Jeder weiß, dass die Schwalben im Winter nach Süden ziehen, und dass bei ihrer Rückkehr „eine Schwalbe noch keinen Sommer macht“. Früher, als die Welt weniger erschlossen war, wusste man nicht, wo die Schwalben im Winter blieben. So entstand – in ganz Europa übrigens – der glaube, Schwalben verbrächten die kalten Jahreszeit im Winterschlaf im Schlamm am Boden von Teichen. Die Frage, on Schwalben nicht doch – in Körperstarre – bei uns überwinterten, beschäftigte die Presse noch bis ins 19. Jahrhundert.
Die „Karlsruher Zeitung“ berichtete in ihrer Dienstagsbeilage vom 8. November 1887 auf der ersten Seite:
In den philosophical transaction of the royal society of London Vol. 53 S. 101 theilt ein Engländer, welcher Ende März 1763 von Basel den Rhein herunter fuhr, mit, daß er nicht weit unterhalb Basel am Abhange des Gebirges (wahrscheinlich am Isteiner Klotz) Jungen an Seilen herabhängen sah, welche mit Stangen Schwalben aus Löchern herausbohrten; er kaufte einige, die ganz steif waren, und konnte sie durch Erwärmen nach einiger Zeit zum Leben und Davonfliegen bringen. Es ist dies die in der dortigen Gegend verbreitete Uferschwalbe. Es ist anzunehmen, daß die gefundenen Thiere in den tiefen Löchern überwintern. Brehm bestreitet zwar in seinem bekannten Werke, daß die Schwalben überhaupt bei uns überwintern könnten.
Das ist einer der bekanntesten Augenzeugenberichte zum Thema. Andere Zeitungen brachten weitere Meldungen – oder auch nur die aufklärerische Notiz, dass es sich bei der Vorstellung überwinternder Schwalben nur um einen Aberglauben handele, wie die „Kölnische Zeitung“ am 12. Juni 1903, die entsetzt schrieb: „Glauben doch noch heute manche Leute, daß Schwalben in hohlen Bäumen oder gar in Sümpfen überwintern.“
Anders das „Dresdner Journal“ vom 17. Februar 1897, Seite 6:
* Überwinternde Schwalben. „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“, singt das deutsche Lied, aber es ist eine fast in jedem Winter zu beobachtende Erscheinung, daß einige Schwalben die nordische Heimat überhaupt nicht verlassen, sondern dort überwintern. Freilich fehlt es in dieser Hinsicht noch immer an genauer Kenntnis und deshalb ist die Beobachtung eines Engländers, welcher der Überwinterung der Schwalben seine Aufmerksamkeit schenkte, von Interesse. Aus welchem Grunde einzelne Tiere sich dem Zuge ihrer Geschwister nach dem Süden nicht anschließen, ist natürlich kaum zu ermitteln; genug, sie bleiben an ihrem alten Platze und können bei nicht zu ungünstigen Umständen den ganzen Winter überstehen In einem englischen Orte wurden Mitte Dezember 1895 zwei Schwalben gesehen, die augenscheinlich dem Wandertriebe widerstanden ganzen Winter und wagte sich erst bei der Rückkehr ihrer Verwandten aus dem Versteck heraus. Sie fand dann auch für das Frühjahr einen Lebensgefährten. Die überwinterte Schwalbe hatte ihre Schwanzfedern eingebüßt und war dadurch auch später noch leicht von den übrigen ihrer Gattung zu unterschieden.
Die Großteil der Zeitungsartikel jedoch erbringt keine Augenzeugenberichte, sondern erörtert nur das Pro und Kontra. Anlässlich der Versammlung eines Kleintierzüchtervereins macht „Vereinsmitglied Herr Tr. Kowert […] Mitteilungen über ornithologische Streitfragen. Er stellte u. a. die Ansicht richtig, daß Schwalben in Teichschlamm zu überwintern vermögen. Sowohl die Rauch- und Uferschwalbe, als auch die Fluß und Hausschwalbe vermögen lange Zeit Hunger aus zuhalten, und einzelne Exemplare, die sich beim Auszug verspätet haben, pflegen auch zu überwintern, kommen jedoch nur bei sehr milder Witterung fort.“ (Dresdner Nachrichten, 25. Oktober 1903)
In einem längere Aufsatz zum „Abzug der Schwalben“ erörtert auch die „Norddeutsche allgemeine Zeitung“ vom 13. September 1905 die Streitfrage und versucht sich an einer Lösung:
In früheren Jahrtausenden, als das Klima Europas noch milder und gleichmäßiger war, haben diese Wanderungen der Schwalben zweifellos gar nicht stattgefunden oder doch nur in sehr beschränktem Maße. Erst später, als das Klima erheblich rauher wurde, trat für die insektenfressenden Vögel die Notwendigkeit ein, während der kältesten Monate im Jahre wenigstens so weit nach Süden zu gehen, bis sie ausreichende Nahrung fanden.
