Irgendwo um ländlichen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Unter den Dielen einer Scheune vernimmt der Bauer lautes Quieken und scharrende Geräusche. Er beschließt, dem Spuk auf den Grund zu gehen. Was er unter den Dielen entdeckt, erscheint ihm wie ein Ungeheuer. Ein Knäuel aus zehn Ratten, deren Schwänze hoffnungslos ineinander verflochten sind, windet sich in einem Nest aus Stroh, getrockneten Pflanzenresten und Kotbällen.
Der Bauer macht kurzen Prozess mit dem „Ungetüm“ und erschlägt die Tiere mit der Schaufel, mit der soeben noch die Diele aufstemmte.
Das Phänomen „Rattenkönig“
Diese fiktive Geschichte ist eine typische Entdeckungsgeschichte für ein Phänomen, das war „Rattenkönig“ nennen. Von Rattenkönigen spricht man, wenn zwei oder mehr Rattenentdeckt werden, die mit ihren Schwänzen aneinandergeknotet sind. Sie sind ein bizarres Phänomen. Lange Zeit galten sie als reiner Aberglaube. Doch mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert tauchten immer mehr Belege für ihre Existenz auf und Forscher begangen, sich mit den Berichten zu beschäftigen.
Heute kennen wir in Deutschland vier Rattenkönigpräparate (in Stuttgart, Altenburg, Göttingen und Hamburg). Von diesen vier Präparaten sind nur diejenigen aus Altenburg und Göttingen auch öffentlich ausgestellt. Außerdem existieren einige wenige weitere Exemplare zum Beispiel in Frankreich, den Niederlanden und auf Neuseeland.
Rattenkönige sind vor allem ein deutsches Phänomen
Viele ungeklärte Fragen ranken sich um den Rattenkönig. Weder seine Entstehung ist abschließend geklärt, noch, wie die Tiere in diesem Zustand der Bewegungsunfähigkeit überleben und sich mit Nahrung versorgen.
Was wir wissen ist, dass Rattenkönige annähernd ausschließlich bei der Hausratte (Rattus rattus) auftauchen, die in Mitteleuropa inzwischen jedoch weitestgehend durch die Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängt wurde. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die Schwänze der Hausratte länger und beweglicher als jene der Wanderratte sind.
Um sehr umfassender Artikel von mir zum Thema Rattenkönig wird übrigens im zweiten Jahrbuch für Kryptozoologie im Spätsommer 2021 erscheinen.
Spannend ist auch, dass Rattenkönige vor allem in Deutschland auftauchen. Nachgewiesene Fälle aus dem europäischen Umland oder von weiter her sind nur sehr vereinzelt, während aus Deutschland viele dutzend Fälle bekannt sind. Weshalb dies so ist, und ob hier womöglich auch kulturelle Aspekte eine Rolle spielen, ist ebenso noch ungeklärt.
„Unser“ Rattenkönig fürs Museum
Diesen Umstand wollten meine Freundin Hannah und ich uns jedoch zum Anlass machen, dieses rätselhafte Phänomen in unsere kryptozoologische Ausstellung im Museum Tor zur Urzeit in Brügge Eingang finden zu lassen.
Da ein echter Rattenkönig kaum zu beschaffen ist, sollte es das Ziel sein, diesen möglichst lebensecht nachzubilden. Zunächst studierten wir also Abbildungen von Rattenkönigen (besonders die Schwanzverflechtungen).
Als nächstes besorgten wir uns Rattenimitationen. Lebensechte Modelle sind eher schwer zu bekommen. Wir mussten eine ganze Weile schauen, bis wir welche fanden, die zumindest einigermaßen realistisch aussahen. Diese kolorierten wir dann partiell nach, wo die Originalfarbe eher nicht realistisch wirkte. Um die Schwänze miteinander zu verflechten, mussten wir sie nach und nach mit einem Heißluftföhn weich mach und damit beweglicher machen. Da es oft so ist, dass die verknoteten Schwänze von Rattenkönigen auch Pflanzenreste mit eingeflochten haben, machten wir auch genau das.
Ein Zuhause für den Rattenkönig
Eine Holzkiste sollte als Rattennest dienen und war schnell beschafft und ein wenig mit Schleifpapier bearbeitet. Ratten bauen ihre Nester oft aus Materialien, die in der direkten Umgebung zu finden sind. So mischten wir Stroh und getrocknetes Pflanzenmaterial mit Haarflusen und unseres schwarzen Hundes (das Beschaffen von Rattenhaar erschien dann doch zu aufwendig) und bereiteten unserem Rattenkönig ein gemütliches Zuhause.
Gemeinsam mit weiterem Infomaterial und Exponaten wie dem Druck eines Flugblatts über die Entdeckung eines Rattenkönigs in Straßburg 1683, soll unser Rattenkönig nun Einzug in unsere Kryptozoologie-Ausstellung erhalten.
Über Rattenkönige
Die Redaktion
Rattenkönige sind ein seltenes Phänomen und bis auf wenige Ausnahmen auf Mitteleuropa wie das heutige Frankreich, Benelux, Deutschland, Dänemark, Polen und das Baltikum beschränkt. Je nach Quelle wurden weltweit bisher zwischen 35 und 50 Rattenkönige gefunden. Dabei macht die Hausratte Rattus rattus den Großteil der Tiere aus. Einzelfälle gibt es auch bei Wanderratten Rattus norvegicus, Reisfeldratten Rattus argentiventer sowie nordamerikanischen Hörnchen.
Bekannte Funde
1564 | Ältester bis heute überlieferter Bericht über einen Rattenkönig |
ca. 1683 | Ein Unbekannter lässt bei Verleger F.W. Schmuck ein Flugblatt mit dem Strasburger Rattenkönig aus 6 Individuen drucken. (siehe oben) |
1725 | Rattenkönig aus 11 Individuen, lebend auf einem Dachboden in Dorndorf a.d. Werra |
1772 | Fund in Erfurt, ebenfalls 11 Individuen. |
1822 | gleich zwei Rattenkönige: einer aus 14 und einer aus 28 Tieren in Döllstedt, Stadtilm, Thüringen |
1828 | Im Kamin eines Müllers in Buchheim wird der bisher größte, bekannte Rattenkönig gefunden. Er umfasst 32 Individuen und ist mumifiziert. Er wird im Naturkundemuseum Mauritianum in Altenburg, Thüringen ausgestellt. |
1895 | in Dellfeld wird ein Rattenkönig aus 10 Individuen gefunden. Er wird heute im Zoologischen Museum Strasburg aufbewahrt. |
1918 | In Bogor auf Java wird ein Rattenkönig aus zehn jungen Reisfeldratten Rattus argentiventer gefunden. |
1929 | Fund eines „Mäusekönigs“ aus Waldmäusen Apodemus sylvaticus in Holstein |
1963 | Ein Landwirt aus Rucphen (Niederlande) findet einen Rattenkönig aus sieben Individuen. Röntgenaufnahmen zeigen, dass die Schwänze der Tiere gebrochen waren und wieder zusammengewachsen sind. |
1986 | Fund eines Rattenkönigs in Maché, Frankreich, 9 Tiere, heute Museum in Nantes |
2005 | Fund im Võrumaa in Estland, 16 Tiere, davon 5 bis 9 lebend |
Das Titelbild zeigt einen Rattenkönig, der 1895 in Dellfeld gefunden und heute im Zoologischen Museum Strasburg aufbewahrt wird. Foto: