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Der Mensch ist ein Augentier und ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Sagt man. Deshalb sollen hier vor allem Bilder für sich sprechen – Bilder, die Augenzeugen einer ungewöhnlichen und überraschenden Beobachtung gemacht haben oder Bilder, die Forscher nach Angaben solcher Augenzeugen gemalt oder skizziert haben. Wie viel erfahren wir über die „Wirklichkeit“ durch solche Zeichnungen?

 

Wenn jemand zum Beispiel das Loch-Ness-Monster gesehen hat, erhalten wir oft eine Zeugenskizze oder eine Zeichnung, die nach Angaben des Augenzeugen angefertigt wurde. Je populärer (und damit bedeutender für die Interpretation des Phänomens) eine Sichtung ist, desto mehr Skizzen liegen vor.

 

Befragung von Augenzeugen und was sie skizzieren

Constance Whyte, Tim Dinsdale und Ted Holiday gelten auf dem Gebiet der Nessie-Forschung als verlässliche Autoritäten. Sie haben jeweils die wichtigsten Augenzeugen befragt und sich von ihnen das Gesichtete skizzieren lassen. Doch diese Skizzen fallen bei derselben Beobachtung häufig sehr, sehr unterschiedlich aus, auch wenn sie dieselbe ursprüngliche Zeichnung wiedergeben. Es scheint so, als veränderten sich bei Befragungen angefertigte Skizzen allmählich.

George Spicer und seine Frau waren 1933 die ersten, die Nessie an Land sahen, als es eine Nebenstraße überquerte. In einem Leserbrief an die Lokalzeitung „Inverness Courier“ schilderte Spicer, es sei sechs bis acht Fuß lang [1,80 bis 2,40 m] gewesen und habe ein Lamm im Maul mit sich geschleppt. Die Spicers änderten ihre Geschichte nach diesem ersten Bericht. Bei der Forscherin Constance Whyte beschwerte sich George Spicer im Jahr 1957, dass sich die Leute über ihn lustig gemacht hätten: „Es wurde berichtet, dass das Monster ‚mit einem Lamm im Maul‘ gesehen worden war; diese und andere verzerrte oder unvollständige Berichte waren zu dieser Zeit üblich und wurden, sehr zum Ärger von Herrn und Frau Spicer, danach häufig wiederholt.“

Erste Augenzeugen Skizze des Loch Ness Monsters
Die erste Skizze nach den Angaben der Spicers

Whyte gegenüber sagten sie nun: „Das muss wohl das Ende des Schwanzes gewesen sein.“ Die Größe des Wesens gaben sie in einem Interview mit Tim Dinsdale im Jahr 1960 mit 7,5 m (25 Fuß) an, Nick Witchell erzählten sie Mitte der 1970er Jahre, es seien 9 m (30 Fuß) gewesen. (Magin 2011, S. 210–211) Geschichten wachsen, Augenzeugenberichte passen sich den geäußerten Kritikpunkten an. Aber eben auch Zeugenskizzen.

Das Ungeheuer des Ehepaars Spicer

Das Ungeheuer des Ehepaars Spicer nach Rupert Gould 1934, Constance Whyte 1957 und Tim Dinsdale 1976. Alle konsultierten die Augenzeugen, unter deren Ägide die Illustrationen angefertigt wurden. Das Spicer-Monster ist durchaus variabel.

Spicer
Das Monster der Spicers zeigt sich variabel.

Das Monster des Arthur Grant

Der Nächste, der das Ungeheuer an Land sah, war 1934 der Student Arthur Grant. Seine eigene Skizze ist eher tastend, die veröffentlichten Versionen allerdings verfestigen diese Eindrücke und verändern sie zuweilen. Bei Dinsdale werden sogar eindeutige Zehen zu glatten Flossen.

 

 

Arthur Grants erste Skizze
Arthur Grants erste Skizze
Rupert Goulds Version 1934 (S. 163)
Rupert Goulds Version 1934 (S. 163)
Constance Whyte 1957
Constance Whyte, 1957
Tim Dinsdale 1961 (S. 45)
Tim Dinsdale, 1961 (S. 45)
Tim Dinsdale 1976 (S. 35).
Tim Dinsdale,1976 (S. 35).

 

Nessie bei den Finlays

Greta Finlay und ihr Sohn sahen das Ungeheuer am 20. August 1952 aus nächster Nähe. Auch hier sind, selbst bei genereller Ähnlichkeit, leicht gröbere Abweichungen zu bemerken – lag der Körper unter Wasser oder bildete er zwei oder sogar drei Höcker?

Auch passt das Bild nicht mit dem Zeugenbericht zusammen: Die Finlays meinten, „die sichtbare Gesamtlänge belief sich auf etwa 4,50 m. Den Hals hielt es senkrecht, und da, wo er ins Wasser kam, traf er auf einen massigen Körper. Hals und Kopf waren zusammen 60 bis 75 cm lang.“ Nimmt man aber die Gesamtlänge am Wasserspiegel mit 4,50 m an, dann wären Hals und Kopf 1,80 bis 2,10 m lang. Oder – maß der Hals 60 cm, dann betrug die Gesamtlänge der beiden Höcker nur 90 cm. Die Skizzen weichen nicht nur voneinander ab, sondern zudem vom mündlichen Bericht.