Dann folgt eine These, wie es zur Idee kam, die Schwalben würden im Schlamm von Teichen überwintern, und eine neue Beobachtung, dieses Mal aus Frankreich:
Kraftlos und ermattet suchen die Tierchen am Abend die Schlafplätze im Schilf auf. Eintretender Herbstfrost macht ihre Füßchen erstarren, und sie gleiten an den Schilfstengeln abwärts in den Sumpf. Wenn es ihnen schon schwer fallt, sich vom festen und trockenen Boden zu erheben, so ist es ihnen ganz unmöglich, von schlammigem und noch dazu dicht mit Schilf bestandenem Boden aufzufliegen. Die angestellten Versuche ermatten sie immer mehr, bis sie schließlich gänzlich versinken und bei Gelegenheit als Leichname gefunden werden. Man hat aber auch Schwalben, wenn schon nicht im Schlamme, so doch in Uferlöchern zur Winterszeit lebend beobachtet. Ein französischer Naturforscher berichtet, daß er einst im Winter am Oberrhein sah, wie Kinder völlig erstarrte Schwalben aus Uferlöchern hervorzogen. Er selbst habe eine solche Schwalbe erwärmt, und nach Verlauf von noch nicht zwei Stunden sei sie davongeflogen. Es gibt auch neuere Mitteilungen, nach welchen Schwalben bei uns überwintern, und zwar in Mauerlöchern der Viehställe. Bis zur Winterzeit gingen sie im Stalle ihrer Nahrung nach und verfielen dann in einen leichten lethargischen Zustand, aus dem sie an milden Wintertagen erwachten, um einige Beutezüge zu machen und sich zu weiterer Winterruhe zurückzuziehen. Im übrigen möchte ich bemerken, daß sich die Mitteilungen, überwinternde Schwalben betreffend, von Jahr zu Jahr zu mehren scheinen.
Weitere Informationen und Zeugenaussagen liefert die „Badische Presse“ am 10. Januar 1910. Erst wird festgestellt, dass Schwalben natürlich fortziehen:
Daß alle jene Insektenfresser, welche ihre Beute vorzugsweise oder allein im Fluge erhaschen, aus unseren winterlichen Fluren auswandern müssen, liegt aus der Hand. Wird es doch den Schwalben. Seglern, Fliegenschnäppern an naßkalten Sommertagen oft schwer genug, ihr Leben kümmerlich fristen, durch jene wenigen Fliegen, Mücken, Schnecken, welche sich vor der rauhen Witterung nicht sicher genug versteckt haben.
Dann verweist das Blatt darauf, dass der Glaube der überwinternden Schwaben aus einer Zeit stamme, da man noch nichts vom Vogelzug wusste – und führt dann ein paar weitere Meldungen von Schwalbenfunden im Winter an:
Als das Reisen mehr Verbreitung annahm, klärte sich auch das vermeintliche Stillschweigen der anderen Vögel während der Schnee- und Eiszeit auf. Aber noch Linné hielt an dem Glauben fest daß die Schwalben bei uns überwintern. Ja selbst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts fanden sich Gelehrte, die einem Winterschlaf der Schwalben das Wort redeten. So schreibt Dr. Friedrich in einem kurzen Artikel, der Ende des sechziger Jahres erschien: Um die Mitte der vierziger Jahre war ich zugegen, wie Ende Januar oder Anfang Februar in Wolfenbüttel bei dem Zuschütten des im Wasser ausgefüllten Stadtgrabens eine Anzahl Schwalben von den Arbeitern aus dem Schlamme hervorgeschaufelt wurden. Sie befanden sich im Zustande vollständiger Erstarrung. Ich nahm einige der Schwalben mit auf mein Zimmer, in dessen Wärme sie langsam zum Leben zurückkehrten. Die Zahl der aufgefundenen Schwalben mochte fünfzehn bis zwanzig betragen Ob dieselben durch Schwäche, durch Verspätung oder durch Kränklichkeit verhindert waren, an der Wanderschaft nach dem Süden teil zu nehmen – wer kann es wissen! Gewiß aber ist die Vermutung berechtigt, daß die Schwalben, da sie durch die Wärme des Zimmers aus ihrer Erstarrung erwachten, auch im Frühjahr durch die Wärme ins Leben zurückgerufen und aus dem Schlamme hervorgekommen sein würden. Ebenso berechtigt ist die Annahme, daß es in der Willkür der Schwalben steht, sich in jenen Zustand der Erstarrung oder des Winterschlafes zu versetzen. Dr. Friedrich gibt auch ein Schreiben des Geh. Medizinalrats Dr. W. Sachse bekannt, worin es heißt: „Es war im Winter 1789, als ich mit stets neuer Freude den naturhistorischen Vorlesungen des Professors Roques de Momont beiwohnte. Sein Garten lag am Schloßgraben in Celle, welcher ausgemoddet wurde. Bei dieser Gelegenheit brachten die Arbeiter unserem vortrefflichen Lehrer einen halben Eimer voll fest aneinander gekrallter, scheinbar toter Schwalben und er überzeugte uns, daß einige davon durch die Zimmerwärme wieder zum Leben erweckt wurden. Den Rest ließ er wieder in jene Modde hinabsenken, nachdem er uns belehrt hatte, daß schon Plinius den Winterschlaf dieser Tiere beobachtet habe.“ So überzeugend auch diese Darstellungen klingen, sind dieselben natürlich doch nicht beweiskräftig. Es handelt sich in beiden Fällen wahrscheinlich um im Spätherbst vom Frost überraschte Uferschwalben, die zu Tode gekommen wären, wenn sie nicht rechtzeitig aufgefunden worden wären. Jedenfalls ist es physiologisch ganz undenkbar, daß Vögel als Winterschläfer die kalte Jahreszeit überdauern.
Heute liest man von dieser Vorstellung nur noch selten. Und ein Überwintern im Schlamm am Grund von Teichen klingt auch sehr exotisch! Es gehört aber in eine Reihe von Tiergerüchten, zu denen unter anderem die im Fels fest eingeschlossenen, aber noch lebenden Kröten gehören.
Dieser Artikel erschien erstmals am 23. September 2023, jetzt erneut und von Werbung befreit.