Ältere Einwohner aus dem Dorf Belo-Sur-Mer im Westen Madagaskars erzählen Geschichten von einem Tier der Größe einer Kuh, aber ohne Hörner und Hufe, mit großen Ohren und einer dunkel Körperfärbung. Das Tier stößt grunzende Laute aus und flüchtet bei Gefahr ins Wasser: das Kilopilopitsofy.
Kein heute auf Madagaskar lebendes Tier entspricht auch nur ansatzweise dieser Beschreibung und ohnehin sind größere Tiere bereits lange verschwunden. Und doch gibt es Lebewesen, auf die jene Beschreibung fast wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge passt: Flusspferde! Nur fast, weil weder das gut bekannte Großflusspferd (Hippopotamus amphibius), noch das Zwergflusspferd (Choeropsis liberiensis) besonders große Ohren haben – doch dazu später mehr.
Bis zur Besiedlung durch Menschen (wann genau dies geschah ist noch nicht abschließend geklärt; vermutlich verbreiteten sich Menschen nur langsam über die komplette Insel) verfügte die Insel Madagaskar über eine reichhaltige Megafauna. Neben dem bekannten Elefantenvogel (Aepornys sp.) lebten hier Lemuren von heute unvorstellbarer Größe, Riesenschildkröten (Aldrabachelys sp.), die Riesenfossa (Cryptoprocta spelea) und nicht weniger als drei Arten von Flusspferden. Mit Ankunft des Menschen verschwanden die Großtiere des „Inselkontinents“. Wie in vielen anderen Erdteilen auch, war es der Mensch, der durch direkte Bejagung wie auch durch Umformung der Landschaft und die Einschleppung von Krankheiten (auch durch seine Haustiere) für diese Aussterbewelle verantwortlich ist.
Von den Madagassischen Flusspferden sind heute drei Arten bekannt: Hippopotamus laloumena, Hippopotamus lemerlei sowie Hippopotamus madagascariensis. Diese drei Arten stammen vom Nilpferd des afrikanischen Kontinents ab und sind im Laufe der Jahrtausende zu Inselzwergen geschrumpft. Ein Prozess, wie er auch bei den Zwergflusspferden Siziliens oder Kreatas stattgefunden hat.
Während sich die beiden letztgenannten, kleineren Arten gut abgrenzen lassen, ist der Status von Hippopotamus laloumela ist bisher nicht abschließend geklärt. Bei den gefundenen Überresten könnte es sich auch um vereinzelte Exemplare von Hippopotamus amphibius gehandelt haben, die es geschafft haben, die Straße von Mozambique zu überwinden. Gleichzeitig kennt man von dieser Art jedoch die ältesten Überreste, die sich auf eine Zeit von vor ca. 20.000 Jahren datieren lassen.
Wie genau Flusspferde vom afrikanischen Festland nach Madagaskar gelangen konnten, ist übrigens bisher nicht abschließend geklärt. Da es sich bei Flusspferden um keine guten Schwimmer handelt, sie nicht auf dem Wasser treiben können und als massige Tiere sicher kaum auf Treibgut verdriftet werden, wird von einigen Wissenschaftlern eine Landbrücke als Möglichkeit dafür angenommen. Von einer Landbrücke, welche es den Flusspferden hätte ermöglicht hätte, diese 300 km zu überqueren, ist aber nichts bekannt. Möglicherweise ermöglichten ein niedrigerer Meeresspiegel im Pleistozän und eine damit entstehende Kette kleinerer Inseln, dass die Hippos nach Madagaskar gelangen konnten.
Geht man nach dem Fossilbericht und der Radiokarbondatierung, verschwanden die Madagassischen Flusspferde vor etwa 1.000 Jahren (980±200 Jahre) von der Bildfläche. Diese jüngsten knöchernen Überreste weisen Schnittspuren auf, sodass davon auszugehen ist, dass sie geschlachtet wurden.
Die Geschichte der Madagassischen Flusspferde könnte damit zu Ende sein – aus kryptozoologischer Sicht ist sie das aber noch lange nicht.
Die Kolonialisierung der Insel
Ab dem Jahr 1528 versuchten europäische Mächte Madagaskar als Kolonie für sich zu beanspruchen. 1643 gründete Frankreich eine Kolonie im Süden der Insel. Deren Gouverneur Ètienne de Flacourt beschreibt in seiner Historie de la grande isle de Madagascar, neben uns heute gut bekannten Tieren, das mangarsahoc, welches stark an ein Flusspferd erinnert. Aus verschiedenen Teilen Madagaskars sind darüber hinaus Geschichten über Wesen wie das tsy-aomby-aomby, das omby-rano oder das laloumena bekannt. Ihnen allen gemein ist, dass sie über die Merkmale eines Flusspferdes verfügen.
