In der online-Fachzeitschrift Palaeontologica Electronica ist ein neues Paper zu den Körpermaßen des Großzahnhais Otodus megalodon erschienen. Insgesamt 26 Autoren (!) um Philipp C. Sternes haben sich mit einem der größten Fleischfresser der Meere befasst.
Bemerkenswert hierbei ist, dass die neue Studie nur unwesentlich ältere Arbeiten einer Arbeitsgruppe um Jack A. Cooper angreift. Wir haben über diese beiden Studien kurz berichtet.
Wenig aussagekräftige Fossilien bekannt
Otodus megalodon lebte bis vor etwa 3,6 Millionen Jahren in nahezu allen warmen, warmgemäßigten und kaltgemäßigten Weltmeeren. Von zahlreichen Orten sind fossile Zähne bekannt, die oft größer als eine Handfläche werden können. Außer den charakteristischen Zähnen gibt es aber vergleichsweise wenige Fossilien für ein großes, weit verbreitetes Tier, das einen Lebensraum bewohnte, der Fossilisation relativ einfach ermöglicht.
Direkt O. megalodon sind nur sechs „größere“ Fossilfunde zuzuordnen:
- 12 Wirbel aus der Towata Formation oder der Matsuba Formation, Japan, frühes Miozän
- 54 Zähne und vier Wirbel aus der Kokozura-Formation in Japan, frühes Miozän
- 5 Wirbel aus der Nagura Formation, Japan, mittleres Miozän.
- 30+ Zähne und einzelne Kieferfragmente aus der Haraichi Formation in Japan, mittleres – spätes Miozän.
- 141 Wirbel aus einer nicht bekannten Formation aus Antwerpen, Belgien, vermutlich mittleres bis spätes Miozän, Sammlungsnummer IRSNB P 9893. Link zum IRSNB mit ausführlicher Darstellung des Fossils
- ca. 20 Wirbel aus der Gram Formation in Dänemark, spätes Miozän.
Aus der näheren Verwandtschaft in den Gattungen Otodus, Parotodus und Cretlamna sind jedoch zahlreiche weitere Funde bekannt.
Die Wirbel der Großzahnhaie ähneln denen der verwandten Riesenhaie, werden oft in denselben Formationen gefunden sind ähnlich groß. Sie verfügen jedoch über dickere Wände, einen weniger länglichen Bau und kleinere Löcher in der Mitte. Die Oberfläche in den Gelenkhöhlen war verkalkt. Vermutlich bestand die Wirbelsäule von O. megalodon aus 190 bis 200 Wirbeln, das sind deutlich mehr Wirbel ein rezenter Weißer Hai.
Was ist neu?
Das am 1. Dezember 2023 erschienene Paper geht einen anderen Weg. Die Autoren haben erkannt, dass die reine Addition der Wirbeldicke nicht ausreicht, um die Länge der Wirbelsäule zu errechnen. Sie kritisieren den vorhergehenden Autor Cooper, der für 2D- und 3D-Modelle jeweils einen juvenilen Weißen Hai als Vorbild genommen hat. Diesen hat Cooper analog zum Verhältnis der Wirbelgrößen vergrößert.
Kurz: Cooper hatte die Körperform eines jungen Haies genommen. Ist der gefundene Wirbel doppelt so groß, wie bei dem Basistier des Modells, wurde das Modell doppelt so lang, doppelt so tief und doppelt so hoch.
Die 26 Autoren um Philipp C. Sternes von der University of California Riverside sind einen anderen Weg gegangen. Sie stellten sich als erstes die Frage „Sah Megalodon aus, wie ein übergroßer, heutiger Weißer Hai?“.
Wie oben beschrieben, liegen fossil nur Zähne und Wirbel vor, um den Fisch zu rekonstruieren. Dennoch gibt es mehr als deutliche Hinweise für eine zumindest teilweise Warmblütigkeit (Endothermie). Dann gibt es Mikrofossilien von den Placoidschuppen der Haut. Der Abstand der Kiele variiert von Art zu Art unabhängig der Größe der Individuen und gilt als Anzeiger für die energetisch optimale Reisegeschwindigkeit eines Hais. Sie deuten bei Megalodon auf eine geringere Reisegeschwindigkeit, als bei den meisten rezenten Verwandten aus der Familie der Lamnidae hin. Dies brachte das Augenmerk mehr auf die ebenfalls lamniden Arten Riesenhai (Cetorhinus maximus) und die tiefseebewohnende Art Odontaspis ferox.
Wie haben die Wissenschaftler gearbeitet?
