Der erste Teil des Artikels zum Vielfraß in Zentraleuropa ist am 29. September hier erschienen.
Diskussion um die beiden Nachweise
1857 erwähnt der Zoologe Johann Heinrich Blasius (1809-1870) beide Exemplare in seiner Naturgeschichte der Säugethiere Deutschlands:
„Einigemale hat man ihn [den Vielfraß] in Deutschland angetroffen: bei Frauenstein in Sachsen nach Bechstein, und bei Helmstedt im Braunschweigischen nach Zimmermann. Das Skelett dieses letzteren, des am weitesten nach Westen vorgedrungenen Tiers, habe ich noch im Museum in Braunschweig gesehen. Dieses vereinzelte Vorkommen ist sicher als das versprengter Flüchtlinge anzusehen. Es ist kein Grund dafür vorhanden, daß der Vielfraß bis soweit nach Deutschland hinein je einheimisch gewesen wäre“[38].
Die letztere Einschätzung ist freilich noch dem damaligen Wissensstand geschuldet, der über die später erfolgten paläontologischen Nachweise noch nicht verfügte.
Als einer von mehreren späteren Autoren zitiert Johannes Fickel 1893 sowohl die Dreßdnischen Merkwürdigkeiten als auch Bahn und Blasius: „Ein Vielfraß bei Frauenstein erlegt. […] Der Vielfraß ist am 4. April 1715 von dem Förster Kannegießer auf dem Töpfer-Wald bei Frauenstein erlegt und „nach Hofe geschicket“ worden“[39].
Wie kam der Vielfraß ins Erzgebirge?
Und noch 1922 führt A. Klengel den Frauensteiner Vielfraß als Beleg für den „urwüchsigen Wildbestand“ der Wälder um Schloss Rehefeld im Erzgebirge an[40]. Kurz darauf wurde die natürliche Herkunft der beiden Vielfraße erstmalig infrage gestellt. Die ausführlichste Kritik ging von dem Theriologen Max Hilzheimer (1877-1946) und dem Verleger und Tierfotografen Rudolf Zimmermann (1878-1943) aus.
Hilzheimers Kritik bezieht sich vor allem auf die mangelhafte Quellenlage und spärlichen Informationen zu den beiden Exemplaren. Er hält ein aus Gefangenschaft entflohenes Tier für wahrscheinlicher und zitiert in diesem Zusammenhang Jacob Theodor Klein (siehe Anm. 34), der das zweite Vielfraß-Präparat in der Dresdner Naturalienkammer mit den Worten „ehemals lebendig aus Sibirien dahin gebracht worden“[41] beschreibt. Dazu bemerkt Hilzheimer: „Wenn wir ferner die engen Beziehungen Sachsens zu Polen bedenken und uns ferner erinnern, daß zu jenen Zeiten der Vielfraß noch bis Ostpreußen, Littauen und Polen vorkam, so ist mindestens der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß es sich um ein irgendwie importiertes und entlaufenes Tier handelt“[42].
Einen letztes Argument gegen wilde Vielfraße in Deutschland sieht Hilzheimer im Ausbleiben dieser Tierart auf der Jagdstrecke: „Dies wird um so wahrscheinlicher, wenn wir ferner in Erwägung ziehen, daß gerade das 17. und 18. Jahrhundert eine außerordentlich jagdfrohe Zeit war und wir bei den zahlreichen uns sonst überlieferten Jagdberichten und Jagdgeschichten niemals sonst von der Erlegung eines Vielfraßes hören“[43].
Zimmermann hebt hingegen ausschließlich hervor, dass es sich bei dem Vielfraß von Frauenstein um den einzigen Nachweis eines „in Deutschland gar nicht heimischen und in historischer Zeit auch nicht heimisch gewesenen Tieres“ handelt. Anders als Hilzheimer geht er jedoch nicht offensichtlich von einem aus Gefangenschaft entflohenen Tier, sondern von der „einmalige[n] Erbeutung eines versprengten […] Tieres“ aus[44].
War der Vielfraß ein Irrgast?
Wie sind Hilzheimers und Zimmermanns Kritikpunkte zu beurteilen? Nicht alle Tier- und Naturkundler standen dem (ehemaligen) Vorkommen des Vielfraßes in Deutschland in historischer Zeit so ablehnend gegenüber. Bechstein, der auch das Frauensteiner und Helmstedter Exemplar erwähnt, zählt noch 1789 den Vielfraß zu den Säugetieren Deutschlands und stellt fest: „Dieses Raubthier wird jetzt gar sehr sparsam in Deutschland, und zwar nur in Ober- und Niedersachsen angetroffen, wohin es noch zuweilen aus Lithauen kömmt“[45]. Auch in der zweyten vermehrten und verbesserten Ausgabe seiner Gemeinnützigen Naturgeschichte Deutschlands aus dem Jahr 1801 hält Bechstein an dieser Einschätzung fest[46].
