Ausschnitt der Postkarte in SWAusschnitt der Postkarte in s/w
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Von Königen, Sultanen und talentierten Menschen.

Der Niedergang des Berberlöwen und seine Bedeutung für den Artenschutz

Zahlreiche Aussagen zum Aussterben in Bezug auf Feliden haben sich als unzuverlässig erwiesen, so wie die Wiederentdeckung des Berberleoparden und das lange Bestehen des Kaspischen Tigers beweist […]. In beiden Fallen waren die Beobachtungen der lokalen Bevölkerung der Wissenschaft nicht bekannt und aus diesem Grund hatten diese auch keinen Einfluss auf die Arterhaltungs-Maßnahmen“ (Black et. al., 2013).

Berberlöwe auf einer Postkarte von 1893
Berberlöwe: Wildaufnahme von 1893 aus Algerien auf einer Postkarte

König der Könige der Tiere

So beginnt die Studie von Simon Black. Black und Kollegen befassen sich mit einem großen Feliden, der einst die Gebirgswälder des Atlas unsicher machte. Man müsste eigentlich sagen: einen sehr großen Feliden. Denn die Rede ist von keinem Geringeren als dem Berberlöwen. Die imposante Mähne, allem Anschein nach eine Anpassung an die Kälte der Winter im Norden Afrikas (Ghai, 2020; Siehe auch: Bazzu, 2022a) gaben den Tieren ein königliches Aussehen. Lange hielt man die Berberlöwen für die größten Vertreter der Spezies Panthera leo. Heute ist man sich dem nicht mehr so sicher (Wild Fact.com). Tatsächliche Größe hin oder her: Beeindruckend ist der Berberlöwe aufgrund der langen Mähne allemal. Aus dieser Perspektive ist klar: Mehr Löwe geht nicht.

 

Seit der Römerzeit im Fokus der menschlichen Jäger

Das königliche Aussehen wurde den Berberlöwen allerdings zum Verhängnis. Denn es machte sie beim Menschen beliebt. Die Römer sahen in den majestätischen Tieren einen würdigen Gegner für die Gladiatoren. Tausende von ihnen wurden so in den Arenen dahin geschlachtet. Und während der arabischen Herrschaft im Maghreb hat sich ihr Bestand noch weiter dezimiert (Platt, 2013). Marokkos Adelige sollen sich an ihren Höfen Löwen gehalten haben, die zuvor im Atlas gefangen worden waren. Und mit diesen Löwen beschenkten sie dann Sultane und Könige Marokkos. Die Berber “aus dem Volke”, in deren Gebiet die letzten Atlas-Löwen heimisch waren, beglückten ihren Herrscher ebenfalls mit diesen königlichen Präsenten aus der Region (Yamaguchi & Haddane, 2002, p. 469).

 

Vase mit Berberlöwen
Vorrömische Vase, ca. 675 – 650 v. Chr., Süditalien. Der Löwe ist klar erkennbar, die anderen Tiere müssten mal genauer bestimmt werden

 

Doch nicht nur Marokkos Hof, auch Europas Königshäuser hielten es für nötig, den Herrschaftsanspruch ihrer weltlichen Machtzentren mit der Präsenz ihrer tierischen “Kollegen” zu unterstreichen. Die beiden gut konservierten Schädel, die man 1937 bei Arbeiten an der alten Mauer des Tower of London fand, gehörten Berberlöwen. So ergab es eine spätere genetische Analyse. Die Tiere wurden mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf die Zeit zwischen 1420 und 1480 sowie 1280 und 1385 datiert. Sie waren Teil des Zoos im Tower of London, der mit einer ganzen Reihe exotischer Tiere aufwartete (Hendy).

Schon lange bevor also die gezielte Jagd durch europäische Jäger im 19. Jahrhundert dem Löwen des Atlas den entscheidenden Todesstoß versetzte (Platt, 2013), hatten die Nachstellungen seit der Antike den Bestand bereits erheblich reduziert.

Atlasgebirge
Das Atlasgebirge in Marokko, Algerien und Tunesien bietet zahlreiche zerklüftete Schluchten und eine Vielzahl von Landschaften

Die letzten Rückzugsgebiete des Berberlöwen

So war der stolze Berberlöwe im 19. Jahrhundert nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Verbreitungsgebiet erstreckte sich einst von Marokko über ganz Nordafrika bis nach Ägypten (Platt, 2013), und schloss dabei auch die Nähe der mediterranen und Atlantik-Küste mit ein (Black et. al., 2013). Doch um 1880 hatte sich der Berberlöwe weitgehend nach Süden in die Bou Regreg-und Taza-Pässe des Hohen Atlas und an den Sahara-Rand zurückgezogen. Alles Regionen, in denen der Mensch nur ein nomadisches Dasein führte und daher nur sporadisch präsent war. In Algerien war er nur noch im Tell Atlas und in den Aurès Mountains an der Grenze zu Tunesien zu finden (Black et. al., 2013).

Aus dieser Zeit kommen dann auch meist die letzten eindeutigen physischen Beweise ihrer Existenz. 1891 wurde der letzte Löwe in Tunesien geschossen. 1893 der letzte Löwe in Algerien. Und das obwohl man von dort noch aus dem Jahre 1890 Berichte von Jagden, gefangenen Jungtieren sowie Fotos von zahmen Löwen kannte (Black et. al., 2013). In Marokko hielt sich die Art allerdings nachweislich etwas länger. Ein französischer Jäger brachte im Jahre 1922 den letzten Löwen zur Strecke. (Platt, 2013).

 

Einheimische mit Berberlöwe auf einer Postkarte von ca. 1890 aus Maraboud / Algerien
Einheimische mit Berberlöwe auf einer Postkarte von ca. 1890 aus Maraboud / Algerien

 

 

Wann ist der Berberlöwe ausgestorben?

Irgendwann, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, müssen also die letzten verbliebenen wilden Löwen des Atlas endgültig das Zeitliche gesegnet haben. So sah es zumindest die International Union for Conservation of Nature. Immerhin traute sie der Restpopulation Marokkos noch ein Ausharren bis in die 1940er Jahre zu. (Black et. al., 2013) Allerdings steht auch diese Schlussfolgerung in der Kritik. Grund ist der fehlende Zugang zu vielen lokalen Informationsquellen und der Literatur, die auch auf Begegnungen weit in das 20. Jahrhundert hinein hinweisen. In manchen Fällen sogar über die 1940er hinaus. Die Situation werde so von der Organisation nicht angemessen eingeschätzt. Und ab diesem Zeitpunkt rückt die Bedeutung von „anekdotischen Beweisen” in den Vordergrund.

 

Und das ist der Punkt, an dem die Studie von Simon Black und Kollegen ansetzt:

 

 

Unsere Arbeit bestand aus Interviews mit alten Leuten aus entlegenen Regionen Algeriens […] Und wir können uns beim Aufbau einer großen Datenbank glücklich schätzen, denn verschiedene Kollegen haben diese Informationen in einem Zeitraum von 10 bis 20 Jahren gesammelt. So bestehen unsere Quellen aus Berichten über Begegnungen aus erster- und zweiter Hand” (Simon Black zitiert nach Platt, 2013).

 

 

Diese Berichte sind entweder eigene Sichtungen aus der Kindheit. Oder aber es sind Begegnungen, die den Interviewpartnern von Eltern oder anderen Familienmitgliedern erzählt worden waren (Platt, 2013). Der Zeitpunkt der ersten aufgenommenen Berichte war das Jahr 1839. (Black et. al.)

Dutzende Sichtungen nach 1922

Für die Zeit nach 1922 gibt es dutzende Sichtungen (Platt, 2013). In der Studie von Simon Black und Kollegen selbst findet sich eine Übersicht. Hierbei werden die Sichtungen nach Regionen in verschiedene Tabellen unterteilt. Für die Region Marokko-Westsahara liegt beispielsweise eine Begegnung mit Spurenfunden aus dem Jahre 1930 vor. Im Jahre 1935 wurden Löwen an Wasserstellen gesehen. Und natürlich ist da noch der Bericht von einem geschossenen Löwen. Er soll 1942 bei Marrakech erlegt worden sein (Black et. al. 2013). Physisch belegen lässt sich dieser allerdings nicht (Platt, 2013).

Auch aus Algerien kommen zwei Berichte von geschossenen Löwen aus den Jahren 1930 und 1943 (Black et. al. 2013). Jäger wollen Löwen ebenfalls beobachtet haben. So zum Beispiel im Jahre 1939 in Hassi Aggou in Marokko. In Algerien, genauer gesagt in Djebel es Somm, soll 1935 ein männlicher Löwe ein Kamel attackiert haben. In Boussam wurde im selben Jahr eine Kuh angegriffen (Black et. el., 2013).