Basis der Arbeit ist ein oben bereits erwähnte Stück einer Wirbelsäule. In der Arbeit wird präzisiert, dass es sich um Sammlungsstück IRSNB P 9893, ehemals IRNSB 3121 des Königlich Belgischen Institut für Naturwissenschaften (IRSNB) in Brüssel handelt. Es besteht aus 141 miteinander verbundenen, aber disartikulierten Wirbelkörpern und stammt aus dem Miozän in Antwerpen, Belgien.
Die Wissenschaftler untersuchten Wirbelkörper aus mehreren US-amerikanischen Museumssammlungen mit einem Computertomographen und erstellten dreidimensionale Abbildungen. Diese verglichen sie unter anderem mit ebensolchen Modellen des Weißen Hais.
Die Ergebnisse
Ein wesentliches Ergebnis der neuen Arbeit ist die Kritik an alten Arbeiten. Eine wesentliche, kaum ältere Arbeit ist die Publikation von Cooper et al. aus dem Jahr 2022. Die Autoren um Cooper schlugen damals ein virtuelles 3D-Modell eines Otodus megalodon vor und nutzten es, um Längen und Gewichte zu ermitteln und Rückschlüsse auf die Ökologie des Haies zu ziehen. Die Autoren dieser Studie haben diese Arbeit kritisch überprüft und konnten mit den neuen Daten auch andere Schlüsse ziehen.
Um dies zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Arbeit von Cooper et al. notwendig:
1. Cooper et al: die Analyse der Wirbelsäule und das Modell
- Cooper et al. bearbeiteten das Fossil IRSNB P 9893, aus Belgien, das aus 141 Wirbeln bestand
- Sie behandeln dieses Fossil, als wäre es eine komplette Wirbelsäule, die den Zustand „im Leben“ darstellt. Dies ist nicht so, insbesondere die Nummerierung der Einzelwirbel ist 1926 nach dem Fund vermutlich willkürlich erfolgt.
- Cooper et al. haben fehlende Wirbel für ihr Modell ergänzt, dies ist vermutlich ebenfalls willkürlich passiert.
- Die Zahl der Wirbel schwankt bei lamniformen Haien stark, daher ist es unmöglich, die Gesamtzahl der Wirbel zu bestimmen.
- Cooper et al. gehen davon aus, dass alle in IRSNB P 9893 erhaltenen Wirbel präcaudale Wirbel sind, Schwanzwirbel sind nicht enthalten. Dies sehen die neuen Bearbeiter anders und begründen dies durch die Größenverhältnisse zwischen dem größten und kleinsten Wirbel aus diesem Fossil.
- Cooper et al. setzen bei ihrem Modell den größten Wirbelkörper direkt hinter den Schädel. Der Durchmesser der Wirbel des Cooper-Modells nimmt nach hinten hin ab. Bei rezenten lamniden Haien sitzen die größten Wirbelkörper jedoch in der Körpermitte, wo auch der größte Körperumfang liegt.
Die neuen Bearbeiter halten daher das Modell von Cooper et al. für falsch und ersetzen es durch ein eigenes.
2. Cooper et al.: Die Kiefergröße
Sternes et al. kritisieren im vorliegenden Paper auch die Festlegung der Kiefergröße im Cooper-Modell. Beide Gruppen messen die Länge des Oberkiefers und stellen sie ins Verhältnis mit dem Durchmesser des größten Wirbels (man verwendet die anteroposteriore Länge, also das Maß, das man ermittelt, würde man den Fisch als 2D-Modell von der Seite betrachten).
Sternes et al. nutzen für ihr Modell zwei Museumsexemplare des rezenten Weißen Haies als Grundlage. Sie ermitteln, dass der Kiefer 8,3 mal so lang ist, wie der Durchmesser des größten Wirbels.
Cooper et al. ermittelten ein Verhältnis von 10,6. Hier erscheint der Kiefer also deutlich länger und damit größer, oder andersrum: Der Körper ist im Vergleich zum Kopf zu klein.
3. Cooper et al.: Das Vorbild für das Modell
Für die 2022 veröffentlichte Arbeit und das darin vorgestellte Modell verwenden Cooper et al. einen jungen Weißen Hai von „nur“ 2,56 m Länge. Das Tier war mit Sicherheit nicht geschlechtsreif und zeigte damit auch nicht den typischen Körperbau eines erwachsenen Lamniden.
Bereits in der Arbeit argumentieren Cooper et al., dass sich die Körperproportionen bei Lamniden während der späteren ontogenetischen Entwicklung nicht mehr wesentlich verschieben und ein juveniler Hai die gleichen Proportionen, wie ein ausgewachsenes, geschlechtsreifes, jedoch nicht trächtiges Exemplar besitzt. Dies zeigen sie an einigen Beispielen.
