das namenlose SeemonsterDas gefangene „namenlose Seemonster“ am Hafen von Simons Town. (‘A Nameless Sea Monster’, 1929).
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Simon’s Town, oder auch Simonstown, liegt an der Küste der südafrikanischen Provinz Westkap. Die Stadt an der westlichen Seite der Bucht von False Bay ist seit Jahrhunderten ein bedeutender Marinestützpunkt, zunächst der britischen Royal Navy und danach der Republik Südafrika. Und mit den Seeleuten kamen beinahe naturgemäß auch Seemannsgeschichten…

 

Das namenlose Seemonster von 1929

1929 publizierte der britische Kent und Sussex-Courier den kurzen Bericht eines Marineangehörigen des britischen Schlachtkreuzers H.M.S. Ramillies über den Fang eines „namenlosen Seemonsters“ zusammen mit einem Bild (Foto 1) desselben:

 

 

Unser Foto zeigt ein bemerkenswertes Seeungeheuer, das vor Simons Town, Südafrika, gefangen wurde. Die Geschichte der Gefangennahme wurde uns von Herr F. S. Hodges, gebürtig aus Turnbridge Wells [Kent, England], der jetzt auf der H.M.S. Ramillies dabei ist. ‚Das Monster,‘ schreibt Herr Hodges, „wurde auf einem Felsen vor Simons Town gesichtet und der Hafenmeister (der auf dem Bild mit einer weißen Schirmmütze zu sehen ist) machte sich in einem kleinen Boot auf den Weg und harpunierte es. Das Monster glitt sofort zurück ins Wasser und schleppte das Boot mit enormer Geschwindigkeit 4 ½ Meilen aufs Meer hinaus, drehte sich dann um und schleppte es wieder zurück.

Es wurde schließlich eingefangen und auf den Kai gehoben, wo festgestellt wurde, dass es 4 ½ Tonnen wiegt und einen Kopf und Zähne hat, die denen eines Pferdes etwas ähneln. Das Monster ist jetzt im Cape Town Museum.‘ Wir fragen uns, ob einer unserer Leser diese außerordentliche Kreatur identifizieren kann.“ (‘A Nameless Sea Monster’, 1929).

 

 

 

das namenlose Seemonster
Das gefangene „namenlose Seemonster“ am Hafen von Simons Town. (‘A Nameless Sea Monster’, 1929).

 

Am 4. Oktober 1929 erschien ein am 27. September 1929 verfasster Leserbrief von R. G. Martyr (1929) aus Turnbridge Wells mit einem Identifizierungsversuch:

 

 

Sir –

Das in Ihrer letzten Ausgabe abgebildete Seeungeheuer ist wahrscheinlich ein Dugong, ein Säugetier aus dem Indischen Ozean, das zu den Sirenia (Meerjungfrauen) oder Seekühen gehört. Es hat einen halbmondförmigen Schwanz, Flossen ohne Nägel, einen großen Kopf mit nach unten gebogenen Kiefern. Das Weibchen hebt Kopf und Brust über Wasser und trägt ihre Jungen, gestützt von der Flosse, wodurch die Fabel der Meerjungfrau entsteht. Wie Wale werden sie wegen ihres Öls gejagt.

Mit freundlichen Grüßen,

R. G. Martyr.

 

 

 

Dugong
Dugong vor der Küste der Stadt Marsa Alam, Ägypten. Das hier fotografierte Tier weist eine ausgefranste rechten Flosse auf, die dem Monster von 1929 ähnelt. (Foto von Nicolas Barraqué, CC BY-SA 4.0)

 

Zusammen mit den Manati oder Rundschwanzseekühen (Trichechidae) bilden die Dugong oder Gabelschwanzseekühe (Dugongidae) die Ordnung der Seekühe (Sirenia). Der Dugong Dugong dugon) ist die einzige rezente Art, die an den Küsten des Indischen Ozeans und Teilen des Westpazifik beheimatet ist. Das heutige afrikanische Verbreitungsgebiet liegt in Ostafrika, historisch betrachtet mutmaßlich jedoch auch in den indopazifischen Gewässern bis hinab nach Mosambik (Plön et al., 2019).

 

Dugong
Dugong unter Wasser

 

Das See-Elefanten-Seeungeheuer von 1924

Kurioserweise gibt es aus dem Jahr 1924 einen zweiten Fall aus Simons Town, dessen einzelne Bestandteile dem Bericht von 1929 auffällig ähneln:

 

 

Ein Seeungeheuer mit einer Länge von 17 Fuß [5,18 Meter], einem Umfang von 12 Fuß [3,65 Meter] und einem Gewicht von fast zwei Tonnen wurde in Simons Town, Südafrika, gefangen. Nach dem Harpunieren, schleppte diese Art von See-Elefant ein 30-Fuß-Motorboot [9,14 Meter] zwei Meilen [3,21 Kilometer] und lieferte einen verzweifelten Kampf, bevor es getötet wurde“ (‘Sea Giant’, 1924).

 

 

Seeelefant 1924
Das als Seeelefant identifizierte „Seeungeheuer“, gemäß Angaben gefangen am 16. Februar 1924 (Postkarte im Besitz des Autors).