Nebel kommt vom Meer auf
Nebel, der vom Meer in die Berge steigt, sicherte letztlich die Funktion der Lebensräume der letzten Berberlöwen

Überleben des Berberlöwen bis 1965 möglich

Auf Basis all dieser, und anderer, Berichte errechneten Black und Kollegen den Zeitpunkt des möglichen Aussterbens der Berberlöwen: 1948 für Marokko und 1958 für Algerien, beide natürlich mit einem Konfidenzintervall, das im Falle von Algerien gar ein Aussterben im späten Jahre 1965 zulässt. Jedenfalls kommen diese Schätzungen erstaunlich nah an die letzten bekannten Sichtungen aus besagten Regionen heran: 1956 haben mehrere Personen in einer bewaldeten Region in Algerien bei der Stadt Sétif von einem Bus aus einen Löwen gesehen. Die Begegnung gilt als die letzte Sichtung eines Berberlöwen. Und sie ist nur zwei Jahre vor dem errechneten Datum des Aussterbens entfernt.

Gut möglich, dass der letzte algerische Löwe in dieser Zeit tatsächlich verschwunden ist. Denn in dieser Zeit wütete im Land der algerische Unabhängigkeitskrieg, in dessen Zuge auch der Wald in besagter Region zerstört wurde (Platt, 2013). Und für Marokko haben wir ja den anekdotischen Hinweis von einem geschossenen Löwen aus dem Jahre 1942, nur sechs Jahre vor dem berechneten Aussterbedatum.

Heute zerschneiden Straßen den Lebensraum der Berberlöwen
Heute zerschneiden Straßen den Lebensraum der Berberlöwen

Chronik einer Tragödie

So stellt sich die Situation des Aussterbens für die Forscher in ihrer Gesamtheit wie folgt dar: Noch im 18. Jahrhundert konnten Jäger den Aufenthalt von Löwen im Nordwesten Algeriens bestätigen. Auch zogen sie von dort nach Westen, nach Marokko und von Nordosten Algeriens nach Tunesien. Doch nach den 1880er Jahren zog sich die Population nach Süden in das Atlasgebirge zurück, oder aber nach Osten in den Tell-Atlas Algeriens sowie in das Aurés-Gebirge an der tunesischen Grenze. Dort überlebte eine kleine Population offenbar noch für mehrere Generationen.

Und ab dieser Zeit wurden die Sichtungen dann auch seltener. Kam es in Algerien noch bis in das Jahr 1894 jährlich zu Begegnungen, wurden ab diesem Zeitpunkt nur alle sechs oder sieben Jahre mal ein Löwe gesehen. In Marokko, wo die unwirtliche Gegend seit jeher deutlich weniger Sichtungen aufzuweisen hatte, stellte sich diese Unregelmäßigkeit ab den 1920er Jahren ein.

Offenbar änderten die Berberlöwen mit ihrer abnehmenden Populationsdichte auch ihr Verhalten (nächtliche Aktivität, Übergriffe auf Haustiere, Abwanderungen aus den Waldgebieten in höhere Regionen, Aufsuchen von Wasserstellen, Leben in kleineren Gruppen). Diese Verhaltensänderung geht aus den Anekdoten und Sichtungen hervor. Und sie deckt sich mit der beobachteten Verhaltensweise anderer Löwenpopulationen in Subsahara-Afrika und Indien, die ebenfalls durch die menschliche Präsenz zunehmend unter Druck geraten. (Black et. al., 2013)

Römisches Mosaik
Römisches Mosaik im Museum El Djem in Tunesien: Zwei Löwen zerfleischen ein Wildschwein

Der Romeo-Irrtum

Wie gesagt: dieses Szenario beruht größtenteils auf anekdotischen Indizien. Und Anekdoten sind das, was sie sind: Anekdoten. Trotzdem scheinen sie von ungemeiner Wichtigkeit zu sein. Warum? Worin besteht ihr Wert für das Berechnen des exakten Aussterbedatums? Und wieso macht man sich überhaupt die Mühe, das Aussterbedatum zu berechnen?

Simon Blacks Antwort hierzu: Man sollte vorsichtig sein, eine Art zu schnell als ausgestorben zu erklären. Denn damit würde man auch jegliche Initiativen ihres Schutzes automatisch zum Erliegen bringen und dafür sorgen, dass andere Tiere ein ähnliches Schicksal wie der Berberlöwe erleiden. (Black et. al.zitiert nach Platt, 2013). In der Naturschutzbiologie spricht man hierbei vom Romeo-Irrtum oder Romeo-und-Julia-Effekt.