 

Greta Finlays Ungeheuer nach Constance Whyte 1957
Greta Finlays Ungeheuer nach Constance Whyte, 1957
Greta Finlays Ungeheuer nach Tim Dinsdale, 1961 (S. 123)
Greta Finlays Ungeheuer nach Tim Dinsdale, 1961 (S. 123)
Greta Finlays Ungeheuer nach Tim Dinsdale, 1976 (S. 95)
Greta Finlays Ungeheuer nach Tim Dinsdale, 1976 (S. 95)

 

Die Abbildung von Elizabeth Montgomery Campbell

In einem Buch über Nessies Cousine Morag im Loch Morar bildete Elizabeth Montgomery Campbell die 33 von ihr gesammelten Sichtungen des Monsters ab – und erschafft durch diese starke Vereinfachung ein Bild des Tieres, das einheitlich wirkt, aber gar nicht einheitlich ist, wenn man die einzelnen Berichte liest, die hier als identisch skizziert sind!

Monster von Mrs Campell
Die Silhouetten,des Loch Morar-Monsters, die Elizabeth Montgomery Campbell gesammelt hat.

Das Foto von Hugh Grey

Das erste Foto des Monsters gelang im November 1933 angeblich Hugh Grey aus dem Seedorf Foyers (Abb. 16). Die Umzeichnung dieses Fotos zeigt, wie sehr seine Darstellung den Überzeugungen der jeweiligen Autoren angepasst wurde. Die zweite Abbildung unten stammt von dem skeptischen Maurice Burton (S. 79), die dritte von F. W. Holiday (S. 32), der das Ungeheuer für einen riesigen Wurm hielt.

Grey Picture
Das Originalbild von Hugh Grey

 

Die Umzeichnung vom skeptischen Maurice Burton (S. 79)

 

Diese Umzeichnung stammt von F. W. Holiday (S. 32), der das Ungeheuer für einen riesigen Wurm hielt

Überhaupt ist es nicht einfach, ein fremdes Erlebnis in eine Skizze zu fassen. Der Monsterforscher Maurice Burton (S. 141) legte zwei professionellen Tierzeichnern und zwei Zoologen denselben schriftlichen Augenzeugenbericht vor, damit sie ihn illustrieren konnten (Sichtung von P. Grant, 12. August 1934). Das Ergebnis mahnt zumindest zur Vorsicht, wenn ein Monster- oder UFO-Forscher ein Bild nur nach Augenzeugenberichten zeichnet, ohne den Beobachtern selbst das Bild vorzulegen.

 

 

Erkenntnis im Urlaub: Mildred Nye

Auch die Erinnerung kann die Genauigkeit von Skizzen beeinträchtigen. Anfang der 1960er Jahre machte Mildred Nye Urlaub im ostenglischen Orford, als sie einen Lastwagen bemerkte, auf dem ein frisch gestrandetes Seeungeheuer lag. Es war fünf Meter lang und hatte die Form einer riesigen Kaulquappe. Jahre später schrieb sie dem Kryptozoologen Tim Dinsdale und lieferte gleich eine Skizze mit, die ein groteskes, sicherlich unidentifizierbares Lebewesen zeigt.

Dinsdale forschte aber nach und erfuhr, dass genau zu der Zeit ein ganz gewöhnlicher, 3,30 Meter langer Blauhai gestrandet und per Lastwagen in ein Forschungsinstitut verfrachtet worden war. Die Skizze der Zeugin stützte ihre Erinnerung, aber ihre Erinnerung war ganz und gar falsch – sowohl was Größe als auch Form des Ungeheuers anging. Natürlich war die Zeugin keine Lügnerin, der Fall belegt nur erneut, wie vorsichtig man mit erinnerten Zeugenberichten umzugehen hat. (Dinsdale 1976b, S. 151–155)

 

 

Das sind sehr grundlegende Fakten – Skizzen verändern sich, wenn sie übernommen werden, Augenzeugen erinnern sich neu und anders, wenn sie nach Jahren wieder befragt werden, Verlass ist auch auf verlässliche Autoren nicht, weil Fehler eben vorkommen. Es ist gut, wenn ein Augenzeuge oder ein Forscher unter dessen Aufsicht eine Skizze zeichnet, weil der unmittelbare optische Eindruck häufig selbsterklärender ist als ein langer und umständlicher Bericht mit Worten.

Und doch gilt dieselbe Vorsicht wie bei Zeugenerzählungen.


Literatur

Burton, Maurice: The Elusive Monster. London: Hart-Davies 1961

Dinsdale, Tim: Loch Ness Monster. London: Routledge & Kegan Paul 1961, 1976a

Dinsdale, Tim: The Leviathans. London: Futura 1976b

Holiday, F. W.: The Great Orm. London: Faber & Faber 1968

Magin, Ulrich: Investigating the Impossible. Anomalist 2011

Montgomery Campbell, Elizabeth: The Search for Morag. London: Tom Stacey 1972

Whyte, Constance: More Than a Legend. London: Hamish Hamilton 1957

Von Ulrich Magin

Ulrich Magin (geb. 1962) beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Kryptozoologie, insbesondere mit Ungeheuern in Seen und im Meer. Er ist Mitarbeiter mehrerer fortianischer Magazine, darunter der „Fortean Times“ und Autor verschiedener Bücher, die sich u.a. mit Kryptozoologie befassen: Magischer Mittelrhein, Geheimnisse des Saarlandes, Pfälzer Mysterien und jüngst Magische Mosel.