Sternes et al. greifen diese Aussage an, jedoch ohne eigene Daten zu liefern, sondern berufen sich darauf, dass „Veränderungen im Umfang und in der Schwanzflossenmorphologie in verschiedenen Entwicklungsstadien bekannt sind“.
4. Cooper et al.: Die Körperform und wie man sie berechnet
Auch alle drei bisherigen Punkte greifen die Körperform von Coopers Modell an. In diesem letzten und stärksten Punkt zeigen Sternes et al. mehrere Punkte, an denen sie mit der Methodik nicht einverstanden sind.
Die Wissenschaftler um Cooper haben auf ein vorhandenes Schädelskelett eines Weißen Haies den kompletten Zahnsatz eines Megalodon virtuell montiert. Dieser Zahnsatz wurde in North Carolina, USA in einer Formation des mittleren Pliozäns gefunden.
Obwohl noch unklar ist, wie sich die Größe des Schädelskelettes zur Länge der Wirbelsäule verhält (siehe Punkt 2), haben sie dem Modell die rekonstruierte Wirbelsäule aus Belgien zugefügt. Daraufhin fügten sie einen Ganzkörperscan eines lebenden Weißen Haies hinzu, und skalierten ihn so, dass die rekonstruierte Wirbelsäule an der Basis der Schwanzflosse endet.
Hier sehen Sternes et al. mehrere Fehler kombiniert:
- Ob die Körperform des Megalodon einem Weißhai entspricht, ist eher fraglich.
- Ob die Kieferform des Megalodon einem Weißhai mit Megalodon-Zähnen entspricht, ist eher fraglich.
- Die Wirbelsäule wurde von Cooper et al. falsch rekonstruiert.
- Unsicher ist, ob beim belgischen Wirbelsäulenfossil auch der größte Wirbel erhalten geblieben ist.
- Das Verhältnis zwischen Wirbelsäulenlänge und Kieferlänge wurde von Cooper et al. falsch ermittelt.
Hieraus ergibt sich, dass Sternes et al. das Modell, das Cooper et al. für ihre Rekonstruktion nutzen, für unbrauchbar halten und ein eigenes Modell erstellen.
Wie sah Megalodon denn nun aus?
Beide Arbeitsgruppen sind erstaunlich einig
Beide Arbeitsgruppen stimmen überein, dass das in Belgien gefundene Stück Megalodon- Wirbelsäule (mit den 141 Wirbeln) im Leben des Tieres 11,1 m lang war. Bisher hatte man anhand von Wirbelbreite und Länge im Vergleich mit 16 rezenten Weißen Haien eine Länge von nur 9,2 m einschließlich Kopf und Schwanzflosse berechnet.
Ebenfalls einig sind die Arbeitsgruppen, dass O. megalodon bei gleichem Wirbeldurchmesser eine längere Wirbelsäule als der rezente Weißhai hatte.
Dies führte bereits bei Cooper zu einem Modell, das deutlich länger war, als angenommen und eher dünn aussah. Die Ergebnisse beider Arbeitsgruppen sind ähnlich, lediglich die Interpretation ist unterschiedlich.
Wie genau der Körperbau des Megalodon aussah, ist unklar, da bisher keine vollständige und zusammenhängende Wirbelsäule gefunden wurde. Trotzdem gibt es eine Reihe von direkten und indirekten Hinweisen, wie Wirbelsäulenfunde zu interpretieren sind:
- Bei modernen Lamniden korreliert die Größe des Wirbelkörpers eher mit dem Umfang als mit der Körperlänge.
- Weiße Haie haben bei gleicher Körperlänge eine dicke Wirbelsäule, als Kurzflossen-Makos und Heringshaie.
- Die stark calcifizierten Wirbel des Megalodon sind kompressionsresistenter und können die strukturellen Probleme kompensieren, die mit dünneren Wirbelsäulen einher gehen.*
- Vermutlich war die Wirbelsäule von Megalodon dadurch nicht nur dünner als die eines Weißhaies, sondern auch als die kleinerer Lamniden (wie Makos und Heringshaien).
Es ist also davon auszugehen, dass Otodus megalodon schlanker und länger war, als die bisherigen Interpretationen.
Was hat dies für Auswirkungen?
Eine veränderte Körperform hat natürlich auch einen deutlichen Effekt auf die Biologie des Tieres. Es gibt paläontologisch-biochemische Beweise, dass Otodus megalodon und seine Vorgänger (z.B. Otodus chubutensis) eine noch höhere trophische Stellung im Ökosystem einnahmen, als heutige Weißhaie. Gleichzeitig deutet die Morphologie der Placoidschuppen an, dass seine Reisegeschwindigkeit langsamer war, als die aller heute lebenden fleischfressenden Lamniden. Sein zumindest lokal endothermer Stoffwechsel diente also dazu, große Mengen Warmblütergewebe zu verdauen. Hierzu ist insbesondere die Darm- und Leberfunktion wichtig, vermutlich waren diese beiden Organe auch die wärmsten des Tieres.