Vorsichtig positiv äußert sich 1833 auch Gloger, der für Schlesien durch die „steigende Landeskultur“ fünf Säugetiere[47] „theils seit geraumer, theils seit langer Zeit völlig“ und zwei weitere[48] „beinahe bei uns vertilgt“ sieht, und in diesem Zusammenhang auch Vielfraß und Rentier nennt, „deren früheres Dasein sich zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuthen, aber nicht gerade bestimmt nachweisen lässt, und die, wenn sie wirklich da gewesen, durch directen oder mittelbaren Einfluss des Menschen vertilgt oder vertrieben worden sind“[49].
Was die spärliche Quellenlage zu den beiden Vielfraß-Exemplaren betrifft, ist Hilzheimer mit Einschränkungen zuzustimmen, doch stellt dies nicht die Tatsächlichkeit der beiden Nachweise oder deren möglichen wilden Ursprung infrage.
Vermutlich keine Gefangenschaftsflüchtlinge
Dass es sich bei den beiden Exemplaren um Gefangenschaftsflüchtlinge gehandelt hat, ist wenig wahrscheinlich, wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen. Brehm stellt noch 1864 fest, dass „bis jetzt […] gefangene Vielfraße in Thiergärten und Schaubuden noch eine sehr große Seltenheit [sind]“[50]. Selbst heute wird der Vielfraß in vergleichsweise wenigen (9) deutschen Zoos und Tierparks gehalten[51]. Und selbst im gesamten EAZA-Raum[52] finden sich nur 46 Tiergärten mit Vielfraßen im Bestand. (siehe Anmerkung unten).
Auch über die Rolle des Vielfraßes als kommerzielles Pelztier existieren recht unterschiedliche Einschätzungen. So war der Vielfraß nach Pulliainen wenig gefragt, da sein Pelz einen geringeren kommerziellen Wert als zum Beispiel ein Wolfspelz hat[53].
Wenig überzeugend ist auch Hilzheimers Argument, das auf das Ausbleiben des Vielfraßes auf der Jagdstrecke verweist. Der Vielfraß, als einzelgängerisches, nachtaktives, menschenscheues und seltenes Tier, kann in den Wäldern im Osten des damaligen deutschen Reichs des 18. und 19. Jahrhunderts durchaus ein verborgenes Dasein geführt haben, ohne vor die Flinte eines Jägers geraten zu sein. Aufschlussreich sind dazu die Erfahrungen Krotts zur Jagdbarkeit des Vielfraßes:
„Der Vielfraß ist gewöhnlich weder auf einer Hetzjagd noch auf dem Ansitz am Luder und an seinen Wechseln, noch bei Drückjagden und auch nicht auf der Pirsch zu erbeuten. Daher begibt sich in Nordeuropa auch niemand auf die „Vielfraßjagd“, so wie man etwa auf die Elch- oder Bärenjagd auszieht. Der Vielfraß wird im allgemeinen zufällig bei der Bejagung anderen Wildes oder aber – und da handelt es sich meistens um Fähen – am Geheck erbeutet. Die historischen Schihetzen der Lappen auf Vielfraßfährten galten weniger diesem Wild selbst, als sie vielmehr eine Art Schitraining und Volkssport waren. Selten genug kam übrigens dabei auch der Verfolgte wirklich zur Strecke“[54].
Wie viel mehr mag der Zufall nötig gewesen sein, wenn es sich nicht um das reguläre Verbreitungsgebiet gehandelt hat, sondern um ein Gebiet, in dem der Vielfraß nur als Ausnahmeerscheinung auftrat.
Im 19. Jahrhundert
Mitte des 19. Jahrhunderts reichten die südlichen und westlichen Verbreitungsgrenzen des Vielfraßes immer noch weit in den Osten und Südosten Europas und berührten u.a. auch mehrere mitteleuropäische Länder.
- 1809 führt ihn Johann Christoph Petri (1762-1851) als ein Tier Livlands (≈ Nordlettland) und Estlands an[55].
- Noch am 9. Oktober 1875 wurde ein männlicher Vielfraß im Revier Gerkan zu Saucken in Kurland (≈ Südwest-/Südlettland) erbeutet.
- Ein Jahr später ein weiteres Exemplar unweit der ersten Fundstelle bei Jakobstadt (heute Jēkabpils, Lettland)[56].
- Nach Paul Wasmuth (1874-1934) soll 1890 ein Vielfraß bei Wesenberg (heute Rakvere) in Estland beobachtet worden sein[57].
- Sergei Ivanovich Ognev (1886-1951) gibt für das 19. Jahrhundert als südwestliche Verbreitungsgrenze Weißrussland an[58].