Wikipedia definiert diesen wie folgt: Es ist ein Phänomen, “dass eine verfrüht erfolgte Aufgabe einer biologischen Art zum Außerkraftsetzen der Schutzbemühungen für diese Art und infolge dessen erst zu ihrer tatsächlichen Ausrottung führen kann.” (Siehe hierzu: Wikipedia, Romeo-Irrtum).

Sowohl Berberlöwen wie auch Berberleoparden werden hierbei als Beispiele genannt (Siehe hierzu: Wikipedia, Berberleopard) So ist das Sammeln von Berichten über Sichtungen, ihre Klassifizierung und Ordnung offenbar doch nicht so irrelevant für die konventionelle Zoologie. Und die Kryptozoologie, die mit dieser Arbeit vertraut ist, könnte hier zu einer wichtigen Hilfswissenschaft avancieren.

Einer der königlichen Löwen im Zoo von Rabatt
Einer der königlichen Löwen im Zoo von Rabatt

Das Ende aller Tage für den Berberlöwen?

Für die wilden Löwen des Atlas kommt diese Diskussion jedoch in jedem Falle zu spät. Egal, ob der Löwe im Maghreb in den 1920er oder erst in den 1950er Jahren (oder gar erst in den 1960er Jahren) verschwunden ist. Man ist sich einig, dass es heute keine wilden Löwen mehr in Marokko, Algerien oder Tunesien gibt. Doch ist damit die Geschichte des Berberlöwen zu Ende erzählt?

Es mag wie eine Ironie des Schicksals klingen, dass gerade seine Beliebtheit bei europäischen und arabischen Herrschern, die den Löwen schlussendlich zum begehrten Objekt für Jagd und Fang machte (und seine Ausrottung torpedierte), einen letzten Keim der Hoffnung für seine Renaissance in sich birgt. Viele Zoos der Welt behaupten, Berberlöwen unter ihren Schützlingen zu haben (Platt, 2013). Und das könnte auch sein, denn sie waren ja wie gesagt in Europa sehr gefragt und wurden aus der Wildnis eingefangen. Allerdings muss man davon ausgehen, dass sich die Berberlinie in Gefangenschaft mit Löwen anderer Herkunft vermischt hat. Oder, um es kurz zu sagen: Es gibt wohl keine reinrassigen Berberlöwen mehr.

Dennoch setzt man die Hoffnung vor allem auf die Tiere im Zoo von Rabat: Hierbei handelt es sich um die Nachfahren der Sammlung des Sultans von Marokko. Und der Sultan hatte seine Tiere wohl auch von lokalen Stämmen, die diese Löwen in der Region gefangen haben. (Black et. al.) Mit anderen Worten: die Tiere im Rabat Zoo müssen also zumindest teilweise auf Berberlöwen zurückgehen.

Schwierige Ausgangslage

Doch das muss man erst einmal beweisen. Und hier steht man gleich vor mehreren Problemen. Zuallererst ist auch bei gefangenen Tieren eine genetische Bestimmung der Berberlöwen schwierig. Denn es fehlt an zuverlässigem genetischen Material wilder Löwen, das für die gefangenen Tiere als Vergleichsmaßstab gelten könnte. (Black et. al., 2013)  Es gibt nur Museums-Präparate, und deren Knochen und Häute sind mehr als 140 Jahre alt und können daher einen vollständigen genomischen Vergleich nicht erlauben (Platt, 2013).

Mal wieder: Problematischer phylogenetischer Status

Und dann ist da mal wieder die Schwierigkeit mit dem phylogenetischen Status des Berberlöwen. Morphologische Besonderheiten hin oder her: Es handelt sich beim Löwen des Atlas allem Anschein nach nämlich nicht um eine eigene Unterart. Ich sage “Allen Anschein”, denn es fehlt einfach an aussagekräftigem Material für eine klare phylogenetische Bestimmung. Dennoch: Der Berberlöwe wird heute als Teil der nördlichen Unterart Panthera leo leo gesehen, deren Verbreitungsgebiet sich in Form von kleinen Restpopulationen von Westafrika über den Maghreb bis nach Indien erstreckt(e) und de facto heute nur noch in wenigen vereinzelten und isolierten Beständen präsent ist.

Viele Vertreter dieser Unterart standen aufgrund der starken menschlichen Präsenz unter Druck. 90 % aller heute existierenden Löwen gehören daher der “südlichen” Unterart Panthera leo melanochaita an, die in Ost- und Südafrika heimisch ist.

Mal wieder spielten bei der Entstehung der zwei Unterarten geoklimatische Effekte der Eiszeit eine entscheidende Rolle. Die Löwen wurden in Refugien gedrängt, ehe sie sich im Zuge der klimatischen Veränderungen die Lebensräume zurück eroberten (Ghai, 2020). Daher die zwei Unterarten. Und der Berberlöwe findet sich in der ersten, nördlichen Linie. Das führt im Ergebnis dazu, dass man bei genetischen Tests (selbst wenn diese in ihrer Vollständigkeit möglich wären, was sie nicht sind) nicht sagen kann, ob es sich de facto um einen Berberlöwen handelt, da eine klare Abgrenzung zu asiatischen oder westafrikanischen Löwen nicht eindeutig möglich ist. Man könnte sich allerhöchstens von den morphologischen Unterschieden eines Tieres leiten lassen. Doch auch hier muss man wohl vorsichtig sein, denn eine große Mähne kann auch mal bei anderen Löwen vorkommen (Wildfact.com).

Deswegen wäre es besser, wenn es daneben noch Hinweise auf die Herkunft der Zootiere gäbe. So wie zum Beispiel beim Zoo von Rabat. Hier könnte man dann in einem zweiten Schritt beweisen, dass es sich bei den Tieren in Gefangenschaft nicht um Vertreter der süd- und ostafrikanischen Unterart handelt, sondern um Berberlöwen.

Zwei Berberlöwen im Zoo von Rabat
Zwei der königlichen Löwen, die zumindest anteilig Berberlöwengene tragen im Zoo von Rabat

Die Tests der “königlichen Löwen” des Rabat Zoo

Und genau das hat man 2005 mit einigen wenigen Tieren aus dem Rabat Zoo gemacht. Hierbei scheint es sich ja um Nachfahren von gefangenen Löwen aus der Region zu handeln. So hat man die mitochondriale DNA von fünf der insgesamt 35 “königlichen Berberlöwen” des Zoos mit einigen spärlichen Samplen aus den Museumspräparaten verglichen, die einen solchen Vergleich zuließen.

Und das Ergebnis: zumindest mütterlicherseits stammen die fünf getesteten Löwen nicht von Berberlöwen ab. (Platt, 2013). Damit ist natürlich noch lange nicht gesagt, dass es sich bei den Tieren des Rabat Zoo nicht um Nachfahren der Berberlöwen handelt. Denn die vorläufigen Studien, die sich mit den „königlichen Berberlöwen“ befassten, haben allerhöchstens vier der zwölf mütterlichen Stammlinien untersucht. (Black et. al., 2013) Aus diesem Grund hat man ein Zuchtbuch entwickelt, das die Abstammungslinie der marokkanischen Tiere genau dokumentiert, aber auch zahlreiche Zoos in Europa mit einschließt (Ghai, 2020, Siehe auch: Platt, 2013). Diese Abstammungslinie umfasst heute insgesamt 90 Individuen (nach Ghai, 2020).

Auch Zoos in Deutschland (Heidelberg, Hannover) sollen marokkanische Löwen beherbergen (Bazzu, 2020b). Die Zoos koordinieren sich daraufhin, dass sich die Tiere nur innerhalb dieser Gruppe verpaaren, um so eine erneute Vermischung mit südlichen oder asiatischen Löwen zu verhindern (Ghai, 2020, Siehe auch: Platt, 2013). Und auf diese Weise erhofft man sich nicht nur, die Berberlinie zu erhalten, sondern gar den imposanten Löwen des Atlas wieder zurückzuholen. Und vielleicht, irgendwann, in ferner Zukunft, den Berberlöwen wieder in seiner ursprünglichen Heimat anzusiedeln. Das ist aber heute noch Zukunftsmusik. Und wie Stefan Black dabei richtigerweise betont: Die Wiedereinführung eines Raubtieres wie den Löwen müsste Teil einer zielgerichteten, weiter gefassten Wiederherstellung der Landschaft in der Region sein und auch die Interessen und Sorgen der lokalen Bevölkerung sowie ökologische Faktoren mit einbeziehen (Ghai, 2020).

Das Foto vom letzten Berberlöwen

Und da ist dann noch dieses Foto. Und was für Eines. Es zeigt einen männlichen Löwen, der einsam durch eine sandige Schlucht des Atlas wandert. Fast schon episch mutet die Spurenlinie im Sand an, die er nach sich zieht, den Blick vom Betrachter abgewandt in den Horizont gerichtet. Es wurde wohl 1925 von einem gewissen Marcelin Flandrin aufgenommen. Angeblich aus dem Flugzeug heraus auf der Route von Casablanca nach Dakar. Es wird als letztes Indiz eines wilden Berberlöwen gewertet. Das Foto gibt es auch in Postkartenform und diese enthält den Untertitel “Ein Löwe fotografiert vom Flugzeug auf der Linie Dakar-Casablanca.“

Man kann es nicht anders sagen: Wenn dieses Foto echt ist, dann ist das eines der besten Naturfotos, die jemals gemacht wurden, Schwarz-Weiss-Qualität hin oder her. Wenn es wirklich einen der letzten Berberlöwen (oder eben einen Vertreter der spärlich vertretenen Restpopulation) zeigen sollte, dann hat der Fotograf einen unwiederbringlichen Moment festgehalten. Gleichzeitig verleihen das Szenario und die Bewegung des Löwen dem Foto eine unglaubliche Ausdruckskraft. Es ist, wie gesagt, ein ganz außergewöhnlicher Shot.

“Das letzte bekannte Abbild eines wilden Berberlöwen”

Doch ist es echt? Was weiß man über das Foto? Black und seine Kollegen konnten den genauen Ort des Geschehens nicht identifizieren. Ihre Nachforschungen haben jedoch ergeben, dass es 1925 entstanden sein muss, als die Flugtransporte in der Region ihren Anfang nahmen. Und erst relativ kürzlich (also vor 2013, als Black und Kollegen ihre Studie veröffentlichten) war eine Postkartenversion entdeckt worden.

Ausschnitt der Postkarte in SW
Ausschnitt der Postkarte in s/w

Und wie die Forscher es in der Studie betonen: “Das Foto zeigt das letzte bekannte Abbild eines wilden Berberlöwen”. Ein wichtiges Detail darf man dabei nicht vergessen: Das Datum des Schnappschusses liegt vor dem Zeitpunkt der Diskussion um die Auslöschung der Berberlöwenpopulation in der Region. (Black et. al., 2013) Folgt man Black und Kollegen hier, so bestand kein wirkliches Interesse an einer fotografischen Sensation durch ein Foto von einem wilden Berberlöwen. Es gab also kein wirkliches Motiv für eine Fälschung. Damit würde sich die Wahrscheinlichkeit für einen Schwindel natürlich ungemein reduzieren.

Der Fotograf: Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort?

Wer war der Fotograf? Es scheint nicht verwunderlich, dass der Fotograf kein Amateur war. In der Tat war er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das zeigt ein kurzer Blick auf Wikipedia: Denn Marcelin Flandrin war ein ausgebildeter Fotograf, der für die französische Armee tätig war. Im Ersten Weltkrieg diente er in dieser Funktion bei der französischen Luftwaffe und lieferte als ein Luftbeobachter Fotografien von den Schlachten. Nach dem Krieg ließ er sich in Marokko nieder, wo er seiner fotografischen Tätigkeit weiter nachging.

Hierbei veröffentlichte er mitunter in der französischen Zeitschrift L’Illustration im Jahre 1922 Bilder von einem Flug von Casablanca nach Frankreich. Es folgten zahlreiche andere fotografische Missionen auf höchsten politischen Ebenen, darunter auch die fotografische Dokumentation des Besuchs des Sultans Yusuf von Marokko. Auch nennt ihn Wikipedia als einen der wichtigsten Herausgeber von Postkarten. In diesem Zusammenhang finden sich auch Postkarten mit orientalischen Frauen, die in einem französischen Bordell-Bezirk in Casablanca aufgenommen worden waren.

Leider war er damit auch verantwortlich für die Kreation eines ästhetischen Stereotyps afrikanisch-arabischer Prostituierter, also junge, dunkelhäutige Frauen, die meist oben ohne mit einem Kaftan fotografiert wurden. Die Frauen wurden nicht spontan fotografiert, sondern Flandrin bereitete die Szenerie vor dem Shot penibel vor (Wikipedia, Marcelin Flandrin). Mit anderen Worten: Was das fotografische Handwerk betraf, wusste der Mann, was er tat. Er war wohl sehr gut darin bewandert, spontane Szenen aus der Luft einzufangen … oder auch darin, seine fotografischen Objekte gut in Szene zu setzen. Will sagen: Flandrin konnte mit Sicherheit glaubwürdig erscheinende Fotos inszenieren.