1876 erhielt der deutsche Zoologe Josef-Peter Audebert die mit arabischen Schriftzeichen versehene Haut eines Tieres, die er als „antilopen-ähnlich“ beschreibt. Sie sollte seiner Quelle nach vom tsy-aomby-aomby stammen, dessen Name übersetzt so viel wie „not-cow-cow“ (also „nicht-Kuh-Kuh“) bedeutet. Eine Expedition, die nach dem unbekannten Tier suchen sollte, endete aufgrund von Konflikten zwischen Einheimischen und anderen unerwarteten Hindernissen erfolglos. Die beschriebene Haut selbst verschwand und kann daher leider nicht mehr untersucht werden.
Der französische Volkskundler Gabriel Ferrant zeichnete Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls Geschichten der Einheimischen über das tsy-aomby-aomby auf. Wie oben beschrieben, wird es als Tier der Größe einer Kuh beschrieben, das jedoch weder Hörner noch Hufe besitzt.
Raybaud, ein französischer Kolonialbeamter, berichtet dann im Jahr 1902 von Geschichten und sogar Sichtungsberichten des omby-rano, die ihm aus dem madagassischen Hochland zugetragen wurden. Er schließt daraus, dass dort noch im Jahr 1878 Madagassische Flusspferde gelebt haben müssen.
Auf diese Augenzeugenberichte befragt, berichtet einer seiner Mitarbeiter Raybaud darüber hinaus, dass sein Nachbar gleich vier omby-rano in der Nähe der Ortschaft gesehen haben will. Die Tiere waren gerade dabei, auf einem Getreidefeld zu weiden und flüchteten, durch ihn gestört, in das nächstgelegene Gewässer.
Im Jahr 1912 berichten Einheimische ebenfalls vom omby-rano (übersetzt „Wasser-Kuh“), das zu dieser Zeit noch im Kinkony-See gelebt haben soll.
Die Beschreibung des Tieres, von dem in allen Quellen berichtet wird, passt perfekt zu einem kleinen Flusspferd. Einzige Ausnahme stellen die größeren Ohren dar, doch könnten diese entweder eine Anpassung an eine mehr terrestrische Lebensweise, oder schlichtweg eine Verwechslung mit den Wangen des Flusspferdes sein. Gerade bei einer Beobachtung im Dämmerlicht können die Konturen schließlich durchaus verschwimmen.
Moderne Entwicklung – und aktuelle Geschichten?
Im Jahr 1995 reise der amerikanische Wissenschaftlicher David Burney mit dem Ziel nach Madagaskar, die neuzeitlich ausgestorbene Fauna zu studieren. Zusammen mit Ramilisonina vom archäologischen Museum in Antananarivo besuchte er den Ort Belo-Sur-Mer im Westen der Insel. Eigentlich an Knochen interessiert, trugen ihm die Dorfbewohner immer wieder Geschichten des Kilopilopitsofy (wie auch des Kidoky, bei dem es sich um einen Riesenlemuren handeln könnte) zu, die ihn aufhorchen ließen. Sollten einige der Tiere, deren Überreste er ausgraben will, noch bis vor kurzer Zeit existiert haben?
Burney beschloss, einige der Einwohner systematisch zu befragen. Der eigentliche Grund der Befragungen wurde eingangs nicht thematisiert und Suggestivfragen wurden vermieden, um das Ergebnis nicht zu verfälschen. Unabhängig voneinander berichteten ihm dennoch mehrere Personen von Begegnungen mit dem Kilopilopitsofy. Verwandte oder Nachbarn wollen das Tier gesehen haben, sie wollen es gehört haben und schließlich findet Burney sogar Personen, die angeben, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Die letzte dieser Sichtungen stammt aus dem Jahr 1976.
Besonders imponiert ihm, dass sämtliche der befragten Personen unabhängig voneinander nichts anderes als ein kleines Flusspferd beschrieben. Ja, einige sind sogar in der Lage, seine Laute zu imitieren – und auch diese erinnern haargenau an die eines Hippos. Als man schließlich noch Bildtafeln der madagassischen und afrikanischen Fauna zeigt, wird immer zielstrebig das Großflusspferd ausgewählt. Lediglich die Ohren, da ist man sich einig, seien beim Kilopilopitsofy größer.
