Lesedauer: etwa 10 Minuten

Weiße Haie (Carcharodon charcharias) gehören zu den faszinierendsten Tieren auf diesem Planeten. Hierzu gehört nicht nur die schiere Größe und das Wissen, dass es sich hierbei um einen Apex-Predator handelt, der ohne Probleme einen Menschen im Vorbeischwimmen „mitnehmen“ könnte. Insbesondere große Exemplare wirken wie kampferprobte Veteranen, die mit Wunden und Narben übersäht sind.

 

Weißer Hai
Der Weiße Hai ist ein beeindruckendes Tier

 

Unbekannte Weiße Haie – jede Antwort wirft neue Fragen auf

Über das Leben der Weißen Haie ist kaum etwas bekannt. Natürlich kennt man die großen, geschlechtsreifen Tiere, die vor Kalifornien, Australien und Südafrika nicht nur Robben jagen, sondern gelegentlich auch für unschöne Schlagzeilen sorgen. Die Wissenschaftler kennen nicht wenige Tiere individuell, verfolgen ihr Jagdverhalten, beobachten subtile Drohgesten bei Begegnungen der Haie untereinander.

Seit es kostengünstige und leistungsfähige Tracker gibt, verfolgen Forscher die Wanderung Weißer Haie per Satellit. Dabei stellten sie fest, dass die Tiere vor allem an der Atlantikküste der USA und Kanada weitaus weiter in den Norden wandern, als sie bisher erwartet hatten. Selbst New York galt als „nördlich“, heute weiß man, dass die Tiere der Küste im Sommer bis Nova Scotia, teilweise sogar bis Neufundland folgen.

 

Das „White Shark Café“

Im Pazifik gibt es, mitten im Nirgendwo eine Gegend, wo sich zahlreiche große Weiße Haie vor allem im Winter und Frühjahr aufhalten. Das „White Shark Café“ misst etwa 250 km im Durchmesser und liegt zwischen Südkalifornien und Hawaii. Wieso die Haie sie besuchen, war lange unklar. Hierzu nehmen sie eine lange Anreise, vor allem von der US-amerikanischen Pazifikküste auf sich, die bis zu 100 Tage dauern kann. Was sie dort machen, war lange Zeit Objekt von Spekulationen. Vermutungen gingen von „besonders angenehme Wasserbedingungen“ bis „dort paaren sie sich“.

Letzteres wurde durch die gleichsame Anwesenheit von Männchen und Weibchen unterstützt. Hinzu kommt ein seltsames Verhalten, das die Tiere dort zeigen. Sie cruisen normalerweise eher langsam mit etwa 1 m/s durchs Wasser, tauchen aber teilweise alle 10 Minuten auf etwa 450 m Tiefe ab und wieder zurück bis auf wenige Meter unter die Wasseroberfläche. Dies wurde als Partnerwerbung gedeutet.

Lage des White Shark Cafe, des Cafés der Weißen Haie
Die Lage des „White Shark Café“ im Pazifischen Ozean, zwischen Kalifornien und Hawaii (Quelle: Obtund, Wikimedia)

Heute ist eine weitgehend akzeptierte Mehrheitsmeinung, dass die Haie in diese Gegend tatsächlich wie ein Café nutzen. Es wird gelegentlich zu sexuellen Kontakten kommen, aber dies scheint nicht die Hauptfunktion zu sein. Im Tiefwasser gibt es eine artenreiche Fauna, die den Haien möglicherweise als Nahrung dient, daher auch die regelmäßigen Tieftauchgänge. Üblicherweise verlassen die Haie das „White Shark Café“ so, dass sie etwa zeitgleich im Herbst mit den Nördlichen Seeelefanten (eine wichtige Beute) an den Küsten ankommen.

Unklar, aber möglich ist, ob die Seeelefanten ebenfalls die Gegend des „White Shark Cafés“ zur Jagd nutzen. Sie sind ausdauernde Hochseeschwimmer und die 450 m Tauchtiefe, die man bei Weißen Haien in der Region nachgewiesen hat, erreichen sie problemlos.