Marokkanischer Atlas
Marokkanischer Atlas

Die Sache mit den Fotos…

Wir wissen nicht, ob dieses Foto eine Fälschung ist. In dem Fachaufsatz von Black und Kollegen wird es wie gesagt als das letzte Foto von einem wilden Berberlöwen gehandelt. Kaum finden sich kritische Stimmen. Lediglich ein spekulativer Twitter-Kommentar von Darren Naish, dass die Haltung auf dem Foto seltsam aussieht, so als wäre es ein Spielzeug (Darren Naish, Twitter, 2017). Auch Andreas Menz von unserem Netzwerk für Kryptozoologie denkt in diese Richtung. Aber das Problem ist, dass uns bis jetzt jegliche aufklärende Zusatzinformation fehlt. Naish räumt selbst ein, möglicherweise zu skeptisch zu sein.

eine ruhige Wasserfläche mit wenigen Wellen, in der Mitte ein Gegenstand unbestimmbarer Größe, aus dem ein langer Fortsatz in einem flachen Bogen nach oben geht und dort wie abgeknickt wirkt
Das als „Surgeon’s Picture“ bekannte Bild von April 1934.

Trotzdem sollte man, wenn man für eine Webseite schreibt, die den Namen „Kryptozoologie“ in ihrem Titel trägt, Fotos dieser Art mit äußerster Vorsicht genießen. Denn ein Spielzeug hat, wie wir alle wissen, die Welt im Allgemeinen und die Kryptozoologen im Besonderen schon einmal an der Nase herumgeführt.

So sieht es zumindest nach der allgemein akzeptierten Indizienlage zum berühmten Surgeon´s Foto von Nessie heute ziemlich sicher aus (Naish, Twitter, 2020). Aus diesem Grund möchte ich diesen Beitrag mit einem Fazit schließen, das sich von dem Einheitsbrei der Google-Hits zu dem Flandrin-Foto unterscheidet: Wir können tatsächlich nicht sagen, ob dieses Foto den letzten wilden Berberlöwen zeigt.

Und abgesehen davon ist ein Foto niemals für sich allein genommen der Beweis für die Existenz eines Kryptiden oder die Fortexistenz eines ausgestorbenen Tieres. Denn es ist ein Objekt, das immer auf unbestimmte Zeit der Willkür seines Machers ausgesetzt war. Und so bleibt es dabei: der letzte bekannte Berberlöwe starb 1922. Was danach geschah, rührt bis jetzt nicht an den gesicherten zoologischen Fakten.

 

Der Atlas ohne Berberlöwen
Was bleibt? Ein Atlas ohne seine Löwen – ist er noch derselbe?

Der Berberlöwe: Was bleibt…

Dennoch hätte man diese anekdotischen Beweise früher ernst nehmen sollen. Und möglicherweise hätte man dann dem Aussterben des Berberlöwen dadurch entgegengewirkt (wie auch immer das in den komplizierten politischen Beziehungen jener Zeit hätte möglich sein sollen). In diesem Hinsicht ist der Ansatz von Black und Kollegen mehr als berechtigt, wenn sie anekdotische Hinweise ernst nehmen. Möge uns die Geschichte des Berberlöwen für die Zukunft eine Lehre sein. Solange es noch Hinweise auf die Existenz eines Tieres gibt, und seien diese anekdotisch, muss man alles tun, um die Schutzmaßnahmen so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Es ist auf jeden Fall die bessere Alternative, als eine Art vorzeitig für ausgestorben zu erklären und ihr dadurch jedwede Chancen auf ein Überleben zu nehmen.

Und selbst wenn dieses Foto eine Fälschung wäre: es verlöre nichts an der Tragik, die der einsam wandernde Löwe darin zum Ausdruck bringt. Sie sagt mehr als Tausend Worte – und setzt ein zeitloses Symbol gegen die Verdrängung von Top-Räubern aus ihren Lebensräumen. Aber auch gegen das Artensterben und die Umweltzerstörung ganz allgemein.

Ob Fälschung oder nicht: mir bleibt nichts außer vor dem betuchten Fotografen meinen Hut zu ziehen.

Danksagung an das Netzwerk

Vor dem Abfassen des Artikels habe ich das Foto an die Runde des Netzwerk für Kryptozoologie für eine Bewertung geschickt, auch um Meinungen zu dem Foto einzuholen und eventuell mehr Hintergrundinformation darüber zu erfahren. In dieser Hinsicht hat mich die rege Beteiligung der Mitglieder an der Diskussion und ihre Unterstützung sehr erfreut, was für die Absicherung meiner Argumente ungemein wichtig war.

