Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Berthold Brecht
Was vorher geschah:
eDNA: Professor Gemmel hält die Welt in Atem
eDNA-Analyse: Geheimnis um Nessie „gelüftet“
Professor Neil Gemmell hat mit der Ankündigung, in seinen eDNA-Proben aus Loch Ness sei etwas ungewöhnliches, einen großen Medienzirkus heraufbeschworen. Die Pressekonferenz letzte Woche in Drumnadrochit am Ort der meisten Nessie-Sichtungen war gut besucht, The Sun hat sie sogar live gestreamt.
„Nur“ Aal-DNA
Direkt zu Anfang hat Gemmell, der von der Universität in Otago auf der Südinsel Neuseelands kommt, einige Spekulationen ausgeschlossen. So hat er keine reptilische DNA im Loch gefunden, ebenso fehlte die DNA von Haien, Stören und Welsen. Auf der Pressekonferenz wies Gemmell mehrfach darauf hin, dass seine Arbeitsgruppe in jeder Probe Aale nachweisen konnte.
Kasten: eDNADie Methode der Lebensraumuntersuchung mit eDNA ist vergleichsweise jung. Jedes Lebewesen verliert permanent DNA-haltiges Material (wie man spätestens aus den CSI-Serien weiß). Diese DNA gelangt in die Umwelt und wird dort mehr oder weniger schnell abgebaut. Mittels moderner Methoden der Vervielfältigung (PCR) kann man sehr kleine DNA-Mengen finden und analysieren, so dass Wasserproben von einigen 100 ml ausreichen, um ein Lebewesen in einem Lebensraum nachzuweisen. Leider hat die Arbeitsgruppe bisher noch keine vollständige Liste der Vergleichssequenzen und der Treffer veröffentlicht. Die Daten der Pressekonferenz sind also als teilweise Vorveröffentlichung zu werten. „Wir fanden erhebliche Mengen menschlicher DNA und vieler Arten, die direkt mit uns zusammenleben, so wie Hunde, Schafe und Rinder“ beschreibt er seine Funde. „Außerdem fanden wir Wildtiere wie Hirsche, Dachse, Füchse, Hasen, Wühlmäuse und zahlreiche Vögel.“ |
Was tatsächlich Aufsehen erregte
Gemmell betonte auch bei der Pressekonferenz, dass er große Mengen Aal-DNA feststellen konnte. Er stellte sich selbst die Frage, ob sie von vielen kleinen Aalen oder von einem großen Aal stamme. Dabei passierte ihm offensichtlich eine Verwechslung von Meter und Fuß, als er sagte „Aale können 4 bis 6 Meter lang werden“. Diesen Fehler konnte er auf der Pressekonferenz nicht mehr korrigieren, jedoch auf einer später herausgegebenen Tafel. Hier wird der größte bekannte Europäische Aal mit 6 Fuß Länge gezeigt.
Diese Tafel ist in mehrfacher Hinsicht eindeutig: bei den von Gemmell festgestellten Aalen handelt es sich um Europäische Aale Anguilla anguilla und nicht um Meeraale wie Conger conger, die durchaus größer werden. Gleichzeitig gibt sie eine Maximallänge von 1,8 m (oder 6 Fuß) an. Das ist bereits sehr optimistisch.
Neil Gemmell kommt aus Neuseeland. Der dort vorkommende Neuseeländische Langflossenaal Anguilla dieffenbachii erreicht tatsächlich eine Länge von 1,8 m und etwa 15 kg. Könnte das der Grund einer Verwechslung sein?
Wie groß können Europäische Aale werden?
Dekker et al. untersuchten fast 100.000 Silberaale, also potenziell geschlechtsreife Tiere aus dem Ijsselmeer und fanden eine Maximallänge von 101 cm, bei einem Gewicht von 2137 g.
Fishbase liefert ähnliche Größen. Ein sehr großer Aal wurde 105,0 cm lang und stammte aus der Laguna Comacchio bei Ravenna in Italien. Weitere Tiere mit 112 cm und 135 cm stammen aus Frankreich und Italien. Angaben von 143 cm und 150 cm aus Irland werden als zweifelhaft erachtet.
Schottische Aale wurden ebenfalls intensiv untersucht, so in Loch Davan und Loch Kinord. Der größte in Loch Davan nachgewiesene Aal stammt aus einer Untersuchung von 1999 und maß 69 cm in der Gesamtlänge. Das größte Tier aus dem Loch Kinord wurde mit 71 cm nur unwesentlich größer (Carss et al.).
Die Einträge auf Sportfischerseiten zeigen etwas größere Tiere, die als Rekorde gelten. So werden bei fishing-worldrecords.com folgende Daten angegeben:
- 123 cm, 5,38 kg aus dem Steinhuder Meer im Jahr 1960, mit Bildbeleg.
- 7,00 kg ohne Länge aus dem Orlik Reservoir in der tschechischen Republik, 1987
- 8,25 kg ohne Länge aus dem Cuckmere River im Vereinigten Königreich in den 1920ern.
Größere Längenangaben stammen meist aus populären Werken oder Übersichtspostern und sind nicht durch nachgewiesene Untersuchungen belegt.
Was passiert, wenn…
Europäische Aale beginnen im Alter von 15 bis 20 Jahren, kurz vor der Geschlechtsreife in den Atlantik zu wandern. Dort schwimmen sie in großen Tiefen in die Sargassosee vor der Ostküste der USA, wo sie laichen und sterben. Was genau dort passiert, ist nicht im Detail erforscht. Auf dem Weg in die Sargassosee werden die Geschlechtsorgane stark vergrößert, insbesondere die Weibchen wandeln einen großen Teil der Muskelmasse, aber auch innerer Organe in Laich um.
Was passiert, wenn man die Tiere am Abwandern hindert? Wachsen sie unaufhörlich weiter und erreichen so deutlich mehr Gewicht und Länge als oben angegeben? Ist so ein Loch Ness-Aal entstanden?
Bisher gibt es keine Belege dafür, dass so etwas passiert. Aale werden seit dem Beginn der Zoo-Aquaristik in den 1880er Jahren in Aquarien gehalten. Sie halten sich in ausreichend großen und passend eingerichteten Behältern sehr gut und erreichen im Vergleich zu freilebenden Tieren ein biblisches Alter. Sie werden im Aquarium oft 40 Jahre und älter. Das älteste in einem Zoo belegte Exemplar wurde 88 Jahre alt. 2014 starb der mutmaßlich älteste Aal in einem Hausbrunnen in Schweden in einem angeblichen Alter von 155 Jahren. Bei keinem dieser Tiere wird eine ungewöhnliche Größe gemeldet.
Was wäre mit einer Mutation?
Die populären Vorstellungen zu Mutationen sind sehr divers und unterscheiden sich oft grundlegend vom tatsächlichen Ablauf. Hollywood hat hier je nach Mode verschiedene Gründe geschaffen, von „Weltraumstrahlung“ über Radioaktivität, Gifte (vor allem grüne) und nicht näher benannte Maschinen sind hier sehr beliebt. Meist wird ein Tier oder Mensch mehr oder weniger absichtlich und lange diesem ausgesetzt und hinterher kommt wahlweise ein Riese, Hulk, Spiderman, Tier-Mensch-Mischwesen oder sonst etwas heraus, das dann in der Geschichte wahlweise Probleme bereitet oder sie löst.
Doch die Biologie macht es etwas anders. Hier wird komplett auf Knall- und Raucheffekte verzichtet, auch grüner Schleim spielt nur sehr selten eine Rolle. Strahlung und mutagene Substanzen, beispielsweise Benzol sind die wichtigsten äußeren Faktoren.
In aller Regel gehen Mutationen „ins Leere“, sie wirken sich nicht auf den Organismus aus. Entweder kann eine Zelle die durch die Mutation entstandenen Schäden auffangen oder geht zugrunde und wird ersetzt. Weitere Folgen sind in extrem seltenen Fällen Tumore. Damit Mutationen für ein besonderes Größenwachstum sorgen, müssen ganz bestimmte Gene betroffen sein. Dies können Gene sein, die das Größenwachstum begrenzen, in dem sie die Freisetzung von Wachstumshormonen steuern.
