Kein geringeres „Tagesblatt“ als die New York Times berichtete am 3. Juli 1881 von der Sichtung einer „zierlichen“ Seeschlange [im Original: „A diminutive Lake Serpent„] im Lake Neatahwanta im US-Bundesstaat New York, unweit vom großen Lake Ontario:
Unheimliche Begegnung an den Oswego Falls
„Unser Korrespondent vom Oswego Falladium schreibt uns von den Oswego Falls [das war seinerzeit der Name für die Region westlich des Oswego Rivers, die auf die dort anzutreffenden Stromschnellen im Fluss anspielt. Oswega Falls ist seit 1902 Teil der Stadt Fulton, war damals jedoch noch eine eigene Ortschaft, das von dem Dorf Fulton unterschieden werden musste. Beide Dörfer lagen jedoch auf der westlichen Seite des Flusses]:
„Leashing the water into fog“…
`Mr E.V. Lathrop, aus Fulton, und Mr Oscar Parker, von diesem Dorf [gemeint ist wohl Oswega Falls, das damals ja noch nicht zu Fulton gehörte], waren am frühen Dienstagmorgen im Lake Neatahwanta fischen, und sie fingen acht große Schwarzbarsche. Auf ihrem Rückweg, als sie sich in der Mitte des Sees befanden, erschien plötzlich eine große Seeschlange im Wasser und kam auf ihr Boot zu, mit geöffnetem Maul, doch änderte sie schließlich ihre Intentionen, peitschte das Wasser bis zur Trübe [im Original heisst es: „lashed the water into fog“, das letzte Wort interpretiere ich hier im Sinne von dem englischen Wort für „Nebel“, also „fog“ und daher „Trübe“], und verschwand im Unkraute. Sie war ungefähr sieben Fuß (2,13 Meter) lang.´“
Ich kann mir die Szene förmlich bildlich vorstellen.
Doch was war es?
Nach einem kurzen Blick auf den Reptile and Amphibian Field Guide von Ontario war ich doch sehr erstaunt, wie viele Schlangenarten in der Region vorkommen. So zum Beispiel die Siegelring-Schwimmnatter (Nerodia sipedon sipedon) oder Northern Watersnake. Sie soll bis zu 110 Zentimeter werden. In Einzelfällen vielleicht sogar noch länger. Man fände sie in Ontario laut dem Field Guide in fast jedem Gewässer. Und da hält sie sich besonders in der Ufervegetation (!) auf. Auch wärmt sie sich gerne auf Felsen und Totholz nah am Wasser.
Eine Begegnung mit zoologischer Basis?
Größenangaben von Augenzeugen sind mit Vorsicht zu genießen. Aus einem Meter werden schnell mal zwei, vor allem, wenn es sich um schnelle Begegnungen mit Schlangen handelt, deren schierer Anblick viele Personen schockiert. Und wenn man die geschilderte Begebenheit vielleicht um die übertriebene Größenangabe reduziert, so sehe ich hier durchaus eine realistische Schlangenbegegnung.
Oder um es anders zu sagen: Sofern diese Schilderung in der Zeitung nicht irgendein Erzählmotiv wiedergibt, das seinerzeit in der Region kursierte und von dem wir nichts wissen, so denke ich, dass die beiden Fischer hier einer der einheimischen Schlangenarten begegnet sind. Vielleicht war es ja die eben genannte Siegelring-Schwimmnatter. Vielleicht aber auch irgendeine andere der vielen Arten, die im Reptile and Amphibian Field Guide zur Fauna von Ontario zu finden sind.
Offenbar hat die Schlange auf die beiden Fischer seinerzeit einen so großen Eindruck hinterlassen, dass sie unbedingt jemandem davon erzählen mussten.
Der lange Schatten ihrer großen Schwester
Und ein Erzählmotiv versteckt sich auf jeden Fall in diesem Artikel von der Times…denn der Titel „diminutive“ Lake Serpent spielt darauf an, dass es sich bei dem gesichteten Tier um die kleinere Version ihrer großen Schwester handelte…und diese „large lake serpent“ war als Erzählmotiv im 19. Jahrhundert offenbar so stark etabliert, dass sich die Times nicht zu schade war, diese Sichtung mit Rückgriff auf eben dieses Motiv einzuordnen. Kurz gesagt: eine „large lake serpent“ war im kulturellen Gedächtnis der US-amerikanischen Bevölkerung des 19. Jahrhundert fest verankert. Das beweist dieser kleine aber feine Artikel von einer (wahrscheinlich) gewöhnlichen Schlangenbegegnung im Lake Neatahwanta allemal.
Zum Weiterlesen:
Reptile and Amphibian Field Guide von Ontario
Der Rivale der Seeschlange, nur 2 Jahre vorher (interner Link), hier wird das Motiv der großen Süßwasserschlange überspielt dargestellt.