Ich bedanke mich hier ganz speziell bei Jörg Hensiek für die Bestätigung, dass ältere und neuere Fachliteratur zu Löwen von der Echtheit des Fotos ausgehen.

Ferner danke ich Andreas Menz für seine kritische Einschätzung zu dem Foto.

Markus Hemmler ist ganz herzlich zu danken für das Ersteigern einer der Postkarten mit dem Löwen.

Und Ulrich Magin danke ich für die schnelle Vermittlung von Schlüsselinformationen zum „Surgeon´s Foto“.


Zum Weiterlesen

Bazzu, L. (2022a); „Learning from the history of lions in North Africa PART 1: People and Lions – threats and challenges”, University of Kent, Eintrag vom 11. Mai 2022.

https://blogs.kent.ac.uk/barbarylion/2022/05/11/learning-from-the-history-of-lions-in-north-africa-part-1-people-and-lions-threats-and-challenges/   (letzter Zugang: 01.03.2023)

Bazzu, L. (2022b); „Learning from the history of lions in North Africa PART 2: Relevance of decline and re-emergence of the Barbary Lion”. University of Kent, Eintrag vom 1. August 2022.

https://blogs.kent.ac.uk/barbarylion/2022/08/01/learning-from-the-history-of-lions-in-north-africa-part-2-relevance-of-decline-and-re-emergence-of-the-barbary-lion/ (letzter Zugang: 01.03.2023)

Black, S., et. al. (2013); „Examining the Extinction of the Barbary Lion and Its Implications for Felid Conservation”, Plos One 8 (4), April 2013.

https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0060174 (letzter Zugang: 01.03.2023)

Ghai, R. (2020); „‘Barbary lion reintroduction in north Africa is possible but needs long-term plans’”, Down to Earth, Eintrag vom 21. August 2020.

https://www.downtoearth.org.in/interviews/wildlife-biodiversity/-barbary-lion-reintroduction-in-north-africa-is-possible-but-needs-long-term-plans–72961 (letzter Zugang: 01.03.2023)

Hendy, L.; „Barbary Lion Skull from London”, National History Museum.

https://www.nhm.ac.uk/discover/barbary-lion-skull-from-the-tower-of-london.html (letzter Zugang: 01.03.2023)

Naish, D. (2020); Zusammenfassung der Ergebnisse zum Surgeon´s Foto.

https://twitter.com/TetZoo/status/1280606940444360705

Naish, D. (2017); Kommentar zum Flandrin Foto bei Twitter. https://twitter.com/Alexander_Lees/status/884796953749573634 (letzter Zugang: 01.03.2023)

Platt, J. (2013); „When did the Barbary Lion Gone Extinct?”, Scientific American, Eintrag vom 22. April 2013

https://blogs.scientificamerican.com/extinction-countdown/when-did-the-barbary-lion-really-go-extinct/ (letzter Zugang: 01.03.2023)

Wikipedia; „Der Romeo-Irrtum“

https://de.wikipedia.org/wiki/Romeo-Irrtum_(Naturschutzbiologie) (letzter Zugang: 01.03.2023)

Wikipedia; „Der Berberleopard”

https://de.wikipedia.org/wiki/Berberleopard (letzter Zugang: 01.03.2023)

Wikipedia (englisch); „Marcelin Flandrin“

https://en.wikipedia.org/wiki/Marcelin_Flandrin

 WildFact.com (2023); „The size of the Barbary Lion”, https://wildfact.com/forum/topic-the-size-of-the-barbary-lion (letzter Zugang: 01.03.2023)

Yamaguchi, N., Haddane, B. (2002); „The North African Barbary Lion and the Atlas Lion Project”, International Zoo News, Vol. 49, No. 8, , pp. 465 – 481.


Das Titelbild zeigt einen der Löwen aus dem Zoo Rabat, aufgenommen von Faraji Brahim. Es ist mit CC BY SA 4.0 lizensiert.

Von Peter Ehret

Peter Ehret ist studierter Politikwissenschaftler und Rechtsphilosoph. Praktisch sein ganzes Leben ist Zoologie im Allgemeinen sein wichtigstes Hobby. Seit dem Jahr 2000 befasst er sich mit Kryptozoologie. Themenschwerpunkt seines kryptozoologischen Interesses sind die Rückwirkungen von konventionellen Tierbeobachtungen auf Legendenbildung. Seit 2012 lebt und arbeitet er als Deutschlehrer in Spanien.