Der größte, aktuell lebende Mensch ist vermutlich Sultan Kösen. Der Kurde misst 251 cm und wiegt 155 kg. Damit hat er einen ziemlich normalen Körperbau und ist „nur“ viel größer als die meisten anderen Menschen. Für Statistiker sehr praktisch: er ist 1,41 mal so groß, wie ein Durchschnittsmensch und wiegt ziemlich genau 2 x soviel.
Ein wenig Statistik
Wie bei Menschen gibt es auch bei Aalen mittelgroße Tiere, sehr große Tiere, sehr kleine Tiere und alles dazwischen. Je mehr man sich einem Mittelwert annähert, um so mehr Aale dieser Größe finden sich. Diese Verteilung hat Carl Friedrich Gauß als Normalverteilungskurve bezeichnet (siehe Bild). Sie besagt einiges, was auf den ersten Blick nicht sichtbar ist:
- Der Mittelwert ist ablesbar
- Die Standardabweichung σ (Sigma) beschreibt die Breite der Verteilung. Dabei gilt:
- 50% aller Messwerte haben eine Abweichung von höchstens 0,675 σ
- 90% aller Messwerte haben eine Abweichung von höchstens 1.645 σ
- 95% aller Messwerte haben eine Abweichung von höchstens 1,960 σ
- 99% aller Messwerte haben eine Abweichung von höchstens 2,576 σ
- 68,27% aller Messwerte weichen weniger als 1 σ vom Mittelwert ab oder
- „je 15,865 % der Messwerte sind größer als Mittelwert + σ bzw. kleiner als Mittelwert – σ“.
- 95,45% aller Messwerte weichen weniger als 2 σ vom Mittelwert ab oder
- „je 2,275 % der Messwerte sind größer als Mittelwert + 2σ bzw. kleiner als Mittelwert – 2σ“.
- 99,73% aller Messwerte weichen weniger als 3 σ vom Mittelwert ab oder
- „je 0,135 % der Messwerte sind größer als Mittelwert + 3σ bzw. kleiner als Mittelwert – 3σ“.
Je weiter ich mich vom Erwartungswert, dem „Mittelwert“ der Verteilung entferne, desto unwahrscheinlicher ist ein Wert.
Am Beispiel der Aale
Um das Beispiel mit der Körpergröße wieder aufzugreifen: Bei einer (realen) Stichprobe wurden die Gesamtlängen von 37 gefangenen Aalen gemessen. Die Ausgangswerte kann man hier nachlesen: Growth parameters for Anguilla anguilla. Ich habe die beiden größten und kleinsten Werte als Ausreißer nicht zugelassen und so 37 Längenangaben für europäische Aale in der Rechnung. Die Durchschnittslänge liegt bei 75,8 cm, die Standardabweichung bei 21,9 cm.
Daraus lässt sich erwarten, dass
- 68% eine Körperlänge im Bereich 75,8 cm ± 21,9 cm und
- 95% im Bereich 75,8 cm ± 43,8 cm haben und
- 99,7% im Bereich 75,8 cm ± 65,7 cm haben
- 0,15% größer als 141,5 cm sind, in dieser Stichprobe wären diese Gruppe nicht vertreten.
68 % von 37 Aalen sind 25 Tiere. Diese 25 Tiere müssten im Bereich zwischen 53,9 und 97,7 cm liegen. Tatsächlich liegen 23 Tiere in diesem Bereich.
95% von 37 Aalen sind 35 Tiere. Diese 35 Tiere müssten im Bereich zwischen 32 cm und 119,6 cm liegen. Tatsächlich liegen 36 Tiere in diesem Bereich.
Ein Aal von „nur“ 2 m Länge liegt bereits 5,67 Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt. Seine mathematische Wahrscheinlichkeit in dieser Stichprobe liegt bei etwa 1: 100.000.000. Und das nur, wenn biologische Gründe nicht dagegen stehen:
Der Korpulenzfaktor, zum Ausschluß des „Aal-Syndroms“
In vielen Berichten sind außergewöhnlich lange Fische für ihre Länge zu leicht. Eine Verdoppelung der Länge bedeutet nicht eine Verdoppelung des Gewichtes. Ich habe das am Beispiel des Dampflokmodells rechts dargestellt: Der Fisch wäre einfach nur in die Länge genudelt: aus einem Barsch wird ein Aal, das „Aal-Syndrom“.