 

Wo paaren sie sich und wo bekommen sie ihre Jungen?

Doch nichts ist beim Weißen Hai so rätselhaft, wie die Fortpflanzung. Theoretisch weiß man, wie es „laufen müsste“. Wie alle Haie verfügen auch Weiße Haie über eine innere Befruchtung. Männchen verfügen hierzu über paarige Klasper, umgewandelte Bauchflossen. Einer davon (abhängig, von welcher Seite die Paarung erfolgt) wird dazu in die Kloake des Weibchens eingeführt, so dass Sperma durch einen Kanal in den Eileiter fließen kann.

Soweit die Theorie. In der Praxis bieten sich hier mehrere Schwierigkeiten, vor allem im Freiwasser. Können sich bodennah lebende Haie noch am Boden oder anderen Strukturen abstützen, so haben Freiwasserhaie wie Weiße Haie diese Möglichkeit nicht. Versucht ein Männchen, in das Weibchen einzudringen, drückt es dieses gleichzeitig von sich weg. Die einzige Möglichkeit, dies zu vermeiden ist, das Weibchen festzuhalten. Doch womit?

 

Weißer Hai
Ein Weißer Hai zeigt beim Sprung seine Klasper

 

Die Lösung wirkt martialisch und ist für das Weibchen sicherlich nicht angenehm: Das Männchen verbeißt sich in oder an der Brustflosse des Weibchens. Bei einigen Haiarten wird berichtet, dass die Haut des Weibchens in diesem Bereich besonders dick sein soll. Die wenigsten Haie, vermutlich auch der Weiße Hai, können in diesem Zustand ihre Position in der Wassersäule halten. Viele Haie benötigen dynamischen Auftrieb durch Körperform, Brustflossen und Schwimmbewegungen, hierfür müssen sie sich im Wasser bewegen. Tun sie das nicht, sinken sie ab.
Dies dürfte im mehrere tausend Meter tiefen offenen Pazifik kein Problem sein, zumal sie auch nicht wie ein Stein sinken. Erreichen sie so etwa 450 m?

 

Fortpflanzungsbiologie der Weißen Haie

Weiße Haie werden erst sehr spät geschlechtsreif, Männchen mit etwa 26 Jahren, Weibchen sogar erst mit 33 Jahren. Geschlechtsreife Weibchen weisen tatsächlich gelegentlich die zu erwartenden Bissmarken an einer Brustflosse auf. Die Tragzeit ist unbekannt, man geht von einem Jahr oder mehr aus. Üblicherweise kommen 2 bis 14 Jungtiere zur Welt, die bereits sehr früh im Mutterleib ihre Eihülle verlassen und ohne direkten Kontakt zur Mutter im Uterus leben. Dort werden sie von der Mutter mit Nähreiern versorgt, die die Jungtiere fressen. Ob es wie bei einigen Haiarten auch zu Kannibalismus im Mutterleib kommt, ist nicht bekannt. Zudem produziert die Mutter eine Art „Uterusmilch“, die die Embryonen ebenfalls aufnehmen.

 

Jungtiere?

Tatsächlich wurden genau in solchen Gewässern Jungtiere beobachtet und gefangen. Die kleinsten haben eine Gesamtlänge von 1 bis 1,6 m und offenbar zunächst ein Gewicht von 26 bis 32 kg. Davon verlieren sie etwa die Hälfte, während sie das Jagen lernen.

Neugeborene zeichnen sich durch gerundete Flossenspitzen aus. Mehrere Autoren schlagen vor, dass die Geburt der Jungen im Spätsommer und Frühherbst zwischen Santa Barbara und der Baja California stattfindet. Bisher gibt es zahlreiche Hinweise darauf, bewiesen ist es nicht.

 

Was ist neu?

