Gewicht von etwa 20 Zentner. Es ist wohl anzunehmen, daß er noch irgendwo verwertet werden kann, daß [sic] müßte dann aber sehr bald gesehen [sic]. Mit dem Schwertwal wurde auch ein toter Seehund an Land getrieben.

 

 

Orca.Kadaver
Ein fortgeschritten verwester Orca-Kadaver an der Brandungslinie zwischen Steinen. Zähne, Schwanz und große Teile der Flipper fehlen. Foto: Ocean Sounds.

 

 

Nach näherer Besichtigung hatten wir zunächst die Nase voll und begaben uns über alte Deichstraßen, vorbei an friedlichen kleinen Häusern und Gärten nach Horumersiel, das die unerwarteten Freuden einer schönen Nachsaison genoß. Am Badestrand herrschte ein munteres Leben und Treiben. Die ‚Schöne Aussicht‘ des Herrn Tiarks bietet mit ihrer erweiterten Terrasse eine herrliche Gelegenheit, in Ruhe die spätsommerliche Sonne und Meeresluft auf sich einwirken zu lassen und den Weg der Dampfer und Marineschiffe in der Ferne gemächlich zu verfolgen. Mit einem Riesenappetit kehrten die Badenden ‚heimwärts‘ und erfüllten bald den Wintergarten des Hotels ‚Zur schönen Aussicht‘. n.“

 

Die vielen [sic] sind nicht besserwisserisch gemeint, sondern nur andeuten, dass die vielen Schreibfehler schon im Original zu finden waren und von mir nicht stillschweigend korrigiert worden sind.

Deutschland hat es also nach wie vor schwer mit Seeschlangen, aber zumindest hat man hierzulande die allgemeine Tendenz geteilt, jeden Strandfund gleich einem unbekannten Seeungeheuer zuzuschreiben.

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.