Damit ist vielleicht das Exemplar gemeint, welches in den 1890er Jahren bei Sluzk in der Minskaja Woblasz erlegt wurde[59]. Mit einiger Wahrscheinlichkeit war dies jedoch noch nicht das westliche Maximum dieses Jahrhunderts, denn - der polnische Generalforstmeister von den Brinken (1789-1846) führt noch für die Zeit um 1800 den Vielfraß als Tier des Beloweschen Urwalds (heute Białowieża-Urwald) an[60]. Von hier bis zur Fundstelle des 1715er Vielfraßes bei Frauenstein sind es nur noch 490 Kilometer, und die Annahme einer um 1715 noch nicht so weit vorangeschrittenen Regression nach Osten lässt das Frauensteiner Exemplar plötzlich gar nicht mehr so außergewöhnlich erscheinen.
All diese und weitere Funde des 19. Jahrhunderts stimmen mit der von Landa, Lindén und Kojola angenommenen Verbreitungsgrenze für die Mitte des 19. Jahrhunderts überein, die von Finnland kommend über die nordwestlichsten Gebiete Russlands, die südlichen Teile der baltischen Staaten, Ostpolen, die östlichste Spitze der Slowakei, Nordostrumänien, Moldawien und die Ukraine bis zur Küste des Schwarzen Meeres führt[61].
Exkurs: Nachweis und Zensus des VielfraßesExakte Angaben zu Individuen-Zahlen, wie sie z.B. bei CHAPRON et al. zu finden sind, suggerieren einen sicheren, genauen und direkten Nachweis der einzelnen Tiere. Doch wie CHAPRON et al. selbst zugeben, ist die Schätzung der Zahl großer Carnivoren in einem bestimmten Gebiet „always a difficult task“ . Die angewandten Methoden sind von Land zu Land z.T. recht unterschiedlich und stehen verschiedenen Schwierigkeiten gegenüber, wie z.B. unterschiedlichen ökologischen Situationen, der An- oder Abwesenheit von Schnee (s.u.) oder dem unterschiedlichen Verhalten der verschiedenen Arten. Aber auch die Beteiligung der Jäger an Monitoring-Programmen oder die Ausstattung mit finanziellen Mitteln differieren von Land zu Land z.T. erheblich . Beobachtungen und…Entsprechend unterschiedlich fallen Nachweis- und Monitoring-Methoden in den verschiedenen Ländern aus. In Schweden, Norwegen und Finnland kommt vor allem der Nachweis über Spuren im Schnee (snow tracking) zum Einsatz. Zusätzlich werden in Norwegen und Schweden Vielfraß-Baue dokumentiert, in denen Würfe nachgewiesen werden und die von vorübergehenden Verstecken und Tageslagern unterschieden werden können. In Norwegen werden zudem Losung entlang von Schneespuren gesammelt, sowie Risse und Plünderungen durch Vielfraße dokumentiert. Finnland beschränkt sich hingegen ganz und gar auf das snow tracking . Visuelle Beobachtungen spielen in allen drei Ländern nur eine untergeordnete Rolle. Indirekte MethodenEs wird deutlich, dass der Nachweis von Vielfraßen sowie die Feststellung ihrer Bestandsdichte in einem Gebiet fast ausschließlich auf indirekten Wegen erfolgt, was bei einem so heimlich und verborgen lebenden Tier nachvollziehbar ist. Daraus folgt aber fast zwangsläufig auch eine gewisse Unsicherheit. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage des Wildtier- und Jagdforschers Michael Stubbe, wonach Wildbestände in der Regel um 50 Prozent unterschätzt würden . „Kein Nachweis“ heißt nicht „kein Vielfraß“Weiterhin ist anzunehmen, dass in Gebieten, in denen keine Vielfraße angenommen werden, gar nicht erst die entsprechenden Nachweismethoden angewandt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass einzelne Individuen außerhalb eines Gebiets regelmäßiger Nachweise aus den oben genannten Gründen unsichtbar bleiben und nur in sehr seltenen Zufällen wahrgenommen werden. |
Der dritte und letzte Teil dieses Beitrages wird voraussichtlich am 13. Oktober hier erscheinen.
Anmerkung der Redaktion:
Natale Guido Cincinnati hatte diesen Artikel bereits vor einiger Zeit im Kryptozoologie-Report veröffentlicht. Seit dem hat sich der Tierbestand in den Zoos verändert. Nach der ständig gepflegten Webseite zootierliste.de pflegen in Deutschland neun Zoos und Tierparks Vielfraße:
Bielefeld, Duisburg, Eberswalde, der Wildpark Lüneburger Heide, der Tierpark Sababurg, München, Osnabrück und Springe. (Stand: 26.04.2024)
Im gesamten EAZA-Raum sind es mittlerweile 57 Einrichtungen, die Vielfraße pflegen.