In einem gestern publizierten Artikel berichten Carlos Gauna und Phillip C. Sternes (ja, den hatten wir letzte Woche beim Megalodon-Artikel schon) von einer Beobachtung eines Weißen Hais, der extrem jung erscheint. Die Filmaufnahmen sind nur wenige Sekunden lang und wurden von einer Drohne erzeugt.

Der Hai scheint einen abblätternden, weißen Belag auf der Haut zu tragen. Die Autoren interpretieren das auf zwei mögliche Weisen:

 

  • Es handelt sich um einen neugeborenen Hai, der noch von intrauterinen Substanzen bedeckt ist.
  • Der Hai hat eine unbekannte Hautveränderung, die durch Kratzen, Ausfluss oder mikrobiellen Bewuchs der oberen Hautschicht auffällt.

 

 

Die Aufnahmen entstanden am 9. Juli 2023, etwa 0,4 km vor der Küste im Gold von Carpinteria, Kalifornien, USA. Bei näherer Betrachtung des Videos fiel den Autoren die ungewöhnlich helle Farbe des Fisches auf, die den Hai wie eine dünne Schicht zu bedecken scheint. Während des Schwimmens löste sich diese Schicht langsam ab.
Die Analyse des Videos lässt eine Größenschätzung des Tieres von 1,5 (+- 0,2) m Gesamtlänge zu.

An beiden Tagen vor der Aufnahme hielten sich große, vermutlich geschlechtsreife Haie in der Gegend auf.

 

Schlussfolgerung der Autoren

  1. Der beobachtete, sehr helle Hai ist mit seiner Größe von 1,5 m im Rahmen neugeborener Weißhaie. Seine allgemeine Erscheinung liegt zwischen kurz vor der Geburt stehenden Embryonen und dem kleinsten bisher bekannten freischwimmenden Weißen Hai.
  2. Er wurde in einer Gegend gefilmt, in der Geburten für möglich, ja wahrscheinlich gehalten werden.
  3. Adulte, geschlechtsreife Weiße Haie wurden an den vorhergehenden Tagen sowohl von den Autoren, wie auch von anderen Forschern in der Gegend beobachtet.
  4. Große, geschlechtsreife Weibchen kommen regelmäßig in die Gegend.

Die Autoren schließen daraus, dass es sich bei dem beobachteten, blassen Hai um ein Neugeborenes handelt, das nur wenige Stunden bis einzelne Tage alt ist. Die weiße Schicht interpretieren sie als Rest einer Substanz, mit der der Hai im Uterus bedeckt war. Welchen Ursprung sie genau hat, bleibt offen.

 

Die Gegenhypothese, es handele sich um eine Farbabweichung oder Hautveränderung lehnen die Autoren ab.

 

Weißer Hai
Ein weißer Hai gegen die Wasseroberfläche. Wie weit verändern sich die Körperproportionen mit der Individualentwicklung? Uns fehlen Fotos, um Hinweise für oder gegen die Thesen der Arbeitsgruppen zu gewinnen. Foto: Elias Levy, CC-BY-SA 2.0

 

Die Autoren nutzen die Gelegenheit, einmal mehr zu erklären, wie wichtig die südkalifornische Küste für die Weißen Haie des Pazifiks ist. Trotz eines strengen Schutzes würden noch gelegentlich und unabsichtlich Tiere gefangen, die teilweise in der Folge zu Tode kommen. Sie rufen zu einem stärkeren Schutz der Tiere, nicht nur in den USA, sondern auch an der kalifornischen Halbinsel (Baja California) auf.

 

Und nun: Das Video

 

 

Meine Meinung:

Die Aufnahme ist sehr ungewöhnlich. Sie scheint vieles von dem zu bestätigen, was über neugeborene Weiße Haie bekannt ist: Die Größe stimmt, potenzielle Muttertiere waren bzw. sind im Raum, es ist an einem der Orte, wo die Wissenschaftler so etwas erwartet haben. Darüber hinaus zeigt der Hai auf dem Video auch die für sehr junge Weiße Haie typischen abgerundeten Flossenspitzen. Ich gehe sogar darüber hinaus und habe den Eindruck, am oberen Lobus der Schwanzflosse noch recht weiches, flatterndes Gewebe zu sehen, was bei älteren Jungtieren sichtbar härter ist.