Eine Verdoppelung der Länge unter Beibehaltung der Körperproportionen bedeutet, dass sich auch Körpertiefe und Körperhöhe verdoppeln, das Gewicht also in der dreifachen Potenz zunimmt. Um dieses zu überprüfen, liefert der Korpulenzfaktor (KoFa). Er berechnet sich aus Gewicht (g) x 100 / Länge (cm)³.
Der Rekordaal aus dem Steinhuder Meer von 1960 wog 5,38 kg bei 123 cm Länge. Hieraus ergibt sich ein Korpulenzfaktor von 0,289 oder etwa 0,290.
Ein 200 cm-Aal würde mit einem ähnlichen KoFa würde bereits 23 kg wiegen. Man beachte die oben genannten Rekordmaße von 7,00 kg und 8,25 kg. Das Tier wäre bereits fast dreimal so schwer, wie der bisher schwerste je gefangene Europäische Aal.
Ein von Gemmell postulierter Aal mit 4 m Länge hätte bei dem gleichen KoFa ein Gewicht von satten 185 kg. Wie soll ein Tier, dessen ganzer Körperbau auf etwa 2 bis 4 kg ausgelegt ist, ein solches Vielfaches dieses Gewichtes überhaupt anfressen, erhalten und dann auch noch (schnell) bewegen?
Was Gemmell nicht gefunden hat: den Riesenaal!
Die Arbeitsgruppe um Neil Gemmell hat keinen Riesenaal gefunden. Sie haben viel Aal-DNA gefunden. Die DNA-Proben geben keinen Hinweis auf die Größe der Aale, das hat er selbst in der Pressekonferenz betont. Dennoch ließ sich der Professor auf Spekulationen über einen Riesenaal ein. Bereits die von ihm angegebenen „normalen“ Maße sind für europäische Aale jenseits des Erreichbaren. Dass sein „um 50% größerer“ Aal jetzt auf einmal doppelt so lang ist, also achtmal so schwer ist, scheint nicht aufzufallen. Leider kennen sich Genetiker oft in der Zoologie ihrer eigenen Untersuchungsobjekte nicht wirklich aus.
So hat Prof. Gemmell Spekulationen über einen Riesenaal Tür und Tor geöffnet. Alle möglichen Phantasten springen jetzt in diese Lücke und spekulieren bereits über „verborgene Populationen“ von Riesenaalen im Loch Ness.
Wieso so viel Aal-DNA?
Jeder Fischer und jeder Aquarianer, der schon einmal einen Aal hielt, weiß, dass die Tiere große Mengen Schleim produzieren. Dieser Schleim dient dazu, die Haut des Aales zu schützen, sowohl mechanisch wie mikrobiologisch. Der zähe Schleim verhindert auf der einen Seite, dass der Aal mit der Haut gegen harte Gegenstände gedrückt wird und verhindert so mechanische Verletzungen. Mikrobiologisch wirkt er doppelt. Zum einen enthält er vermutlich Substanzen, die Mikroorganismen am Wachsen hindern, zum anderen bildet die Haut ständig neuen Schleim, der in der Schleimschicht nach aussen wandert und dann abgeworfen wird – mit eventuell enthaltenen Mikroorganismen.
Der Schleim selbst enthält natürlich auch Aal-DNA, die damit im Loch weit verbreitet ist und gegenüber der DNA gleichschwerer, gleichhäufiger anderer Fische vermutlich zigfach überrepräsentiert in den Proben auftaucht.
Leseempfehlungen
18. Juni 2019: eDNA-Analyse findet „etwas ungewöhnliches“ in Loch Ness – Professor Gemmell hält die Welt in Atem
05. September 2019: eDNA-Analyse: Geheimnis um Nessie „gelüftet“
Wie das Ungeheuer von Loch Ness entstand
Literatur
Sci News: Scientists Find Significant Amount of Eel DNA in Loch Ness
Carss, et al. (2005): Spatial and temporal trends in unexploited yellow eel stocks in two shallow lakes and associated streams. J. Fish Biol. 55(3):636-654.
Dekker, et al. (2008): Minimal and maximal size of eel. Bull. Fr. Pêche Piscic. Number 349: 195-197.
Fishing World Records: Website Anguilla anguilla
ORF.at: Mutmaßlich ältester Aal der Welt verendet