 

See-Elefanten (Gattung Mirounga) sind die größten Vertreter der Robben (Pinnipedia) und teilen sich in zwei rezente Arten auf, den Nördlichen See-Elefant (Mirounga angustirostris) an der Westküste Nordamerikas und den Südlichen See-Elefant (Mirounga leonina) um Antarktika. Geografisch betrachtet handelt es sich bei dem Seeungeheuer von 1924 also um einen Südlichen See-Elefanten, die außerhalb der Paarungszeit vereinzelt unter anderem auch bis an die Küste von Südafrika kommen.

 

 

Zwei kämpfende südliche Seeelefanten
Zwei männliche See-Elefanten im Kampf (Foto von Laëtitia Kernaléguen, CC BY 2.0)

 

Zwar sind sich die Berichte der Gefangennahme von 1924 und 1929 auffällig ähnlich, dennoch müssen wir anhand der bis jetzt bekannten Faktenlage von zwei unterschiedlichen Vorfällen ausgehen. Aber könnte die Identifizierung des Seeungeheuers von 1924 nicht auch auf das Tier von 1929 zutreffen?

 

Identifizierung des namenlosen Seemonsters

Wie bereits dargelegt, spricht die geografische Verbreitung nicht direkt für die Dugong-Identifikation. Hingegen sind Südliche See-Elefanten sowohl historisch als auch rezent immer wieder aus Südafrika belegt.

 

Auch die anatomische Analyse lässt einen See-Elefanten wahrscheinlicher werden:

 

  • Die Beschreibung des Dugong von Herrn Martyr ist zwar einigermaßen korrekt, sie lässt sich jedoch im Vergleich mit dem Foto nicht konkret anwenden. Das heißt, weder ist die Schwanzflosse zu sehen, noch die Flossen im Detail (mit oder ohne sichtbare Nägel) oder ein nach unten gebogener Kiefer tatsächlich erkennbar.

 

  • Konkret angegeben wurde im Bericht nur das sicherlich geschätzte Gewicht. Stimmt die Angabe von 4 ½ Tonnen zumindest einigermaßen, wäre ein (männlicher) See-Elefant mit einem Gewicht von bis zu 4 Tonnen anstatt eines (männlichen) Dugong mit bis zu 2 Tonnen als Seemonster wahrscheinlicher.

 

  • Besieht man sich die Form der vorderen Extremitäten, meint man eine spitz zulaufende, offenbar zweigeteilte Flosse zu erkennen. Falls korrekt, wäre dies für einen Dugong mit paddelartigen Flossen, angepasst an eine rein aquatische Lebensweise, nur durch eine Verletzung erklärbar (siehe hierzu auch Foto 2). See-Elefanten, die keine rein aquatische Lebensweise führen, lassen am Flossenende die einzelnen Fingerstrahlen des Skeletts erkennen. Der individuelle Zwischenraum der Fingerglieder könnte unter Umständen den Eindruck einer Zweiteilung erklären, während die abnehmende Länge der Fingerglieder die spitz zulaufende Flosse definiert.

 

  • Die Schnauze des Dugong weist scharf nach unten, eine Anpassung an die vorwiegende Ernährung durch Seegras. Die Nasenöffnungen liegen oben, so dass beim Atmen nur die Kopfoberseite aus dem Wasser ragt. Männliche See-Elefanten weisen eine rüsselartig vergrößerten Nase auf, die nach unten gerichtet ist. Dies erklärt daher explizit die in Foto 1 zu sehende nach unten gerichtete Nasenöffnung.

 

In der Zusammenschau lässt sich anhand der geographischen und anatomischen Merkmale somit die Identifizierung dieses Seemonsters als Südlicher See-Elefant (Mirounga leonina) feststellen.

 

 


Literatur

A Nameless Sea Monster. (1929, September 27). Kent and Sussex Courier.

Jefferson, T. A., Webber, M. A., Pitman, R. L., & Gorter, U. (2015). Marine mammals of the world: A comprehensive guide to their identification (Second edition). Elsevier/AP.

Martyr, R. G. (1929, October 4). Nameless Sea Monster. Kent and Sussex Courier.

Nowak, R. M., & Walker, E. P. (2003). Walker’s marine mammals of the world. Johns Hopkins University Press.

Plön, S., Thakur, V., Parr, L., & Lavery, S. D. (2019). Phylogeography of the dugong (Dugong dugon) based on historical samples identifies vulnerable Indian Ocean populations. PLOS ONE, 14(9), e0219350. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0219350

Sea Giant. (1924, October 23). Journal-News.

Von Markus Hemmler

Markus Hemmler ist hauptberuflich als Bürokommunikationsspezialist im öffentlichen Sektor tätig. Sein persönliches Interesse gilt der Geschichte von meist „Cold Cases“ der aquatischen Monster: der Untersuchung und Identifizierung toter Tierkadaver, die als Meeres- oder Seeungeheuer und dergleichen bezeichnet werden. Durch seine Recherchearbeiten hat er nicht nur zahlreiche „Seeungeheuer“-Fotografien aufgespürt, wie etwa die Orkney-Kadaver von Deepdale Holm und Hunda aus den Jahren 1941/42, des südafrikanischen Trunko aus dem Jahr 1924 und seinem „Sohn“ aus dem Jahr 1930. Auch die extensive Aufarbeitung der Geschichte dieser Fälle, darunter des Cape-May-Kadavers von 1921, des Suez-„Seeelefant“ von 1950 und des Gourock-„Monsters“ von 1942. zählen zu seinem Werk. Darüber hinaus hat ermittelt Hemmler mit großem Interesse auch an den wenigen deutschen U-Booten aus dem Weltkrieg, die Verbindungen zu Seeungeheuern haben.