Was mir fehlt, sind neugeborenen-typische Hautfalten bzw. deren Spuren. Egal was der Embryo im Uterus seiner Mutter gemacht hat, er wird weder voll ausgestreckt da gelegen haben, noch die Flossen aufgestellt haben können. Es ist davon auszugehen, dass er in irgend einer Form gebogen dort lag, was typische Falten hervorgerufen hat. Diese sind nicht zu sehen. Ob sie dann doch schon durch die Muskelbewegung beim Schwimmen „weggedrückt“ wurden oder unter der weißen Schicht auf der Haut verborgen sind, bleibt unklar.

Apropos weiße Schicht: Die Autoren legen nahe, dass es sich bei dieser Schicht um eine Art Ablagerung handelt, die im Uterus entstanden ist. Sie vermuten, dass sie durch die Uterusmilch der Weißen Haie auf dem Embryo abgelagert wurde. Ein Äquivalent zur Vernix caseosa, der Käseschmiere bei Säugetieren, die aus Lipiden, Wasser und abgeschilferten Epithelzellen besteht und den Embryo gegen Einflüsse von außen schützt, ist ebenso denkbar.

Bemerkenswert ist, dass die Schicht sich wirklich in kleinen Plaquen von der Haut des Fisches löst, ausgerechnet dort, wo starke oder verwirbelte Strömung auf die Haut trifft. In kurzer Zeit sollte er sie los geworden sein. Dies spricht m.E. gegen die Hypothese einer Hautinfektion: Sie ist zu gleichmäßig und eher in Auflösung, als im Aufbau befindlich.
Eine solche Schicht ist mir nicht bei anderen Haien oder anderen Knorpelfischen bekannt. Ich kenne aus eigener Ansicht frisch geschlüpfte Katzenhaie mehrerer Arten, neugeborene Glatthaie und Stachelrochen. Auch Filmaufnahmen von anderer Arten zeigen nie eine solche Schicht, allerdings ist hier auch kein Makrelenhai bei der Geburt gefilmt worden. Eine Autapomorphie der Ordnung Lamniformes ist die oben bereits erwähnte Uterusmilch, die anderen Haien fehlt. So könnte der Hautbelag doch eine gewöhnliche Bildung aus dem Uterus sein, die sich nach der Geburt verliert. Wir wissen es nicht, weitere Forschung wird es zeigen.

 

 

Literatur

 

Der Haupt-Artikel:

Gauna, C., Sternes, P.C. Novel aerial observations of a possible newborn white shark (Carcharodon carcharias) in Southern California. Environ Biol Fish (2024). https://doi.org/10.1007/s10641-024-01512-7 https://rdcu.be/dxiXn

 

Weitere Artikel, die ich verwendet habe:

L. J. V. Compagno, M. A. Marks, I. K. Fergusson: Threatened fishes of the world: Carcharodon carcharias (Linnaeus, 1758) (Lamnidae). In: Environmental Biology of Fishes. Band 50, Nr. 1, 1997, S. 61–62, doi:10.1023/A:1007308406137

https://www.latimes.com/archives/la-xpm-2006-sep-29-sp-outdoors29-story.html

http://www.elasmo.de/biologie/fortpflanzung

https://www.ocearch.org/tracker/

Von Tobias Möser

Tobias Möser hat Biologie, Geologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon als Kind war er vor allem an großen Tieren, Dinosauriern, später Walen interessiert. Mit der Kryptozoologie kam er erst 2003 in näheren Kontakt. Seit dieser Zeit hat er sich vor allem mit den Wasserbewohnern und dem nordamerikanischen Sasquatch befasst. Sein heutiger Schwerpunkt ist neben der Entstehung und Tradierung von Legenden immer noch die Entdeckung „neuer“, unbekannter Arten. 2019 hat er diese Website aufgebaut und leitet seit dem die Redaktion.