Sternes et al. argumentieren, dass ein langer (schlanker) Körper auch einen langen Darm enthalten habe, der eine lange und damit effektive Verdauungsphase ermöglichte. Wir halten diese Interpretation für fragwürdig.
Schlussfolgerungen der Wissenschaftler
Die neuartige Methode der 3D-Rekonstruktion für Otodus megalodon ist sehr wertvoll. Sie ist quasi die Weiterentwicklung Coopers Methodik und beseitigt einige von deren Schwachpunkten.
Einige Ergebnisse der Methodik Coopers erzwingen einen Zirkelschluss: Der Weiße Hai ist ein Paradebeispiel für einen Langstreckenschwimmer. Nutze ich ihn als Basis für eine Rekonstruktion, ergibt sie zwangsläufig einen Langstreckenschwimmer.
Sternes et al. haben nun diesen Zirkelschluss ein Stückweit aus der Rekonstruktion entfernt. Dabei haben sie aber kein nennenswertes neues Modell entwickelt. Ihre einzige, halbherzige Darstellung ist eine lang gezogene Silhouette des alten Modells, die sie hinter das alte Modell legen:
Trotz der zahlreichen Autoren ist man in dieser Arbeit also nur den halben Weg gegangen. Der nächste Schritt wäre, auch diese Methodik kritisch zu hinterfragen, Widersprüche zu entfernen und damit ein neues Modell des Megalodon zu entwickeln. Eines, das nicht einfach nur ein übergroßer Weißhai ist.
Ich bin sicher, mit Veröffentlichung des Papers oder spätestens zwei Tage danach (wer eine Veröffentlichung erreicht, feiert und hat am nächsten Tag einen dicken Kopf) haben zwei Arbeitsgruppen angefangen, an einem neuen, greifbareren Modell zu arbeiten.
So lange kein vollständiges Skelett eines Megalodon oder eines Vorläufers bekannt ist, ist die Rekonstruktion von 100 Millionen Jahren otodontider und lamniformer Evolution und der außergewöhnliche Riesenwuchs dieser Arten ausgesprochen anspruchsvoll.
* Bemerkenswert erscheint der Redaktion, dass hier die mögliche Schlüsselinnovation zum Riesenwuchs der Otodontidae erwähnt wird, die Calcifizierung schlanker Wirbelkörper, die so auf wesentlich weniger Raum mindestens die gleichen Druckkräfte aufnehmen, wie große, knorpelige Äquivalente. Die Autoren scheinen das entweder für selbstverständlich zu halten oder haben es nicht bemerkt.
Literatur
Sternes, Phillip C., Jambura, Patrick L., Türtscher, Julia, Kriwet, Jürgen, Siversson, Mikael, Feichtinger, Iris, Naylor, Gavin J.P., Summers, Adam P., Maisey, John G., Tomita, Taketeru, Moyer, Joshua K., Higham, Timothy E., da Silva, João Paulo C.B., Bornatowski, Hugo, Long, Douglas J., Perez, Victor J., Collareta, Alberto, Underwood, Charlie, Ward, David J., Vullo, Romain, González-Barba, Gerardo, Maisch, Harry M. IV, Griffiths, Michael L., Becker, Martin A., Wood, Jake J., and Shimada, Kenshu. 2024. White shark comparison reveals a slender body for the extinct megatooth shark, Otodus megalodon (Lamniformes: Otodontidae). Palaeontologia Electronica, 27(1):a7.
https://doi.org/10.26879/1345
https://palaeo-electronica.org/content/2024/5079-megalodon-body-form
Cooper, J.A., Hutchinson, J.R., Bernvi, D.C., Cliff, G., Wilson, R.P., Dicken, M.L., Menzel, J., Wroe, S, Pirlo, J., and Pimiento, C. 2022. The extinct shark Otodus megalodon was a transoceanic superpredator: Inferences from 3D modeling. Science Advances, 8:eabm9424.
https://doi.org/10.1126/sciadv.abm9424
Weitere Literatur
Greenfield, Tyler. (2022). List of skeletal material from megatooth sharks (Lamniformes, Otodontidae). Palaeoichthys 4. 1-9. Link zu Researchgate (Fulltext)
Perez, V.J., Leder, R.M., and Badaut, T. 2021. Body length estimation of Neogene macrophagous lamniform sharks (Carcharodon and Otodus) derived from associated fossil dentitions. Paleontologia Electronica, 24:a09.
https://doi.org/10.26879/1140