Ungeplant macht David Burney eine Blindprobe: neben dem Kilopilopitsofy und dem Kidoky erzählen ihm die Dorfbewohner auch vom Bokyboky. Nach Analyse der detailreichen Augenzeugenberichte kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass es sich hierbei nur um den Schmalstreifenmungo (Mungotictis decemlineata) handeln kann – von Madagaskar gut bekannte, kleine Art der Madagaskarraubtiere (Eupleridae). Als man den interviewten Personen Fotos unterschiedlicher Arten zeigte, wurden diese einwandfrei als Bokyboky identifiziert. Nicht zuletzt auch ein Beleg der guten Beobachtungsgabe der Einheimischen.
Alles ein Zufall? Oder handelt es sich um orale Überlieferungen aus einer lange vergangenen Zeit, welche weiterhin lebendig gehalten werden? Wie aber kann es dann sein, dass in sämtlichen Quellen seit Ankunft von Europäern sehr konsistent das exakte Bild eines Flusspferds beschrieben wird?
Sicher: die Einheimischen könnten den Fremden schlichtweg einen Bären aufbinden wollen. Da aber in verschiedenen Teilen der Insel und das über mehrere Jahrhunderte das immer gleiche Tier beschrieben wird, lässt dies als unwahrscheinlich gelten. Genauso unwahrscheinlich erscheint es, dass es regelmäßig Großflusspferde vom afrikanischen Festland nach Madagaskar geschafft haben sollten, denn man beschreibt das Kilopilopitsofy ja durchweg als kleiner und mit größeren Ohren.
Wann sind die Flusspferde auf Madagaskar ausgestorben?
Die Weltnaturschutzunion ICUN geht aufgrund solcher glaubwürdigen Berichte davon aus, dass die Madagassischen Flusspferde erst nach dem Jahr 1500 ausgestorben sind. Sie zählen damit zu den neuzeitlich ausgestorbenen bzw. ausgerotteten Arten. Handfeste Beweise dafür gibt es leider nicht.
Sicher aber wäre es sinnvoll, subfossile Überreste genauer zu untersuchen. Möglicherweise sind einige davon jünger als bisher angenommen. Die jüngsten Knochen eines Riesenlemuren wurden auf eine Alter von ca. 510±80 Jahre datiert. Er könnte also spätestens im Jahr 1625 verstorben sein. Dieses Datum ist nicht mehr weit vom Jahr 1650 entfernt, als Ètienne de Flacourt die Geschichten verschiedener Tiere Madagaskars zusammentrug. Gut möglich, dass auch das „Aussterbefenster“ der Flusspferde Madagaskars deutlich vergrößert werden könnte.
Ob das Kilopilopitsofy in unzugänglichen Regionen Madagaskars bis in die 1970er-Jahre überlebt hat? Oder ob sich eine kleine Reliktpopulation sogar bis heute des Lebens erfreut? Dazu müssten Expeditionen ausgerüstet werden, die nicht nur aufgrund von unwegsamem Gelände vor Herausforderungen gestellt wären, sondern auch aufgrund menschlichen Zeitgenossen, deren Weg man nur ungern kreuzt. Auch diese ziehen sich schließlich gerne in abgelegene Gebiete zurück.
Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass die Landschaft Madagaskars seit Besiedelung durch Menschen großen Veränderungen ausgesetzt wurde. Viele der ursprünglichen Lebensräume sind verschwunden und die stetig steigende Einwohnerzahl der Insel beutet die letzten natürlichen Ressourcen immer weiter aus. Die bekannte Fauna (und Flora) Madagaskars steht unter einem großen Druck und viele Arten stehen bereits heute am Rand ihrer endgültigen Ausrottung. Vielleicht waren jene Exemplare, welche zuletzt 1976 in der Nähe von Belo-Sur-Mer gesichtet wurden, schlichtweg die letzten ihrer Art – geflüchtet aus ihrem gerade vom Menschen zerstörten, letzten Refugium …
Quellen:
Burney, David A.; Ramilisonina (1998). „The Kilopilopitsofy, Kidoky, and Bokyboky: Accounts of Strange Animals from Belo-sur-mer, Madagascar, and the Megafaunal „Extinction Window““. American Anthropologist. 100 (4): 957–966.
Burton, A. (2017). How the kilopilopitsofy crossed the sea. Frontiers in Ecology and the Environment, 15(5), 280-280.
Wikipedia (englisch): https://en.wikipedia.org/wiki/Malagasy_hippopotamus
Dieser Artikel ist ursprünglich am 23. Juni 2023 erschienen und erscheint heute erneut im Rahmen des Relaunches.